5
SAM
Jetzt
Die Straßenlaterne vor der Mauer des Friedhofs flackert verdächtig, als ob sie stumm um ihr Leben kämpfe. Sam fröstelt, während ihr Blick zum geschwungenen Eisentor gleitet. Plötzlich schlägt ihr Herz schneller. Die Aufregung ist da. Die Spannung ist greifbar, sendet elektrische Impulse über ihre Haut. Wie das Gefühl in einem Club zu stehen, die Vibration des Basses und der Musik in ihrem Körper zu spüren, einfach abzutauchen in dem Moment, den Augenblick.
Ein Wummern, das in jeden Winkel ihrer Seele dringt.
Kurz riskiert sie einen unauffälligen Blick zu Cyber, dessen stoische Miene keinen Aufschluss über seine Gefühle gibt. Als hätte er sich hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit versteckt. Auch seine Augen wandern zum verschlossenen Eingang, sodass ihr nun sein Profil zugewandt ist.
Es ist das erste Mal, dass Sam ihn betrachtet. Wirklich
betrachtet.
Cyber ist sehr groß, seine Haare wirken im Licht der Laterne nun fast zimtfarben und er hat harte Gesichtszüge. Kantig und scharf geschnitten, wie aus Stein gemeißelt. Vielleicht liegt es an seiner schlanken Figur. Seine Muskeln treten deutlich hervor, aber er macht nicht den Eindruck, als würde er viel Sport treiben. Eher so, als hätte er viel zu wenig gegessen. Andererseits gibt es genügend Jungs im Kampfsportzentrum, das Sam regelmäßig besucht, denen man das körperliche Training auch nicht ansieht.
Cyber scheint die Musterung gespürt zu haben, denn er wendet sich ihr zu, und Sam zuckt beinahe vor der Intensität seines Blickes zurück. Es ist, als ob er alles an ihr erforschen möchte. Als ob er ein Buch aufgeschlagen hätte, um darin zu lesen. Nur dass sie
dieses Buch ist.
Automatisch verschränkt sie die Arme vor der Brust, zieht einen Mundwinkel hoch, was hoffentlich keiner Grimasse ähnelt, und hebt die Brauen.
»Ist was?«
Cyber runzelt die Stirn. »Nein. Ich hatte nur den Eindruck, dass du mich beobachtest.«
»Kannst du klettern?«, fragt Sam, um seiner Feststellung auszuweichen, und deutet mit dem Kopf auf die knapp drei Meter hohe Mauer.
»Nicht besonders gut«, gibt Cyber zu und lässt sie nicht aus den Augen. »Oder hast du Spiderman
-Fähigkeiten?«
»Alternativen?«
»Es gibt am südlichen Eingang mehrere Bäume, auf die man besser klettern kann. Vielleicht können wir es da versuchen. Außerdem ist das Pförtnerhaus auf der anderen Seite des Friedhofs und liegt in der entgegensetzten Richtung der Hauptparkplätze. Da gibt es auch keine Mehrfamilienhäuser. Nur einen kleinen Bungalow, aber da wohnt eine alte Frau. Sie wird bestimmt schon schlafen.«
»Du kennst dich ja gut aus«, sagt sie überrascht. Es ist, als hätte Cyber einen Lageplan im Kopf, und kurz wundert sie sich darüber. Warum kennt er sich auf dem Gelände so gut aus? Misstrauen steigt in ihr auf.
»Ich war schon öfter hier«, erwidert er ausweichend mit einem Schulterzucken.
»Wohnst du in der Nähe?«
»Nein.«
Damit ist das Thema wohl für ihn erledigt, denn er setzt sich wieder in Bewegung, sodass Sam Mühe hat, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Schließlich überragt er sie um gut einen Kopf, jede seiner Bewegungen wirkt wie einstudiert. Geschmeidig und leichtfüßig, als würde er über den Boden schweben. Sie mag die Art, wie er geht.
