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SAM
Davor
Es duftete nach Zimtsternen und frisch gebackenen Lebkuchen. Der Geruch klebte förmlich in Sams Nase und vermischte sich mit dem Gefühl von Geborgenheit, das sich um ihre Brust wickelte. Das Krächzen, das in ihrer geschwollenen Kehle hochstieg, ließ sie unkontrolliert husten. Trotzdem presste sie nun entschlossen die Lippen aufeinander, kämpfte gegen die Gliederschmerzen an und schlurfte durch den leeren Flur, an dessen Ende die Tür einen Spalt breit geöffnet war. Das Geräusch von klapperndem Geschirr donnerte wie ein Gewehrschuss in ihren Ohren, doch sie zwang sich weiterzugehen.
Vorsichtig öffnete Sam die Tür. Ma und Rachel wirbelten durch die Küche, zwei zuckrige Weihnachtsfeen, gut gelaunt und verdammt glücklich. Selbst die immerwährende Sorgenfalte in Mas Stirn war glatt gebügelt. Sie lächelte breit. Losgelöst. Fröhlich.
Sam hielt inne, um den Moment einzufangen, eine gedankliche Aufnahme, gefangen in ihrer Erinnerung, eingebrannt in ihr Gedächtnis.
»Willst du die Schokoladenglasur machen?« Lachend drehte sich Rachel zu ihr um, genau in dem Augenblick, als Sam die eingemehlte Küche betrat. An den weißen Hochschränken klebten Teig und eine Spur aus Fingerabdrücken. Als wäre Tinkerbell über die Arbeitsfläche getanzt.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine große Hilfe wäre …«
Rachel runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?«
»Ich fühle mich nicht so gut.«
»Du siehst tatsächlich krank aus. Aber wir päppeln dich wieder auf. Keine Sorge.«
»Wenn ihr wollt, dass eure Lebkuchen später lebendig werden, kann ich die Glasur gerne übernehmen.« Ein zaghaftes Lächeln zupfte an Sams Mundwinkeln, aber sie brachte nicht die Kraft auf, es auszuweiten.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, bei all den Keimen und Viren, die ich verschleudere – da würden die Lebkuchen am Ende noch Beine bekommen.«
Rachel verdrehte grinsend die Augen. »Deine Logik müsste man verstehen.«
»Das ist das Fieber, das aus mir spricht.«
»Du legst dich besser aufs Sofa, Spätzchen.« Mas besorgte Stimme streichelte Sams Seele. »Du siehst furchtbar aus.« Und da war sie wieder, die Sorgenfalte. »Hast du schon Fieber gemessen?«
Sam schüttelte kraftlos den Kopf.
»Dann wird es aber Zeit. Ich mache dir einen Tee mit Honig und du suchst dir am besten schon mal einen Film aus, den wir nachher gemeinsam schauen können.«
Rachels Augen begannen zu strahlen, als hätte man eine Lampe angeknipst. Es hatte etwas Unschuldiges. Beinahe Kindliches. »Oh. So wie früher? Sonntags? Unsere Weihnachtssonntage?«
»Ganz genau.« Ma lächelte ein bisschen wehmütig. »Ihr werdet mir viel zu schnell erwachsen. Am liebsten würde ich euch für immer als meine kleinen Mädchen sehen, nur das geht leider nicht.«
Etwas Dunkles schob sich über Rachels Gesicht, ganz flüchtig, doch Sam sah es trotzdem. Es war dieselbe Dunkelheit, die sich manchmal um ihre Gedanken und Emotionen schlang, sie herabzog und nicht mehr losließ, bis sie das Gefühl hatte, mit einem Sack Steine ans Bein gekettet am Meeresgrund zu sitzen und zu ertrinken.
»Aber bitte nicht Kevin – Allein zu Haus
«, sagte Rachel jetzt und stopfte sich ein Stück Teig in den Mund, während ihre schlanken Finger schon nach der nächsten Teigkugel griffen. Dabei fiel Sam auf, dass ihre Nägel abgekaut waren. So sehr, dass sich eine Blutkruste um ihr Nagelbett gebildet hatte. Der Anblick beunruhigte Sam, aber sie schwieg. Insgesamt wirkte Rachel in letzter Zeit schlapper als sonst, wie ein Ballon, aus dem man zu viel Luft herausgelassen hatte.
