23
SAM
Jetzt
Mit zu Fäusten geballten Händen und fest zusammengebissenen Zähnen steigt Sam Treppenstufe um Treppenstufe nach oben, gefangen in einem Wirbel aus Emotionen. Ihre Kniescheibe fühlt sich an, als wäre sie zersplittert, gleichzeitig spürt sie Caspars Anwesenheit dicht hinter sich. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellen sich auf, polen sich ihm wie Magnete entgegen.
Doch das Einzige, was ihr gerade im Kopf herumschwirrt, ist ihre Schwester. Rachel. Ihr ovales Gesicht mit den großen braunen Augen, wie sie lächelnd vor ihr steht und ihr sagt, dass alles gut werden wird.
Sams Atmung beschleunigt sich von selbst und sie versucht, die drohende Panikattacke abzuschütteln, indem sie krampfhaft an etwas anderes denkt. Wie an einen Regenbogen. Oder die Nordlichter in Norwegen. Aber dieses Mal ist sie zu spät. Und die Erinnerung an Rachel zu nah.
Was sehr wahrscheinlich daran liegt, dass sie gerade das Einzige verloren hat, das eine wirkliche Bedeutung hat. Weil es sie daran erinnert, wie es war, als sie noch Kinder waren. Unschuldig, frei von Zwängen und der Dunkelheit, die sie irgendwann eingeholt und seitdem begleitet hat.
Die ganze Nacht hat sie es geschafft, alles zu verdrängen, die neue Sam zu sein. Die Sam, die sich nicht unterkriegen lässt, die aufsteht und weitergeht, die gegen all die Ungerechtigkeiten kämpft …
Aber jetzt scheint es, als würde alles, was sie zuvor von sich gedrängt hat, wie ein Bumerang zurückkehren. Mit doppelter Geschwindigkeit.
Ein leises Wimmern brandet in ihrer Kehle und nur mit Mühe kann sie den Laut unterdrücken. Also presst sie die Lippen fest aufeinander, in der Hoffnung, dagegen anzukämpfen. Denn ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt. All ihre Gefühle sind nur einen winzigen Schritt davon entfernt, sie mit sich in den Abgrund zu ziehen, genau wie all die Erinnerungen …
Um sich abzulenken, beginnt sie verzweifelt, die Treppenstufen zu zählen, und als sie endlich oben ankommen und die kalte Nachtluft sie empfängt, hätte sie am liebsten vor Freude geheult – bis sie die Turmplattform näher in Augenschein nimmt. Sie ist weitläufig, erstreckt sich über 15, vielleicht 20  Meter und führt einmal um den ganzen Turm herum. Die Brüstung scheint so brüchig wie ihre Haarspitzen. Wütend zerrt der Höhenwind an ihr, zerzaust ihre Frisur, als wäre sie eine blauhaarige Pocahontas, auch wenn sie sich gerade eher wie Aschenputtels böse Stiefschwester fühlt.
Der Ausblick ist wunderschön. Zumindest das, was sich trotz der Dunkelheit erahnen lässt. Soll dieser Ausblick das Letzte sein, das sie zu Gesicht bekommen? Wehmut steigt in ihr auf und noch etwas anderes, das sie nicht genauer benennen kann. Trauer?
Caspar tritt neben sie, sodass sich ihre Schultern beinahe berühren. Jetzt, so ohne seinen Hoodie, den sie auf den Schienen zurückgelassen haben, wirkt er noch etwas schlaksiger und größer. Aber sie mag die Art, wie er dasteht. Stoisch und ruhig, als könne ihm nichts etwas anhaben. Oder nichts mehr .
Vorsichtig macht Sam einen Schritt näher an die Brüstung heran, die direkt ins Nichts zu führen scheint, und spürt, wie sich das leichte Herzflattern noch steigert.
»Alles gut?« Caspars Stimme erklingt unmittelbar neben ihrem Ohr.
