6
CASPAR
Jetzt
Caspar spürt jedes noch so kleine Zittern ihres dünnen Körpers, als ob Sam gerade aus Eiswasser gestiegen wäre. Ihre Muskeln zucken, jeder rasselnde Atemzug schmiegt sich an sein Herz. Ganz bewusst nimmt er die feinen Nuancen ihres Seins auf, obwohl er normalerweise versucht, alles um sich herum auszublenden.
Aber das hier ist anders.
Er hört das leise Schniefen, das sich aus ihrem Brustkorb windet, fühlt die Hitze ihrer Wangen, die wie ein Wärmestrahler durch sein Shirt dringt, und das sanfte Tasten ihrer Finger auf der Suche nach Halt.
Wie selbstverständlich legen sich seine Arme um ihren Rücken, als ob sie sich seit Jahren kennen. Es ist auf einmal ganz normal, ganz selbstverständlich, dieses fast tote Mädchen zu umarmen.
Dabei mag er es nicht einmal, Menschen anzufassen.
Er hasst es sogar. Vor allem unvorbereitet.
Aber das hier ist anders.
Denn er kann spüren, wie sehr sie diese Nähe braucht. Wahrscheinlich sogar mehr, als er sich vor ihr fürchtet. Und vielleicht versteht er sie deshalb so gut, weil es ihm manchmal auch so geht und er sich einfach wünscht, in den Arm genommen zu werden, statt eine weitere Lektion, eine weitere Aufgabe, aufgebrummt zu bekommen.
»Shit.«
Ohne Vorwarnung bricht sie die dünne Verbindung zwischen ihnen, indem sie sich aus seiner Umarmung losreißt und einen Schritt zurückweicht. Der Ausdruck in ihrem Gesicht ist eindeutig schockiert, als könne sie nicht glauben, dass sie sich zu diesem intimen Moment hat hinreißen lassen. Auch ihre braunen Augen sind geweitet, wirken groß und schwarz wie die Nacht, und ihr Oberkörper hebt und senkt sich in einem unregelmäßigen Takt.
Caspar schiebt die Hände tief in seine Hosentaschen, abwartend.
»Das hätte nicht passieren sollen. Ich hätte dich nicht zurück umarmen sollen. Das ist … total falsch.«
»Warum? Weil wir uns beide umbringen wollen?«, fragt er ernsthaft und mit schief gelegtem Kopf.
Frustriert deutet sie mit der Hand auf ihn. »Ich kenne noch nicht mal deinen richtigen Namen, nur ein Pseudonym aus dem Internet. Eine versteckte Identität. Normalerweise bin ich nicht … so.«
»Wie bist du dann?«
»Anders.«
»Das hier ist anders«, spricht Caspar die Gedanken in seinem Kopf laut aus. Unsicherheit flackert über ihr Gesicht, das jetzt deutlich vom Schmerz gezeichnet ist. »Die Umarmung ändert nichts am Ausgang dieser Nacht. Du hast sie gebraucht. Na und?« Er zuckt mit den Schultern, als wäre es eine Kleinigkeit.
Verlegen malt sie mit der Schuhspitze Kreise in den weichen Untergrund. »Aber es fühlt sich seltsam an.«
»Was genau?«
»Ich …« Sam ringt nach den richtigen Worten. »Es war so … nah.«
Caspar sieht ihr lange in die Augen, erkennt dort dieselben Gefühle, die plötzlich in seinem Innern toben.
»Ja. Mir ging es genauso«, gesteht er schließlich, weil er keine Ahnung hat, was er sonst entgegnen soll.
»Ich … ich bin das nicht gewohnt.«
»Jemanden so nah an dich heranzulassen?«
Sam nickt, zögerlich. »Genau. Seit … seit einigen Monaten ist es schlimmer geworden. Ich ertrage keine Nähe mehr.« Anscheinend will sie noch etwas ergänzen, doch sie schluckt einmal kurz und weicht seinem Blick aus.