Am südlichen Eingang ist es genau so, wie Cyber angekündigt hat. Drei ordentlich gepflanzte Bäume, schon einige Jahrzehnte alt, denn ihre Kronen spannen sich über die Mauer wie das Dach eines Zirkuszelts. Ihre Großmutter hätte sicher gewusst, ob es sich um eine Eiche, Buche oder Kirsche handelt, allerdings hat Sam keine Ahnung. Es ist ihr ehrlich gesagt auch egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass sich die Äste weit und einladend ausbreiten. Perfekt zum Klettern. Wie damals im Kindergarten, als sie mit Rachel, Jannik und Talina darum gewettet hat, wer den höchsten Ast erreicht.
Bei dem Gedanken an ihre Schwester meldet sich wieder ihr schlechtes Gewissen, kratzt an ihrem Bewusstsein, doch sie schiebt es beiseite. Wie alles, was mit ihrer Familie zu tun hat.
Sam strafft die Schultern. Sie hat eine Entscheidung getroffen, auch wenn sie weiß, dass niemand sie nachvollziehen wird. Geschweige denn verstehen.
Um sich abzulenken, lässt sie den Blick schweifen. Tatsächlich sind sie hier deutlich ungestörter. Alles wirkt abgeschieden, in Dunkelheit gehüllt. Im Haus oder besser gesagt dem Bungalow, der genau schräg gegenüber der Mauer liegt, brennt kein Licht, die Rollläden sind heruntergelassen und im ordentlich gepflegten Vorgarten schleicht eine Katze herum.
Sam dreht sich zu Cyber um, nickt in Richtung Baum. »Du zuerst.«
»Sicher?«
»Ja. Wir haben noch 45
Minuten. Das müsste reichen. Ein leeres Grab finden, das Foto machen, die Playlist raussuchen. 33
Minuten und 33
Sekunden.«
»Du vergisst: über die Mauer klettern«, erwidert Cyber und sieht prüfend den Baumstamm hinauf. »Aber die Aufgabe ist machbar, da stimme ich dir zu.«
Sam seufzt, weil sie plötzlich spürt, wie feucht ihre Handflächen geworden sind. Ihr Atem kommt stoßweise und ihr Herz schlägt schneller.
Bumm-Bu-Bumm.
Die erste Aufgabe.
Auf einmal ist es real. So ausgesprochen real.
Freitag, der 13. Der Tag, auf den sie so lange gewartet hat. Auch wenn sie sich gleichzeitig davor gefürchtet hat, die Nachricht auf ihrem Handy zu finden.
Bist du bereit?
Die Einladung zu diesem Spiel.
Spiel.
Dabei ist es tödlicher Ernst.
Jeder, der sich in Deathwish
angemeldet hat, weiß das. Jeder darin ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen, jede Grenze auszutesten. Und den letzten Schritt in den Abgrund zu machen. Wie viele sind an der Herausforderung gescheitert? Und wie viele haben sich das Leben schon genommen?
Zwei? Sechs? Zehn?
Zehn Leben. Zehn Jugendliche. Zehn Familien.
Das Kopfkino springt an und beherrscht ihre Gedanken, die sich immer schneller im Kreis drehen.
Cyber scheint die Veränderung in ihr zu spüren, denn er kommt auf sie zu, dringt in ihren persönlichen Raum ein, als wäre es ganz selbstverständlich, und beugt seinen langen Körper zu ihr herab. Sie müssen ein ziemlich seltsames Bild abgeben.
»Alles in Ordnung?«
Sam nickt abgehackt, aber ihr Mund ist wie zu getackert. Und ihre Zunge fühlt sich wie eine Nacktschnecke zwischen ihren Zähnen an. Wie ein Fremdkörper.
Zitternd ballt sie die Hand zu einer Faust, hofft, so die Panikattacke abzuschütteln, bevor sie noch schlimmer wird. Dabei ahnt sie, dass es längst zu spät ist.
Die Angst ist nicht mehr weit entfernt. An der Schwelle zu ihrem Bewusstsein.