Sam kneift die Augen zusammen, um nicht hinabzusehen. »Ich hasse Höhen einfach.«
»Wir bekommen das schon hin. Es ist ganz einfach.«
Demonstrativ geht Caspar in die Hocke, schiebt seine Beine durch zwei Stäbe der Brüstung und lässt sie in die Tiefe baumeln, als wäre es ein verdammtes Kettenkarussell auf dem Jahrmarkt und nicht ihre letzte Station vor dem Tod.
Zögerlich ahmt sie ihn nach, kopiert seine Position wie ein Spiegel und atmet einmal tief aus, sobald sie sicher auf dem Boden sitzt. Dabei weigert sie sich vehement, nach unten zu schauen. Hastig schließt sie die Augen. Ihr Magen bebt vor Nervosität, ihr ist etwas schwummrig, aber es lässt sich aushalten.
»Du kannst die Augen wieder aufmachen.«
Erst als sie Caspars Worte vernimmt, wird ihr bewusst, wie fest sie die Lider zusammenkneift. Vorsichtig linst sie durch einen schmalen Spalt nach unten.
»So schlimm?«
»Schlimmer.« Ihr Magen rebelliert, aber nachdem sie einige Male tief durchgeatmet hat, versucht sie, beide Augen zu öffnen.
Es geht. Es geht tatsächlich.
Trotzdem rast ihr Herz.
»Du machst das großartig«, lobt Caspar sie und Sam sieht prüfend hinab in die Schlucht, die sich vor ihnen auftut. Sofort wird ihr schwummrig, doch sie zwingt ihren Verstand, sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Noch ist alles in glanzlose Dunkelheit getaucht, lediglich vom Mondlicht beschienen, bald allerdings wird die Sonne aufgehen und die Schatten weichen lassen.
Nach und nach verändert sich das Schweigen zwischen ihnen, verändert seine Tonalität. Jetzt wirkt es wie eine überdimensionale Uhr direkt über ihren Köpfen, und während Caspar die Playlist abspielt und Ghost sein versprochenes Selfie von ihnen schickt, überfällt Sam ein tiefes Gefühl von Trauer.
»Stellst du den Timer?«
Caspar nickt. Sanft erklingen die Töne des ersten Songs. Sam hat keine Ahnung, welches Lied es ist, was ihr in diesem Moment auch völlig Latte ist. Darum geht es nicht. Es hat gar keine Relevanz.
Die Melodie klingt in jeder Faser ihres Körpers nach und ruft all die Emotionen hervor, die sie sonst so gut in sich verschlossen hält. Aber es scheint, als wäre Ghosts Playlist wie dafür gemacht. Ein Schlangenbeschwörer auf der Jagd nach den Abgründen anderer.
Zwei Stunden, das ist alles, was sie noch zusammen haben werden.
Krampfhaft schließt Sam ihre Hände zu Fäusten, stützt sie links und rechts neben sich ab. Der Druck in ihrem Inneren wird immer größer. Der Wunsch danach, Caspar zu schütteln und ihn zur Vernunft zu bringen, wächst unausweichlich in ihr heran.
Das erste Lied verklingt sanft und harmonisch.
Es folgt das zweite. Spring von Rammstein . Wie passend.
Und dann das dritte.
Die Zeit vergeht, sie fließt dahin, immer schneller, und das Ticken des Timers in ihrem Kopf wächst zu einem dröhnenden Bariton heran, der ihr Kopfschmerzen verursacht. Ihre Finger umschließen die glatten Stäbe, absorbieren die Kälte, um den Brand, der in ihr lodert, zu löschen.
Sie spürt Caspars Aufmerksamkeit auf sich ruhen, weigert sich jedoch, den Kopf zu drehen und eine Bestätigung dafür zu erhalten, weil sie sich vor seinem Laserblick fürchtet. Davor, was er jetzt in ihrem Gesicht und in ihren Augen lesen könnte.
