18
CASPAR
Jetzt
Seid ihr bereit? Ihr habt fast die Hälfte geschafft. Ihr seid beinahe am Ziel … Die nächste Aufgabe beginnt jetzt und endet um 3:33
Uhr: Legt euch auf die Gleise der Zugbrücke zwischen den Haltestellen Gallmersheim und Traunitz. Stellt einen Timer für 33
Minuten und 33
Sekunden und schickt mir ein Foto von euch. Dann wartet ab, was passiert. Denkt daran: Dies ist noch nicht eure letzte Aufgabe.
Ihr seid die Ersten, die unseren geheimen Hashtag verwenden dürfen: Also nutzt ihn auch.
Ghost
Das ist sie also. Die dritte von fünf Aufgaben.
Wieder rückt er seinem Ziel ein kleines bisschen näher und wieder beschleunigt sich sein Herzschlag, als hätte er einen Marathon hinter sich gebracht. Hätte ihm jemand vor ein paar Monaten gesagt, dass er an diesem Punkt stehen würde, hätte Caspar ihn womöglich ausgelacht.
Vor ein paar Monaten gab es für ihn nichts anderes außer Zahlen, Auszeichnungen, Klavierkonzerten und ruhelosen Augenblicken, die nicht enden wollten. Ein fremdgesteuertes Leben, ein Strudel, der ihn immer tiefer hinabgezogen hat, in eine Welt voller düsterer Gedanken und dem Bedürfnis, endlich echten Sauerstoff in der Lunge zu kosten.
»Weißt du, wo das ist?«, fragt Sam, eine tiefe Furche teilt ihre Stirn. »Also die Brücke?«
Caspar nickt. Ja, er weiß nur zu gut, wo das ist. Es ist die einzige Bahnstrecke im Umkreis von 20
Kilometern, die nachts von Güterzügen befahren wird. Er hat das recherchiert. Mehrfach.
»Nicht weit von hier. Wir sind quasi um die Ecke.«
»Hast du …« Sam zögert, als würde sie nach den richtigen Worten fischen. »Du hast doch nach den versteckten Hashtags gesucht.«
»Ja, aber darüber haben wir vorhin schon geredet. Es ist ja meistens immer ein anderer. Also … alle Teilnehmer der Challenge haben bisher einen Hashtag benutzt, den sie schon einmal in Deathwish
gesehen haben. Jeder, der im Deathwish
angemeldet ist, kann die entsprechenden Beiträge also finden. Dadurch ergibt sich eine Kette von versteckten Hashtags, die alle miteinander verbunden sind.«
»So wie: #heuteistmeinletztermorgen
?«
»Ganz genau.«
Mit dem Daumennagel knibbelt sie den blassrosa Nagellack ab, der bereits zu splittern beginnt. Die Farbe passt so gar nicht zu ihr und er fragt sich, wie Sam wohl in der realen Welt ist. Außerhalb dieses Spiels, außerhalb dieser Blase, in der jeder von ihnen jemand anderes sein kann, wenn er es möchte.
Caspar weiß, dass er heute Nacht jemand anderes ist. Nämlich er selbst.
»Glaubst du, jemand wird auch unsere Hashtags suchen?«, murmelt sie.
»Ganz bestimmt sogar.«
»Und wenn sie sich nur im Forum angemeldet haben, weil sie neugierig sind, aber eigentlich gar nicht den Wunsch verspüren, sich …«
»Worauf willst du hinaus?«, unterbricht Caspar sie, bevor Sam weiter mit zusammenhangslosen Sätzen um sich werfen kann.
»Ich hatte das Gefühl, es gab im Forum auch stille Mitleser, die jünger waren als der Großteil. Vielleicht 12 oder 13. Und irgendwie war mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie davon beeinflusst werden könnten.« Mit einer abgehackten Bewegung streicht sich Sam das fransige blaue Haar aus der Stirn, als wolle sie ihren Händen eine Beschäftigung geben. »Egal. Spielt ja auch keine Rolle für uns. Warum sollten wir uns darüber Gedanken machen, wenn es für uns sowieso nicht mehr relevant ist?« Das Lächeln wirkt schief, als hätte sich jemand vermalt. Energisch dreht sie sich um und zeigt mit dem Finger wahllos in eine Richtung. »Da lang?«
»Ja«, antwortet er – seine Stimme klingt seltsam gedämpft – und folgt ihr.