Ein Schauder kriecht ihren Rücken hinab. Jeder Atemzug brennt plötzlich wie Feuer in ihrer Lunge. Unwillkürlich hält sie die Luft an, um dem Gefühl zu entkommen.
Es tut so weh.
Panisch reißt Sam die Augen auf. Angst schlägt wie eine Welle über ihr zusammen, reißt sie hinab, lässt sie klein und unbedeutend erscheinen.
Sie will, dass es aufhört.
Es soll aufhören.
Jetzt sofort!
»Atme.«
Cybers Stimme ist ganz nah. Dicht neben ihrem Ohr. Sie hört seine Aufforderung nicht nur, sie kann die feinen Nuancen seiner Stimme wie eine Vibration auf ihrer Haut spüren. Ein sanftes Streicheln, angenehm und tief.
Gleichzeitig nimmt sie seine Körpernähe wahr, seine Wärme, die sich wie ein schützender Kokon um sie legt und ihren rasenden Herzschlag sofort ruhiger werden lässt.
Doch Sam schnappt nach Luft, presst ihre Nägel in die Handflächen, um den Schmerz zu inhalieren, ihn in sich aufzunehmen, um nicht unterzugehen.
Die nächste Welle schwappt über ihr zusammen, droht sie jetzt hinabzuziehen. Tiefer. Immer tiefer. In die Dunkelheit, die Finsternis, die ihr so vertraut ist, dass es ihr beinahe körperlich wehtut.
»Atme«, wiederholt die Stimme an ihrem Ohr, eindringlich und geflüstert.
Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn und die Angst ist da. Allumfassend und greifbar.
Dabei sollte sie keine Angst mehr haben, dabei hat sie die Angst längst hinter sich gelassen.
Ich will, dass es aufhört.
Dann, ohne Vorwarnung, fällt sie in eine Umarmung. Ein warmer Oberkörper, der sie an sich drückt, zwei Arme, die sie halten – zwei fremde Arme.
Und sie entspannt sich augenblicklich. Gibt sich dem Gefühl von Geborgenheit hin, das sich so unendlich langsam in ihr einnistet.
Cyber riecht nach Sternenlicht – oder zumindest so, wie sie sich Sternenlicht immer vorgestellt hat –, nach frisch geschnittenem Gras und irgendwas, an das Sam schon sehr lange nicht mehr gedacht hat. Zuckerwatte vielleicht. Weil Zuckerwatte sie daran erinnert, wie glücklich sie einmal war. Das letzte Mal auf dem Jahrmarkt, als Rachel und sie noch lachen konnten, bevor alles irgendwie schwarz und schwer wurde. Als hätte man ihre Köpfe in zähflüssiges Pech getaucht. Und genauso fühlt es sich an: Als würde Cyber sie dort rausziehen mit beiden Armen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie sich eigentlich kaum kennen.
In diesem Augenblick verspürt Sam nichts als Dankbarkeit. Weil er ihr buchstäblich das Leben rettet.
Tief einatmend lässt sie ihre Hand seinen Rücken hinaufwandern, die Henkel ihres Rucksacks schneiden in ihre Schultern, aber das stört sie nicht. Die Berührung ist fremd und gleichzeitig so echt und vertraut, dass ihr unwillkürlich Tränen in die Augen steigen.
Weil sie nicht weiß, wann sie das letzte Mal so berührt wurde. Weil sie sich nicht daran erinnern kann, wann sie das letzte Mal gehalten wurde und das Gefühl hatte, sich fallen lassen zu können.
»So ist es gut.« Cybers Stimme vibriert in ihrem Brustkorb.
Dieser schlichte Satz reicht aus, um ihr Innerstes zerspringen zu lassen, obwohl sie sich erst eine halbe Stunde kennen. Verdammt.
Gnadenlos schnell schlägt ihr Herz und Sam beißt sich auf die Unterlippe, um den Schluchzer im Keim zu ersticken, der ihre Kehle hinaufsteigen will.
Worauf hat sie sich da nur eingelassen?