»Wie hast du das vorhin eigentlich gemeint? Mit Ghost. Bevor der Zug kam.«
Natürlich. Sam schließt die Lider und wünscht sich weit weg, aber als sie die Augen schließlich wieder öffnet, ist sie immer noch an derselben Stelle. Sie seufzt leise. »Ich habe dummes Zeug geredet, okay?«
»Das klang nicht danach. Es klang, als würdest du einen festen Standpunkt vertreten.«
»Ich möchte mich nicht mit dir streiten.«
Caspar senkt die Stimme, fast ein wenig verwirrt. »Und du denkst, das würden wir tun, wenn du mir deinen Standpunkt näher erläuterst?«
»Ich bin mir sogar ziemlich sicher«, erwidert sie schmallippig, in der Hoffnung, dem Thema entfliehen zu können.
»Lassen wir es doch einfach darauf ankommen.«
»Es war also nicht von Ghost kalkuliert, dass wir beinahe zwei Aufgaben zu früh draufgehen?«
»Es ist einfach Teil der Challenge gewesen. Eine Art Nervenkitzel zum Schluss. Was ist schon dabei?«
»Mit dem Ziel, uns in den Tod zu schicken?«
Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, dass Caspar den Kopf schüttelt. »Nein.«
»Wie würdest du es dann nennen?«
Endlich schaut sie ihn an, ehrliche Verwirrung gleitet über seine markanten Züge, als würde er nicht wirklich verstehen, worauf sie hinaus möchte. Dafür, dass er so verdammt intelligent ist, steht er erstaunlich oft auf dem Schlauch. Aber vielleicht will er auch darauf stehen und das macht sie seltsamerweise wütend.
Mit hochgezogenen Augenbrauen starrt er sie an, als könne er ihre Worte nicht nachvollziehen, und im selben Moment bereut Sam, das Thema hier angesprochen zu haben. Allerdings ist es dafür jetzt zu spät.
Sollte sie mit offenen Karten spielen?
»Wie ich es nennen würde?«, wiederholt Caspar und seine Frage trieft vor Sarkasmus. »Keine Ahnung, einfach einen anderen Weg finden. Einen Weg, den wir auch wirklich gehen. Wie lange denkst du schon über den Tod nach? Über wie viele Möglichkeiten hast du im Internet recherchiert, in unserem Forum? Ich jedenfalls habe Stunden damit verbracht, mir zu überlegen, wie ich am besten sterben kann. Sollen mich meine Eltern in meinem Zimmer von der Decke baumelnd finden? Nein. Will ich vor einen Zug springen und einem Lokführer für immer das Leben vermiesen, weil meine Körperteile seine Scheibe bepflastern? Nein. Und in den Wald zu gehen – was, wenn mich da eine Zehnjährige findet, die gerade mit ihrem Hund spazieren ist, und ich sie für immer traumatisiere? Nein.«
Die Wahrheit ist so schonungslos, so scharf wie der Schnitt der Glasscherbe auf ihrem Arm, und Sam schnappt nach Luft, weil die Bilder, die Caspar in ihrem Kopf entstehen lässt, so abscheulich sind, dass sie körperlich schmerzen. Er ist gnadenlos, hart, direkt.
Genauso wie der Tod selbst.
»Es fühlt sich gut an, dass mir die Entscheidung abgenommen wird. Ein Stück zumindest. Denn letztendlich ist keiner von uns aus Deathwish allein gegangen, was irgendwie etwas Tröstendes hat, wo wir in der Endgültigkeit schon absolut einsam sind. Ghost nimmt uns nur bei der Hand. Mehr ist das nicht.«
Die Worte treffen sie wie ein Fausthieb in ihrer Magengrube. So sieht er das also.