»Wir beide haben uns zum Sterben verabredet. Wer schreibt uns irgendwelche Regeln vor, wie wir uns zu verhalten haben? Was richtig und was falsch ist? Wir können tun und lassen, was wir wollen. Wir sind frei. Heute Nacht sind wir beide frei.«
Schweigend starrt Sam zu ihm hoch, versenkt ihre Vorderzähne in der Unterlippe und denkt über seine Worte nach. »Siehst du das so?«
Caspar zuckt mit den Schultern. »Ja. Irgendwie schon. Du weißt schon: #heuteistmeinletztermorgen
. Es gibt kein Zurück. Wir haben uns dazu entschlossen, bei diesem Spiel mitzumachen. Alle Aufgaben zu erfüllen. Heute Nacht verabschieden wir uns beide als Gewinner.«
»#heuteistmeinletztermorgen
«, wiederholt Sam und klingt dabei, als hätte sie einen Frosch verschluckt. »Ja … ja, vielleicht hast du recht.«
Kurz wirkt es, als wolle sie noch etwas hinzufügen, dann schüttelt sie den Kopf und strafft die Schultern. Streift mit dieser kleinen Bewegung all ihre Ängste ab, als wären sie nie da gewesen. Trotzdem kann er ihre innere Anspannung spüren. Er sieht es an dem nervösen Zucken ihres Augenlids, an der Art, wie sie die Umgebung absucht, an dem nachdenklichen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Sam ist mit den Gedanken woanders und Caspar fragt sich, woran sie denkt. An ihre Eltern? Ihre Freunde? Denkt sie daran, wie es ist, wenn sie die letzte Aufgabe bewältigt haben? Die Aufgabe, die mit ihrem Tod endet?
»Woran denkst du?«, fragt er also, weil er gerne eine Antwort hätte.
»Nichts von Bedeutung.« Ein unauffälliges Kopfschütteln, dann räuspert sie sich kurz. »Lass uns weitermachen. Wir haben schon genug Zeit vertrödelt. Tut mir leid.«
»Es muss dir nicht leidtun.«
»Tut es aber«, antwortet Sam mit fester Stimme. Ihr Kinn ruckt entschlossen in die Höhe, um ihn besser ansehen zu können, und er stolpert in die Dunkelheit, die sich in ihren Augen spiegelt, hinein. »Ghost wird erwarten, dass wir alles im Zeitrahmen schaffen. Und ich will nicht schuld daran sein, wenn es nicht klappt.«
»Glaubst du denn, wir bekommen keine weiteren Aufgaben, wenn wir diese zu spät erledigen?«
Für einen kurzen Augenblick blitzt so etwas wie Panik in Caspar auf, unscheinbar und klein wie ein Glühwürmchen in der finsteren Nacht.
»Willst du es darauf ankommen lassen?« Wieder eine Gegenfrage.
»Ehrlich gesagt: nein.«
»So wie ich Ghost einschätze, will er, dass wir das Spiel ernst nehmen. Er würde die Challenge bestimmt abbrechen, wenn er das Gefühl bekommt, dass wir es nicht tun. Deswegen die Zeitangaben. Deswegen die Bilder. Der Druck.« Sie lässt die Worte in der Luft hängen, sie schweben zwischen ihnen und Caspar versucht, sie zu greifen.
»Ja, aber genau aus diesem Grund sind wir ja hier«, entgegnet er. »Weil es so eine viel größere Wirkung hat, als wenn wir es einfach nur so beenden. Es hat eine größere Bedeutung. Wir gehen mit einem Knall.«
»Einem Knall?«
»Ein letztes Mal aufatmen, ein letztes Mal frei sein.«
Sam schluckt, sichtlich bewegt von seinen Worten, und er hat den unbestimmten Eindruck, dass sie etwas vor ihm verbirgt. Obwohl er den Finger nicht drauflegen kann, spürt er es, so wie er all die Gefühle seiner Mitmenschen spürt.
Ihre Finger krallen sich in die Handflächen, doch anders als noch vor wenigen Augenblicken scheint sie ihre Panik nun besser unter Kontrolle zu haben. »Er wird schon wissen, was er tut …«
»Oder sie«, erwidert Caspar.
Überrascht sieht Sam ihm direkt in die Augen. Ihr Blick ist klar und eindringlich, auf der Suche nach einem Hinweis. Sie scannt jeden Zentimeter seines Gesichts, versucht, jede Regung einzufangen.
»Moment – weißt du, ob Ghost eine Frau ist?« Die Frage ist bohrend, als ob sie nach einer tieferen Bedeutung in seinem dahingesagten Satz sucht.
Caspar zuckt mit den Schultern. »Oder Mädchen. Oder Junge. Oder Mann. Keine Ahnung. Ich wurde heute Abend schon einmal vom anderen Geschlecht überrascht. Es würde mich nicht wundern.«
»Stimmt«, sagt Sam.
»Außerdem hast du ja selbst angedeutet, dass es eine Frau sein könnte. Nach dir«, er deutet mit dem Kinn nach oben.