Während sie sich in Bewegung setzen, bemerkt Caspar, wie Sam kurz das Gesicht verzieht. Dabei fällt ihm auf, dass sie müde und abgekämpft aussieht. Als wäre das nicht die erste Nacht, die Sam durchmacht, sondern bereits die hundertste. Dunkle Ringe liegen unter ihren Augen, die blass und stumpf wirken. Der Ausdruck in ihnen verändert sich nur, wenn sie ihn ansieht. Dann scheint darin so etwas wie Hoffnung zurückzukehren.
Was wohl ihr Grund ist? Warum ist sie hier?
»Alles in Ordnung? Tut es eigentlich sehr weh?« Sein Blick wandert zu ihrem Arm, den sie mit der anderen Hand festhält.
Ein schmales Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus, als müsse sie sich dazu zwingen, ihre Gesichtsmuskeln zu aktivieren. Gleichzeitig zupft sie an dem Ärmel ihrer Jeansjacke. »Es geht schon.«
»Sicher?«
»Ist ja auch eigentlich egal, oder? In drei Stunden spielt das keine Rolle mehr.«
Womit sie natürlich recht hat, trotzdem hört er den bitteren Klang, der sich in ihren Tonfall gemischt hat.
»Du musst bis dahin aber keine Schmerzen haben.«
Trotzig reckt sie das Kinn, kampflustig, genau wie im Moment ihres Kennenlernens. »Kann sein. Doch vielleicht will ich das ja. Weil ich dann weiß, wofür ich das alles mache.«
Ihre Worte hängen einen Herzschlag lang zwischen ihnen in der Luft und Caspar versucht, sie zu entschlüsseln, zu ergründen, was sie damit meint. Aber selbst mit einem IQ von 155 und einer Eigenschaft, die ihn für Zwischenmenschliches schärft, kommt er einfach nicht dahinter.
Dieses Mal wechseln sie auf dem Weg zu ihrem Ziel nicht so viele Worte. Es ist, als würde jeder von ihnen seinen eigenen letzten Gedanken nachhängen. Caspar denkt an all die verlorenen Momente, in denen er am liebsten etwas anderes getan hätte, und badet in dem Gefühl der plötzlichen Unbezwingbarkeit, das ihn seit einigen Stunden trägt.
Es ist spät geworden. Die Stille ist eine Wohltat für seine allgegenwärtigen Sinneseindrücke, die meistens so laut schreien, dass Caspar selbst nachts kein Auge zumachen kann. Doch heute ist es anders. Heute möchte er die völlige Überreizung seines Gehirns, den ultimativen Kick bis zum Schluss, bis zum letzten Herzschlag.
Vom Park aus sind es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zur Brücke, sodass ihn zum ersten Mal das Gefühl beschleicht, sie könnten womöglich beobachtet werden. Sams Worte kommen ihm in den Sinn – könnte es tatsächlich sein, dass Ghost ein stiller Beobachter bei diesem Spiel ist? Trackt er ihren Standort oder hat er einen anderen Weg gefunden, sie zu observieren?
Caspar spricht diese Gedanken nicht aus, obwohl sich ein gewisses Unbehagen in ihm breitmacht. Er kratzt sich im Nacken und das unangenehme Kribbeln verstärkt sich, als ob er mit winzigen Schrotkugeln beschossen würde.
Sie erreichen die Brücke, die Ghost in seiner Nachricht erwähnt hat, nach wenigen Minuten. Langsam setzt Caspar einen Fuß vor den anderen, aus Angewohnheit immer genau zwischen die Holzscheite, die unterhalb der Gleise liegen. Es ist ein innerer Zwang, den er nicht ablegen kann.
Kommentarlos zieht Sam ihren Rucksack von den schmalen Schultern und stellt ihn dicht neben sich auf dem Boden ab, greift hinein und trinkt einen kräftigen Schluck von einer halb angebrochenen Sprudelflasche. Caspar hingegen streift sich seinen Hoodie über den Kopf und breitet ihn wie einen Teppich vor ihnen aus.
»Voilà.
Pour toi, mademoiselle«
, meint er, vielleicht, um die Stimmung etwas aufzulockern, die sich mittlerweile anfühlt wie die knisternde Luft vor einem Gewitter.