Für einen winzigen Augenblick weiß sie nicht, was sie darauf antworten soll. Doch dann bricht es einfach aus ihr heraus, ohne dass sie es steuern kann, ohne dass sie darüber nachdenkt, welche Konsequenzen es haben könnte: »Aber das ist so falsch! Du solltest niemanden haben, der dich bei der Hand nimmt, eigentlich solltest du die Entscheidung selbst treffen. Wie sich das schon anhört! Was ist, wenn du doch noch unschlüssig bist? Was ist, wenn deine Angst überwiegt, du dich aber auf einmal von Ghost gezwungen fühlst, den letzten Schritt zu machen? Und vom Druck aus dem Forum, von anonymen Leuten, die du nicht einmal persönlich kennst!«
»Nur diese anonymen Leute kennen mich besser als meine Eltern, als meine Freunde – als mein komplettes Umfeld.«
»Weil du Angst hast, dich deinem Umfeld zu öffnen und zuzulassen, mal nicht Caspar, das Genie, zu sein!«, knurrt Sam jetzt. »Du hast einfach eine wahnsinnige Angst davor, sie zu enttäuschen – aber weißt du was? Das ist in Ordnung. Es ist in Ordnung, andere Menschen zu enttäuschen, das müssen Beziehungen aushalten. Niemand ist perfekt.«
Seine Stimme wird jetzt bedrohlich leise. »Was meinst du damit?«
Aufgebracht und etwas frustriert stößt Sam die Luft aus, fährt sich mit klammen Fingern durchs Haar. »Keine Ahnung, was ich damit meine! Es ist gerade einfach zu viel. Das alles ist einfach zu viel!«
»Willst du einen Rückzieher machen?«
»Nein.« Schwer atmend schüttelt sie den Kopf. »Nein, das will ich nicht.«
»Das klingt aber anders.«
»Darum geht es doch gar nicht.« Ihre Gedanken überschlagen sich und jedes Mal wenn sie versucht, danach zu greifen, scheinen sie ihr aus den Fingern zu gleiten. »Ich finde es einfach wahnsinnig egoistisch von uns zu gehen. Das ist es. Es ist egoistisch.«
Da. Sie hat es ausgesprochen. Wortkotze. Weil sie nicht nach den richtigen Gedankenströmen gegriffen hat.
Noch bevor sie diesen Satz relativieren, irgendwie anders ausdrücken kann, sickert er langsam in Caspars Bewusstsein. Sie sieht es an dem überraschten Weiten seiner Pupillen, an der Art, wie er den Mund öffnet.
Caspar starrt sie an, als hätte sie ihm ein Messer in die Brust gerammt. Tatsächlich schiebt er ein Bein nach hinten, will Abstand zwischen sie beide bringen. Der bloße Gedanke daran, er könne sich von ihr abwenden, bringt ihr Herz auf einmal zum Stolpern.
Shit. Shit. Shit.
Ich habe es nicht so gemeint , will sie eigentlich sagen, aber ihr Mund bleibt fest geschlossen, wie zugetackert.
»Warum bist du hier?«
»Wie … wie meinst du das?«, stammelt Sam irritiert darüber, wie kalt und emotionslos seine Stimme plötzlich klingt.
»Genau so, wie ich es dich gefragt habe: Warum bist du hier, wenn nicht …« Er macht eine lose Handbewegung, wischt einmal durch die Luft.
»Weil … weil …«
»Warum sagst du, dass es egoistisch ist, wenn wir gehen?«, unterbricht Caspar sie schneidend. »Warum denkst du so?«
Die Knöchel seiner Hände treten jetzt weiß und spitz hervor, seine Augen blitzen vor unterdrückter Wut und etwas anderem, vielleicht ist es Panik. Sam ist sich nicht sicher.
Ihre Nase fängt verdächtig an zu jucken, wie jedes Mal wenn sie kurz vor dem Heulen ist, und das Brennen hinter ihren Augenlidern kündigt die ersten Tränen an, bevor Sam sie zurückhalten kann.
»Ich …«
»Sam, sag doch einfach die Wahrheit.«
Jetzt laufen die Tränen ungehindert über ihre Wangen, ihr ganzer Körper erzittert wie bei einem Erdbeben. Ihre Gedanken tosen in ihrem Kopf.
Es ist alles zu viel. Das hier. Dieser Moment mit Caspar. Caspar selbst. Die Tatsache, dass er sich umbringen möchte und sie der Situation schutzlos ausgeliefert ist, wo sie doch eigentlich nur herausfinden möchte, was hinter Deathwish steckt …
Und dann sagt sie das, was sie am liebsten für immer vor ihm verschwiegen hätte: »Weil ich gar nicht sterben will.«