Kurzerhand rückt sie den schmalen Rucksack auf ihren Schultern zurecht, umfasst den ersten Ast und zieht sich mit geschickten Bewegungen in luftige Höhen. Als ob sie nie etwas anderes getan hätte. Ihre Bewegungen sind agil, die Art, wie sie klettert, deutet darauf hin, dass sie sportlich sein muss. Sams Gestalt wird kleiner, bald ist sie nur noch ein dunkler Schatten zwischen den vielen Blättern.
Als ihr dunkler Haarschopf zwischen dem ganzen Grünzeug verschwindet, schießt ihm eine Erinnerung durch den Kopf. Jener Moment vor ein paar Jahren, als alles zwar schwer, aber noch nicht erdrückend gewesen ist. Nachdenklich blickt er Sam hinterher, beschwört die Bilder in seinem Kopf herauf, an die er so lange keinen Gedanken verschwendet hat.
Vielleicht hat da alles seinen Anfang genommen, vielleicht hat sich an jenem Tag seine Wahrnehmung verändert. Wie bei einem Mikroskop, das man schärfer stellt, sodass man plötzlich ganz andere Strukturen und Bewegungen erkennen kann.
Caspar erinnert sich noch genau daran. Wie leicht alles schien, wie unbeschwert und wie sich plötzlich die Stimmung veränderte. Sophie und er auf dem Baum vor seinem Haus, die Zeit vergessend. Ihre dürren Beinchen, die von dem Ast baumelten. Das offene Lachen in ihrem Gesicht.
Dummerweise sind es seine Eltern, die niemals vergessen. Dummerweise wurden aus einer halben Stunde Pause sechs ganze Wochen. Weil er vom Baum fiel und sich das Handgelenk brach, weil er ein Konzert absagen und dann für die verlorene Zeit büßen musste.
Eigentlich sehnt sich Caspar sonst immer nach der Stille, die in seinem Kopf nie herrscht. Aber es gibt eine Art von Stille, die lauter dröhnt als jeder Schrei. Dieses bestrafende Schweigen, hinter dem so viele anklagende Sätze lauern, bereit, sich auf ihn zu stürzen, wenn er nur eine falsche Bewegung macht.
Das Schweigen im Haus seiner Eltern, sechs Wochen lang, hat für immer seine Wahrnehmung verändert.
»Cyber?«
Ruckartig hebt er den Kopf zu der Stimme, die von oben erklingt, und schüttelt die Gedanken ab. Abgehackt und etwas ungelenk setzt er sich in Bewegung.
Seine Finger finden nur schwer Halt, aber beim zweiten Anlauf hat er den Dreh raus. Die grobe Struktur des Astes presst sich schmerzvoll in seine Haut, als er sich nach oben hangelt. Mit einem Bein stemmt er sich auf den ersten Ast und klettert dann weiter. Jeder Zentimeter ist hart erkämpft, seine Muskeln zittern vor Anstrengung, er ist den Scheiß einfach nicht gewohnt. Dabei ist er nicht grundlegend unsportlich, nur völlig außer Form. Er mag es einfach nicht, sich körperlich zu betätigen.
Geschickt schwingt sich Sam über die Mauer und lässt die Beine in die Tiefe baumeln. Unter ihnen die ersten Gräber, über ihnen der Sternenhimmel.
»Wie viele Minuten haben wir noch?«
»Bis zum Ende der Deadline?« Caspar schielt auf seine lederne Armbanduhr, was ihn daran erinnert, warum er sie hasst. Weil sie für alles steht, was er heute Nacht hinter sich lassen möchte. Er schluckt. »41
Minuten. Also sollten wir bald anfangen.«
Sam nickt und geht in den Vierfüßlerstand. Dann, ohne etwas zu sagen, rutscht sie über den Rand der Mauer und hält sich mit den Händen daran fest, als wäre es die leichteste Übung der Welt.
Für einen Moment bleibt sein Herz stehen, um dann in einem doppelt so schnellen Takt weiterzuschlagen. Mit angehaltenem Atem beobachtet er, wie sie immer tiefer gleitet, bis sich schließlich nur noch ihre Finger an der Kante festhalten.
Ihre Bewegungen sind athletisch. Sam ist dünn und drahtig und eindeutig sportlich, denn es scheint ihr beinahe mühelos zu gelingen. Mit einem dumpfen Geräusch lässt sie sich fallen, landet in der Hocke und sieht zu ihm hoch.
