25
CASPAR
Davor
Caspar gefiel die Ruhe vor dem Sturm, bevor die anderen aus der Pause wieder ins Klassenzimmer zurückkehrten. Es war ein unbeschwertes Gefühl, etwas, das ihn immer daran erinnerte, dass die Einsamkeit seine liebste Begleitung war. Er hörte, wie sich die Tür öffnete, das Schaben von Schuhen über dem Boden, noch bevor er die Gestalten aus dem Augenwinkel hereinkommen sah.
»Na, du Freak?«
Teilnahmslos hob Caspar den Kopf, denn er war es gewohnt, dass die Jungs aus seiner Klasse ihn wie einen Aussätzigen behandelten. Alle bis auf Lauris, aber selbst der konnte nicht immer nett zu ihm sein, weil sie ihn ansonsten mit hineinzogen und er nicht die Kraft hatte, den ganzen Scheiß auszuhalten. Caspar wusste, dass sich Lauris nur mit ihm abgab, damit er nicht ganz so allein war – und vielleicht auch, weil ihre Kinderfreundschaft noch ihre Schatten warf.
Fabrizio und Ben blieben direkt vor seinem Tisch stehen und grinsten hämisch auf ihn herab. In ihren Augen lag diese Art von Ausdruck, die Caspar schon viel zu oft wahrgenommen hatte: Verachtung. Abneigung. Angst. Verunsicherung. Sie verströmten ihre Empfindungen wie ein billiges Raumspray, als ob sie ihn direkt damit einsprühten.
»Hast du deine Pause mal wieder allein verbracht?«
Sie ragten vor seinem Tisch auf und ihre nächsten Worte prallten an ihm ab, weil Caspar es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sie komplett auszublenden. Es gab nichts, aber auch rein gar nichts, was sie hätten sagen können, um ihn zu verletzen. Denn er hatte alles schon einmal gehört.
»Hey, jetzt lasst ihn doch mal in Ruhe.« Lauris’ Stimme klang fast ein wenig verlegen, als er das Klassenzimmer betrat. Ihre Blicke kreuzten sich und Caspar konnte die Scham in seinen Augen erkennen. Womöglich deshalb, weil sie früher so etwas wie richtig gute Freunde gewesen waren und Lauris mittlerweile die soziale Leiter eigentlich zu weit aufgestiegen war, um sich noch mit ihm abzugeben.
Selbst das ging Caspar am Arsch vorbei. Ihm war alles egal. Denn er kannte nichts anderes, als allein zu sein, und das würde auch jemand wie Lauris nicht ändern, den er trotzdem irgendwie als Freund bezeichnete. Wen hatte er denn sonst noch?
Niemanden.
»Was mischst du dich denn ein?«, höhnte Ben und verzog die Lippen zu einer Grimasse.
»Habt ihr nichts Besseres zu tun?«, antwortete Lauris stattdessen und stellte sich demonstrativ neben Caspar, der keine Anstalten machte, sich auf ein Streitgespräch einzulassen. Das brachte sowieso nichts.
»Ehrlich gesagt nicht. Mir ist langweilig. Doch unser kleines Genie kriegt mal wieder den Mund nicht auf.«
Weil ich es gar nicht nötig habe, mich mit euch Vollpfosten zu unterhalten.
Und weil er bereits resigniert hatte. Da man ihn jahrelang als Aussätzigen behandelt hatte, war er letztendlich zu einem Aussätzigen geworden. Nichtsdestotrotz war Caspar für Lauris’ halbherzige Verteidigung dankbar, schließlich gab es sonst niemanden, der für ihn einstand. Nicht einmal die Mädchen aus seiner Klasse, die von großen MeToo
-Bewegungen sprachen und Geld für Hilfsbedürftige in Afrika spendeten. Komischerweise waren sie aber verdammt gut darin, das Mobbing im eigenen Klassenzimmer zu ignorieren, vielleicht, weil es einfach zu dicht vor ihrer Nase geschah und sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen. Oder nicht sehen wollten. Denn dann hätten sie sich mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten, ihrem eigenen Wegschauen, beschäftigen müssen und wer blickte schon gerne in den Spiegel, um dann festzustellen, dass er selbst nicht besser war als die Personen in den Nachrichten?
Das Problem bei Idioten wie Ben und Fabrizio war jedoch, dass sie sich provoziert fühlten, ganz gleich wie und ob er reagierte. Jetzt wurde Ben wütend, weil Caspar ihnen keine Aufmerksamkeit schenkte, und beugte sich mit aufgeblähten Nasenflügeln zu ihm herab.
»Hältst dich für was Besseres, mit deinen perfekten Noten und deiner Musikbegabung … Bist dir wohl zu schade, eine Unterhaltung mit uns Normalos zu führen!«
Caspar sah Ben nicht an, was dessen Gesicht noch röter werden ließ. Die Spannung nahm nun deutlich zu, pulsierte zwischen ihnen.
»Ich rede mit dir, Freak.«
»Es reicht doch auch mal«, murmelte Lauris halbherzig, aber weil er einen Kopf kleiner und mindestens zehn Kilo leichter war als Ben, der regelmäßig im Fitnessstudio trainierte, würde es bei diesem kläglichen Versuch bleiben.
»Lass gut sein, Lauris«, sagte Caspar müde und senkte den Blick. Er hatte genug. Er wollte einfach nicht mehr.
»Ach, mit ihm redest du, aber mit uns nicht?«, höhnte Ben mit zusammengekniffenen Augen und Caspar drehte sich ihm zu.
»Ja, weil er sich im Gegensatz zu dir artikulieren und nicht nur mit Beleidigungen um sich schmeißen kann.« Caspar drückte die richtigen Knöpfe, wusste, was ihm gleich drohte. »Dafür reichen deine zwei Gehirnzellen nicht aus.«
Mit einem wütenden Knurren packte ihn Ben am Shirt und verpasste ihm einen heftigen Schlag mit der Faust. Schmerz explodierte in Caspars Kopf, sein Schädel dröhnte dumpf und seine Wange fühlte sich taub an. Lauris riss Ben zurück, aber es war schon zu spät.
Caspar sagte gar nichts mehr.