»Französisch?«
»Jap.«
»Sprichst du noch andere Sprachen?«
Verlegen legt er sich auf den Pullover und bereut, überhaupt etwas in einer anderen Sprache gesagt zu haben. Dann winkelt er ein Bein an und schiebt einen Arm hinter seinen Kopf, um etwas bequemer zu liegen. »Eventuell.«
»Wie war das mit der Wahrheit?«, fragt Sam feixend und verstaut die Wasserflasche wieder, um sich anschließend im Schneidersitz neben ihm niederzulassen. »Wie viele Sprachen sprichst du denn?«
»Sechs.«
Sie reißt die Augen auf. »Sechs Sprachen? Fließend?«
»Na ja, wenn man die toten mitzählt, dann ja.« Gequält schließt Caspar die Augen.
»Latein?«
Er zögert. »Und Altgriechisch.«
»Das klingt sehr nerdig.«
Ihr trockener Tonfall entlockt ihm ein ehrliches Lachen. »Das ist es auch. Glaub mir.«
Zu seiner Überraschung lässt sie das Thema wieder fallen und holt stattdessen ihr Handy hervor, um den Timer zu stellen und ein Foto für Social Media zu schießen, das sie aber doch vor der Öffentlichkeit verstecken werden.
Keine Minute später hat sie ein Bild gemacht: ihre Füße, die Gleise und die Nacht im Hintergrund.
»Was meinst du?« Sie hält ihm das Foto unter die Nase: ein kleiner Moment, für immer festgehalten.
Etwas in ihm zieht sich zusammen. Es wird nie wieder solche kleinen Momente geben. Sich dessen bewusst zu werden, verändert seinen Herzschlag.
»Gut.«
»#zweilebenineinernacht
ist klar. Welchen Hashtag soll ich noch verwenden?«
»Polarnächte?«, schlägt Caspar nach kurzem Überlegen vor und erntet einen überraschten Blick von Sam, in den sich noch etwas anderes schleicht, das er als Trauer deuten würde. Sofort bereut er seinen Vorschlag.
»Vergiss es. War nur so eine Idee.«
»Nein, nein.« Sam schüttelt den Kopf. »Das ist gut. Sehr gut sogar. Bucket List und so. Was hältst du noch von #dieendgültigkeiteinesaugenblicks
?«
»Auch gut.«
Jeder Hashtag wird zu einem weiteren Brotkrumen für eine gestrandete Seele, die auf der Suche nach etwas Halt ist.
Sams Miene ist konzentriert, während ihre Finger über die Tasten fliegen. Eine steile Falte hat sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Sie sieht auf einmal sehr entschlossen aus, ihr Gesichtsausdruck gleicht einer Kriegerin auf einer tödlichen Mission.
»Du scheinst die Hashtags aber sehr ernst zu nehmen«, sagt Caspar, was dazu führt, dass Sam ertappt zusammenzuckt. Obwohl es so dunkel ist, kann er sehen, wie sich eine zarte Röte auf ihren Wangen ausbreitet.
»Ich will, dass es perfekt ist.« Sie saugt ihre Unterlippe zwischen die Zähne. »Na ja, und dass sie von den richtigen Personen gefunden werden …« Sie wirft ihm einen schnellen Blick zu, den Caspar nicht deuten kann.
»Den richtigen Personen?«
»Mhmm …« Sie geht nicht weiter darauf ein und er sieht keinen Anlass nachzuhaken.
Mit #zweilebenineinernacht
verschwindet das Foto in den Tiefen des Internets.
»Das war’s.«
»Ghost wird zufrieden sein.«
Sam lässt das Handy wieder verschwinden. »Selbst wenn … spielt das denn eine Rolle?«
Caspar denkt darüber nach, sucht tief in sich nach einer Antwort. »Doch, irgendwie schon. Er hat die Challenge ins Leben gerufen, er hat die Fäden in der Hand.«
»Das bedeutet?«
»Ich will, dass er stolz auf uns ist. Wir gehen heute als Gewinner
«, zitiert er Ghost. »Ich möchte ihn nicht enttäuschen. Er hat uns das alles ermöglicht. Dass wir nicht leise, sondern laut gehen können. Dass unser Abgang eine größere Bedeutung hat, wir dabei zusammen sind. Irgendwie gibt mir das Kraft, weil wir uns gegenseitig unterstützen und den Scheiß nicht allein durchstehen müssen.«
Darauf antwortet Sam nicht, lässt das Gesagte zwischen ihnen stehen, ohne daran anzuknüpfen oder weitere Fragen zu stellen.