»Worauf wartest du noch? Wenn wir die Aufgabe nicht rechtzeitig erfüllen, bekommen wir die nächste vielleicht nicht.«
Er zögert, allerdings nur kurz. Dann klettert Caspar über den Rand. Die Schwerkraft zerrt mit vereinten Kräften an seinem Körper, er spürt seine Muskeln und das Gewicht der Tiefe. In seinem Kopf entstehen verschiedene Bilder, alle mit seiner Kindheit und dem Krankenhaus verknüpft, doch er schiebt sie beiseite. Seine Arme zittern vor Anstrengung, er hält sich fest, seilt sich langsam ab.
Dann lässt auch er sich fallen.
Der Aufprall schwingt in seinem Körper nach und ein stechender Schmerz schießt durch seinen Fußknöchel. Caspar mahlt mit dem Kiefer.
»Alles in Ordnung?«
»Ja«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Das sieht aber nicht danach aus.«
»Ich werd’s überleben«, antwortet er und Sam schweigt. Ihm ist die Ironie seiner Worte durchaus bewusst. Als er ihrem irritierten Blick begegnet, ziehen sich seine Mundwinkel wie von selbst nach oben. »Oder so ähnlich. Für die nächsten fünf Stunden zumindest. Wenn ich abkratze, dann will wenigstens ich
den Zeitpunkt wählen.«
Sie kopiert seinen Gesichtsausdruck, nur dass ihr Lächeln irgendwie traurig wirkt und nicht ihre Augen erreicht. »Dann lass uns doch nach einem passenden Grab suchen.«
»Du bist ganz schön schräg, weißt du das?«, meint Caspar, als sie sich in Bewegung setzen.
»Das sagt der Richtige. Da vorn.« Sam deutet mit dem Finger auf eine Grabreihe, die sich auf einer Grasfläche neben einem Brunnen befindet. Trotz der spärlichen Beleuchtung erkennt auch er, dass am äußeren Rand der Reihe ein frischer Erdhaufen ausgehoben wurde.
Es ist stockfinster, nur das helle Mondlicht, das durch die dünne Wolkendecke bricht, erhellt ihren Weg. Ein Frösteln durchläuft seinen Körper.
Sie erreichen das Grab gleichzeitig. Der Duft von frischer, feuchter Erde schlägt ihm entgegen wie ein kürzlich versprühtes Raumspray. Das ausgehobene Grab ist mindestens zwei Meter tief, die Wände glatt, und obwohl er nicht viel sieht, kann Caspar deutlich die unterschiedlichen Erdschichten ausmachen, von dunkel nach hell. Als hätte jemand die Linien mit einem Pinsel gemalt.
Seltsamerweise verlangsamt der Anblick seinen Herzschlag, was Caspar nur am Rand seines Bewusstseins wahrnimmt.
Er spürt, wie sich Sam neben ihm versteift. Ihr ganzer Körper wird hart wie Stein, gleich darauf wendet sie sich ihm zu. Ihre Fäuste öffnen und schließen sich wieder.
»Wie kommen wir da runter?«
Caspar denkt einen Augenblick lang nach. »Es gibt auf dem Friedhof einen kleinen Schuppen, der dem Wächter gehört. Normalerweise steht dahinter eine Leiter.«
Sam mustert ihn prüfend. »Du sagtest, du warst schon öfter hier?«
»Ja«, antwortet er ausweichend.
»Hat das einen bestimmten Grund?« Misstrauen tränkt ihre Stimme.
Casper zieht eine Augenbraue hoch und weicht dabei ihrem Blick aus. »Was denkst du denn?«
»Na ja, du kennst dich so gut aus. Und Ghost hat ausgerechnet diesen Friedhof ausgewählt.«
»Zufall«, erwidert er achselzuckend, mit abweisendem Ausdruck.
Jetzt spiegelt Sam seine Miene. »Ach so?«
»Ja. Meine Großeltern liegen hier begraben.« Er deutet mit dem Kopf auf das nördliche Gelände des Friedhofs, das komplett in Dunkelheit getaucht ist. »Dahinten. Am anderen Ausgang.«
Sam atmet einmal tief aus und echtes Bedauern liegt in ihrem Blick. »Das tut mir leid.«
Seine Schultern heben sich reflexartig, nur um auf halber Strecke wieder aufzugeben. Die Worte entschlüpfen ihm wie ein eingespielter Automatismus, ohne jede Emotion, obwohl sein Herz bei der Erinnerung an Wärme und Familie blutet. »Danke. Sie waren einfach alt. Sind direkt nacheinander gestorben. Mein Opa an Altersschwäche, meine Großmutter wohl an Liebeskummer. Oder gebrochenem Herzen.«
»Gebrochenem Herzen?«
»Sie waren 71
Jahre verheiratet. Meine Oma ist eine Woche nach ihm gestorben, hat das Essen verweigert, wollte einfach nicht mehr. Es war sogar zur selben Uhrzeit.«
Sam reißt überrascht die Augen auf. »Oh wow, 71
Jahre? Dann sind sie ja echt alt gewesen.«
»Ja, 91
Jahre. Meine Eltern sind auch etwas älter.« Damit offenbart er mehr, als er eigentlich wollte.
