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D er Mann war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und kurz vor dem Erfrieren.

Die Kälte drang ihm durch die Haut bis auf die Knochen. Die Temperaturen waren ein ganzes Stück unter null gefallen, und es war noch nicht einmal richtig Winter. Es war Mitte November, doch die Bergspitzen waren schneebedeckt, und der Himmel war feucht von dem kalten Gemisch, das in großen Höhen und eisigem Himmel entstand. Und damit war die Position des Mannes perfekt beschrieben: hoch oben im kahlen, kalten Winter. Er befand sich im Absaroka Mountain Range, einem Teil der Rocky Mountains. Es mussten knapp unter viertausend Metern sein, die genaue Zahl kannte er nicht.

Der Mann versteckte sich an einem vertrauten Ort – da, wo er sich zu verstecken pflegte, als er noch jung war. Dort fühlte er sich sicher.

Draußen blies der Nachtwind und schlug gegen die robuste Holzkonstruktion. Das Versteck war primitiv, hatte aber seit vielen Jahren die kalten Winter überdauert. Für den Augenblick würde ihn niemand finden. Hier war er vorerst sicher – doch wie lange, konnte er nicht sagen. Er hatte keinen anderen Ort, an den er konnte. Ihm waren die Optionen und die Zeit ausgegangen.

Sie waren hinter ihm her, und sie würden mit scharfer Munition kommen. Sie würden ihn sicher töten – daran bestand kein Zweifel. Er flüchtete seit Tagen, und er wusste, dass er ihnen bald gegenüberstehen würde. Seine Tarnung hatte sich in Nichts aufgelöst.

Das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern.

Doch das war es nicht, was ihm momentan Sorgen machte. Die unmittelbare Gefahr kam nicht von den Männern, die ihn umbringen wollten, weil er sie hintergangen hatte. Es war nicht die Tatsache, dass sie ihm vertraut hatten und er sich gegen sie gewandt hatte. Es waren nicht die gefährlichen Feinde, die ihn einst erschreckt hatten. Die unmittelbare Gefahr war auch nicht der Inhalt des gestohlenen kugelsicheren Aktenkoffers, der dreckverschmiert und noch immer feucht war, weil er ihn durch das verschneite Gelände geschleppt hatte.

Die unmittelbarste Gefahr bestand darin, dass er verhungerte. Schon seit Tagen hatte er nichts mehr gegessen; es war so viel Zeit vergangen, dass er nicht mehr wusste, wann er das letzte Mal etwas zu sich genommen hatte.

Vor zwei Wochen war er mit einem militärischen Tarnkappenhubschrauber auf dem Weg nach Mexiko gewesen, vielleicht auch auf dem Rückweg von Mexiko, über der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern. Die Details waren unscharf, weil seine Gedanken verworren waren. Das passierte, wenn man fünf, sechs oder sieben Tage ohne Essen war. Er versuchte, sich an seine Ausbildung zu erinnern, an sein Handwerk, doch er konnte nur an den Hubschrauber denken.

Er hatte ihn für ein cooles Gefährt gehalten. Es war ein Comanche RAH-70, die furchterregendste Maschine, die er je gesehen hatte. Aus der ganzen Welt war berichtet worden, dass bei der Razzia auf Osama bin Ladens Anwesen im Jahre 2011 modifizierte Black Hawk UH-60 im Einsatz waren. Damals war er nicht dabei gewesen – er war viel zu jung, um an der Operation beteiligt gewesen zu sein, doch er hatte eine Top-Secret-Freigabe und wusste, dass es sich bei den verwendeten Hubschraubern tatsächlich um Comanche RAH-70 handelte, die verwandt waren mit dem RAH-66.

Die Öffentlichkeit wusste, dass die Comanche-Hubschrauber bereits seit 2004 nicht mehr geflogen wurden. Das Programm war zu teuer für das US-Militär. Doch nicht für seinen Arbeitgeber, der eine Verwendung für die Helikopter gefunden hatte und Dutzende für Geheimmissionen finanzierte. Sie befanden sich in strategischen Militäreinrichtungen auf der ganzen Welt. Das Militärpersonal hatte nur eingeschränkten Zugang zu ihnen. Die wenigen autorisierten Personen waren angewiesen, keine Details über darüber weiterzugeben.

Dieser Hubschrauber war eine bemerkenswerte Maschine mit tödlichen und präzisen Maschinengewehren. Er hatte seitlich spezielle Maschinengewehre, die auf der Vulcanstyle-Kanone basierten und M50-Munition mit fünfzehnhundert Schuss pro Minute abfeuern konnten. Die Munition konnte innerhalb von fünfzehn Minuten nachgeladen werden.

Er hatte diese Informationen nicht wegen seiner militärischen Ausbildung, sondern durch seiner Spionagepraxis. Obwohl er jetzt die Statistiken und Details in seinem Kopf anzweifelte, denn eine Sache wusste er mit Sicherheit: Er war am Verhungern, und der Nährstoffmangel in seinem Körper führte dazu, dass er die Konzentration und das logische Denken verlor. Er versuchte verzweifelt, sich auf die Details des Tarnkappenhubschraubers zu konzentrieren. Und es half. Doch er hungerte trotzdem.

Er befand sich in einem der reichsten Staaten des Landes und war in diesem Augenblick ein reicher Mann. Er war reicher als noch vor fünf, sechs oder sieben Tagen, was an dem Wert des Inhalts der Aktentasche lag.