Beinahe zwei Jahre trennten sie. Rachel war jetzt fast 16. Doch manchmal kam sie Sam eher wie 20 vor. Reif und klug, schlagfertig und witzig. Selbstbewusst. Etwas, von dem sie so weit entfernt war wie davon, endlich geküsst zu werden. Bei dem Gedanken an Janniks’ Nähe im Schullandheim wurde Sam noch etwas heißer.
»Und wieso nicht?«, fragte Sam schließlich.
»Über die Familie könnte ich mich jedes Mal zu Tode aufregen. Sie behandeln Kevin scheußlich, da würde ich mir auch wünschen, sie wären einfach nicht mehr da … Wie wäre es mit Das Wunder von Manhattan
?«
»Ich dachte, ich darf den Film aussuchen.«
Rachel nickte und zwinkerte ihr zu. »Darfst du auch. Das war nur ein Vorschlag.«
Ihr grippevernebeltes Hirn zog seine Schlüsse daraus. »Oh, Mann. Ich muss wirklich einen fürchterlichen Anblick bieten, wenn du freiwillig auf deine Ich-bin-die-große-Schwester-und-weiß-was-der-beste-Film-für-alle-ist
-Rede verzichtest.«
»Jupp. Ich erkenne den richtigen Zeitpunkt, um meiner kleinen Schwester auch mal das Entscheidungsrecht zu überlassen.«
Mit diesen Worten rollte Rachel den Teig weiter aus, gleichmäßig und mit einer Perfektion, die Sam mal wieder vor Augen führte, wie leicht ihrer Schwester das meiste von der Hand ging. Kurz verspürte sie einen Stich der Eifersucht, was albern war, denn es ging hier ums verdammte Plätzchenbacken. Aber Rachel hatte etwas an sich, das Sam immer etwas Sorgen bereitete. Deswegen würde sie nicht mit ihr tauschen wollen. Selbst wenn sie Rachel um das Erbe ihrer Mutter beneidete: Das ebenholzschwarze Haar floss in langen Wellen über ihren Rücken, so dunkel und lockig, dass selbst Schneewittchen neidisch geworden wäre.
»Du stehst ja immer noch da«, sagte Rachel über ihre Schulter hinweg und Sam blinzelte ihre Gedanken weg. »Leg dich doch aufs Sofa und ruh dich etwas aus.«
Hastig – oder so schnell es der Virus in ihrem Körper eben zuließ – drehte sie sich um, marschierte am anthrazitfarbenen Hochglanz-Küchenblock vorbei, ließ sich auf das weiche Sofa sinken und zog die Kuscheldecke aus dem Flechtkorb zu ihren Füßen.
»Bitte schön.«
Der Duft nach Zimt und Kardamom stieg in Sams Nase, als Rachel nach einigen Minuten die dampfende Tasse auf dem kleinen Holztisch neben dem Teppich abstellte. Sam nickte dankbar. Ihre Glieder fühlten sich an, als wäre nicht der Teig, sondern stattdessen sie von ihrer Schwester durchgeknetet worden, und ihr Schädel dröhnte im Takt eines imaginären Presslufthammers.
»Danke.« Ihr Krächzen klang wie eine sterbende Katze.
»Oje. So schlimm?«
»Schlimmer.« Die Wärme der Tasse drang über ihre Fingerspitzen bis in ihren Körper, und als sie einen Schluck nahm, entwich ein kleines Stöhnen ihren Lippen. »Himmlisch. Danke. Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Keine Ahnung. Röchelnd auf dem Sofa liegen und dich selbst bemitleiden?«
Ein zaghaftes Lächeln zupfte an Sams Lippen. »Wahrscheinlich. Aber dasselbe gilt für dich, falls ich nicht da wäre.«
»Das ist ja zum Glück nicht der Fall.«
»Nein.« Sie setzte die Tasse erneut an, um den Schmerz in ihrer wunden Kehle zu lindern. »Zum Glück.«