Sie scheint zu spüren, dass er nicht darüber sprechen will, denn sie nickt bloß, kurz und abgehackt, als würde sie ihn verstehen. Und Caspar ist dankbar. Dafür, dass sie nicht nachbohrt.
Gemeinsam holen sie die Leiter und lassen sie mit vereinten Kräften in die Tiefe gleiten.
»Ladies first.«
Mit einer ungelenken Verbeugung lässt Caspar ihr den Vortritt, um ihr dann in die modrige Dunkelheit zu folgen. Unten ist es merklich kühler und eine Gänsehaut kriecht über seine Arme, während Sam ihre Jacke ausbreitet, sodass sie beide darauf Platz finden können.
»Und jetzt?« Sam macht Anstalten, noch mal die Anleitung aufzurufen, aber Caspar kennt sie auswendig.
»Erste Aufgabe: Nordfriedhof. Ihr habt eine Stunde Zeit, euch in eines der ausgehobenen Gräber zu legen. Für 33
Minuten und 33
Sekunden. Hört dabei die
Spotify-Playlist
Ghosts Lieder. Schickt ein Foto des jeweils anderen und lasst den Timer laufen. Macht anschließend einen Screenshot mit dem abgelaufenen Timer. Nächste Aufgabe folgt um 1:11
Uhr. Ghost.«
»Hast du ein fotografisches Gedächtnis?«, witzelt Sam, und obwohl er ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht ausmachen kann, hört er den neckenden Unterton aus ihrer Frage heraus.
»Nicht wirklich«, erwidert er ausweichend.
Sam schießt zuerst das Foto von ihm, er schaut ernst und ohne eine Gesichtsregung in die Kamera. Dann hämmert sie auf ihr Smartphone ein und sendet es an Ghost. Der Bildschirm erhellt ihre blassen Züge und dabei fällt ihm auf, wie zerbrechlich schön sie aussieht. Hastig wendet er den Kopf ab, weil er Angst vor seinen eigenen Gedanken bekommt, weil diese Art von Gedanken zu nichts führen, schon gar nicht heute. Er ist einfach nur ein guter Beobachter.
Zwei blaue Haken tauchen direkt hinter der Nachricht auf, er sieht es aus dem Augenwinkel, während er selbst auf sein Handy eintippt und den WhatsApp-Verlauf öffnet. Dann macht er das Foto von Sam. Schweigend. Schließlich würde jedes Wort diesen Moment zwischen ihnen zerstören und das will Caspar unter keinen Umständen riskieren. Er wartet einen Herzschlag lang. Sein Bildschirm ist von Sam abgewandt, sodass sie nicht lesen kann, was dort steht. Er spürt ihre Anspannung, was ihn irritiert, denn es ist, als ob ihr gesamter Körper vibrieren würde.
»Und?«, fragt sie.
»Hm?«
»Hat er mein Foto gesehen?«
Auch seine Nachricht wird als gelesen markiert. »Ja. Hat er«, sagt er und schiebt das Handy wieder in seine Hosentasche, um dann seine Arme hinter dem Kopf zu verschränken. Mit angewinkeltem Bein starrt er in den Nachthimmel, beobachtet die Sterne. Vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben.
Still liegen sie nebeneinander, so dicht, dass sich ihre Körper beinahe berühren. Das Schweigen hat etwas Tröstendes. Wie eine Umarmung. Vielleicht wie die Umarmung, die Sam vorhin gebraucht hat.
»Machst du den Timer und die Playlist an?«, fragt Sam schließlich und Caspar nickt, auch wenn sie das in der tiefen Schwärze der Nacht wohl nicht sehen kann. Trotzdem scheint sie die kleine Bewegung wahrzunehmen.
Das erste Lied erklingt.
Nirvana – I Hate Myself and I Want to Die.