Neben ihm befand sich eine Beretta neun Millimeter, eine Dienstwaffe, die ihm unmittelbar vor seiner Geheimmission übergeben worden war. Sie lag auf einem geschlossenen Schuhkarton in Griffnähe neben ihm. Der Sicherheitsriegel war vorgeschoben, doch das ließ sich schnell ändern. Der Schuhkarton stand auf einer großen Gerätekiste, in der sich alte Gegenstände aus seiner lange vergangenen Kindheit befanden.

Der Raum, in dem sich der Mann befand, war dunkel und feucht und nicht sehr gut isoliert. In der hintersten Ecke krabbelten Spinnen an der Decke. Sie bewegten sich im Schatten einer baumelnden Glühbirne, die an einer langen Schnur herabhing und im kalten Windzug von einer Seite zur anderen schwang. Schwach pfiff der Wind draußen.

Er saß auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand. Er neigte den Hals, um aus einem schneebedeckten, verriegelten Fenster über seinem Kopf zu blicken. Er musste sich gegen die Wand drücken und die Arme benutzen, um sich aufzurichten, damit er etwas sehen konnte. Millionen Sterne schimmerten am Himmel. Der Boden war schneebedeckt, doch der Nachthimmel war klar und dunkelblau und pittoresk, wie das Bild auf einem Computer. Vielleicht auf einem Computer in Langley in Virginia, wo er das letzte Jahr gelebt hatte.

Er beugte sich weiter vor und blickte hinunter zur Vorderseite des Hauses. Er konnte die Tür von seiner Position nicht sehen, doch er war mehr als zwei Etagen hoch und konnte das steile Land vor ihm mehr als hundert Meter weit überblicken. Hinter ihm befanden sich dichte Bäume und der Hang eines zerklüfteten Bergs. Er war nicht sehr besorgt, dass Männer aus dieser Richtung kommen würden. Er nahm an, dass sie über die lange, breite Auffahrt nach oben gelangen würden, wenn sie sie finden würden. Der Schnee hatte sie bedeckt, und es keine Spuren zu sehen. Mehr als wahrscheinlich würden seine Feinde mit Schneemobilen kommen, und dann würde er ihre Motoren in der tödlichen Stille hören. Der Lärm würde von den entfernten Bäumen und Bergwänden hallen. Niemand würde ihn auf einem Schneemobil überraschen können. Das einzige alternative Transportmittel waren Pferde. Der Schnee auf dem Boden war nicht tief genug, um sie davon abzuhalten, auf Pferderücken den Weg hinaufzureiten.

Doch es würde keine Rolle spielen. Er war bereit. Sein Hauptproblem bestand nicht darin, wie sie ihn finden würden, sondern wann.

Der Besitzer des Hauses wusste nicht, dass er hier war. Er hielt sich gut versteckt. Er betete, dass man ihn nicht entdecken würde. Er wollte gewiss keine Unschuldigen hineinziehen.

In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch, ein Knarren auf der Treppe unter ihm. Er richtete sich wieder auf und neigte den Kopf, um aus dem Fenster zu blicken. Er konnte die Haustür wegen der großen Veranda nicht sehen, eine Tatsache, die er vergessen hatte. Dann erinnerte er sich, dass er erst wenige Minuten zuvor hinuntergeblickt hatte.

Der Mann hörte weiter Geräusche unter sich. Er vernahm Schritte, die lauter wurden. Einen Moment später war jemand auf dem Boden unter ihm, dann hörte er, wie ein Stuhl über den Boden geschoben wurde, dann kletterte jemand darauf und schien nach dem Seil für die Dachbodentür zu greifen. Er hörte das Knacken seiner eingefrorenen Knochen, als er sich umdrehte, um nach der Falltür zu blicken, da quietschten schon die Federn der Tür, als sie jemand nach unten zog. Das Geräusch war ohrenbetäubend in der Stille des Hauses.

Er packte seine Beretta und richtete auf die Falltür, als sie nach unten gezogen wurde. Licht drang durch die Luke nach oben an die Decke über ihm. Bald erfüllte es die Hälfte des Dachbodens. Er wollte hinter die großen Kartons rutschen und sich dort verstecken, doch er konnte seine Beine nicht richtig bewegen. Er hatte vor einiger Zeit jedes Gefühl in ihnen verloren, wusste aber nicht mehr, wann das gewesen war. Er hatte vergessen, dass sie gelähmt waren.

Die Falltür ging ganz nach unten, und die zusammengefaltete Treppe rutschte hinterher. Der Mann hörte das Knarren der Holzstufen, als jemand hochkletterte. Ein Kopf tauchte auf, gefolgt von einem Körper. Die kleine Gestalt vor ihm sah sich auf dem Dachboden und zwischen den Kartons um, bis sich ihre Blicke trafen.

Der Mann senkte seine Beretta, als er einen kleinen Jungen erkannte, ungefähr sechs Jahre alt. Der Junge starrte ihn eigenartig an, mit einer Mischung aus Furcht, als er die Waffe sah, und dann Wiedererkennen.

Der Mann war seit Tagen immer wieder eingeschlafen und hatte so viel Energie damit verbracht, sich zu schützen, dass sich plötzlich seine Augen unter dem Gewicht seiner schweren Lider schlossen.