Aber das ist Caspar auch ganz recht so. Das beständige Pulsieren der frischen Wunde am Arm lenkt ihn von seinen Gedanken ab, die sich jetzt schneller im Kreis drehen. Während das imaginäre Ticken des Zeigers in seinem Kopf lauter wird, verblasst die Vergangenheit und sein bisheriges Leben, als würde der Regen es wegspülen. Das Ticken zählt die Sekunden, die vergehen, und mit jeder vergangenen Sekunde wird er sich immer deutlicher bewusst, wie wenig Zeit ihm noch bleibt. Doch das ist ja genau das, was er wollte. Dem Druck seiner Eltern entkommen, ihren Erwartungen an ihn. Denn eigentlich geht es meistens nur darum. Er möchte nicht versagen, in keiner Lebenslage, und er hat Angst, genau das zu tun, wenn er aus dem Karussell aus Bestnoten, dem perfekten Auftreten und unzähligen Konzerten aussteigt.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – verspürt er so etwas wie Bedauern. Auch weil diese besondere Nacht ihm insgeheim Freude bereitet. Auf eine sehr makabre Art.
Mittlerweile hat Sam sich neben ihn gelegt. Obwohl sie sich nicht berühren, nimmt er ihren Duft und ihre Körperwärme so gestochen scharf wahr, als ob er seine Nase in ihrer Halsbeuge vergraben würde. Mit geschlossenen Augen liegt er da und lauscht ihren gleichmäßigen Atemzügen.
Ein und aus. Es hat eine therapeutische Wirkung.
»Caspar?«
»Hm?« Er dreht den Kopf und sieht sie an.
»Bist du Autist?«, fragt Sam und wendet sich ihm zu, um ihn ebenfalls ansehen zu können. Ein sanfter Wind streicht über sie hinweg und bewegt die Gräser an seinem Knöchel, sodass sie ihn kitzeln.
»Nein, bin ich nicht.«
»Ich will dir nicht zu nahe treten. Mir ist nur aufgefallen, dass du dich sehr vor lauten Geräuschen erschrickst, aber gleichzeitig eine genaue Wahrnehmung hast. Und ich habe mal gelesen, dass es eine Form des Autismus gibt, bei der laute Geräusche eine Überreizung verursachen können.«
Caspar schüttelt den Kopf. Er findet es faszinierend, wie gut sie sein Verhalten beobachtet und wie schnell sie diese Schlussfolgerungen gezogen hat. Normalerweise passiert das eher selten. Die meisten Menschen stempeln ihn als »seltsam« ab und schieben sein Verhalten auf seine Hochbegabung. Sie machen sich nicht die Mühe, hinter seine Fassade zu blicken, aber genau das tut Sam jetzt. Sie geht einen Schritt weiter.
»Nein, ich bin kein Autist«, antwortet er und weiht sie dann ein: »Ich leide an Hochsensibilität.«
»Hochsensibilität?«, hakt Sam nach, den Blick unentwegt auf sein Gesicht gerichtet.
»Eigentlich hast du es schon ziemlich treffend beschrieben: Meine Wahrnehmung ist anders als die von vielen anderen Menschen. Starke Reize, laute Geräusche oder chaotische Szenen sind für mich einfach zu viel, ich kann sie schlecht verarbeiten. Ich bin schnell überfordert. Stimmen, Menschen, der Alltag. Mein Gehirn kommt mit der Überreizung nicht so gut zurecht, wie es bei anderen der Fall ist.«
»Oh. Davon habe ich noch nie etwas gehört«, erwidert sie überrascht. »Ist das der …«, setzt Sam an, doch unterbricht sich rasch, als hätte sie sich auf die Zunge gebissen.
»Was wolltest du sagen?«
»Nichts. Ist egal.«
Ihr Kopfschütteln hat etwas so Endgültiges, dass er nicht weiter darauf eingeht, weil er den Augenblick nicht zerstören möchte. Sams Reaktion ist herrlich normal. Schlichte Überraschung. Keine Verurteilung, keine Beurteilung. Das ist etwas, das er an ihr schätzt: ihr Einfühlungsvermögen.
»Darf ich dich noch etwas fragen?«
»Klar. Deal ist Deal.«
Trotz der Dunkelheit und der kleinen Lücke zwischen ihnen nimmt er ihren Duft deutlich wahr. Mandelöl. Er kennt ihn, weil er all den Gerüchen in seinem Kopf eine Zuordnung und einen Namen geben wollte.
»Bist du … so was wie hochbegabt?«
Caspar, das Wunderkind.
»Ja«, antwortet er. »So was in der Art.«