26
CASPAR
Jetzt
In Gedanken hält Caspar sich die Ohren zu, weil er nicht hören will, was Sam erzählt. In ihrem Blick steht so viel, so viel Ungesagtes, dass es sich anfühlt, als würde sie ein Schwert in seine Bauchmitte rammen.
Es braucht keine Worte. Es reicht dieser Blick. In ihm liest Caspar die Offenbarung, die er nicht lesen möchte. Noch bevor sie es ausspricht, hat ihr Blick ihn bereits niedergestochen. Dieses Mal direkt ins Herz.
Nein.
In seiner Vorstellung hat er die Augen fest zusammengekniffen, sitzt stumm da, stumm und taub und blind. Innerlich wehrt Caspar sich gegen das Lasso, das Sam in diesem Moment auswirft. Und obwohl er sich wehrt, mit Füßen tritt und wild um sich schlägt, fängt sie ihn doch ganz einfach ein.
Natürlich macht sie es vorsichtig, ohne Hast, und vielleicht macht sie es genau richtig. Aber was ist schon richtig? Sie kann jetzt nur einen gewaltigen Fehler begehen.
Ihre Stimme ist weich, kaum mehr als ein Flüstern. »Es tut mir leid.«
»Was hast du gerade gesagt?«
Damit meint er nicht die Entschuldigung, was ihr auch klar zu sein scheint, denn sie wiederholt leise, aber eindringlich: »Ich will gar nicht sterben.«
Mit tränenverhangenen Augen blickt Sam ihn an und Caspar steht auf, weil er das Gefühl in seiner Brust nicht erträgt. Ihren Anblick erträgt er genauso wenig. Strähnig hängt ihr das indigoblaue Haar in der Stirn, ihr Gesicht ist von Erschöpfung gezeichnet und der Ausdruck auf ihren Zügen flackert unstetig wie eine Kerze im Wind. Ihre Tränen haben einen feuchten Pfad auf ihren Wangen hinterlassen und seine Hand zuckt in die Höhe, um ihn fortzuwischen, weil er Mitleid mit ihr hat, als ihm endlich dämmert, was Sam da eigentlich enthüllt hat.
Wahrscheinlich weil er kein gottverdammter Roboter ist und ihm dieses Mädchen in den letzten vier Stunden mehr Normalität gegeben und mehr Verständnis entgegengebracht hat als irgendjemand sonst in den letzten Wochen und Monaten.
Außer vielleicht Ghost. Und das Forum.
Plötzlich fühlt er sich verraten.
Abrupt geht er ein paar Schritte von ihr weg. Im Hintergrund erklingt das nächste Lied, ihr eigener Soundtrack zum beschissenen Film ihres Lebens. Passend dazu ist es Exit Music (For a Film)
von Radiohead
, ausgerechnet der bescheuerte Song, der wöchentlich in Caspars eigenem Kopfkino läuft. Zu oft hat er das Lied schon abgespielt und sich den Lyrics hingegeben, sich ausgemalt, wie es wäre, endlich alles hinter sich zu lassen.
Er ballt die Hände zu Fäusten, wendet ihr den Rücken zu. Dabei hört er, wie sie schniefend die Nase hochzieht.
»Und warum?«, fragt er halblaut in das Lied hinein.
Sam gibt keine Antwort.
»Warum bist du dann hier?«
Keine Reaktion.
Resigniert dreht Caspar sich um, öffnet die Fäuste und fährt sich mit einer Hand übers Gesicht, um den Schrecken zu verscheuchen, auch wenn es aussichtslos ist. Ihr Schweigen hallt durch seinen Kopf und lässt seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Noch hat sie es nicht bestätigt, noch hat sie es nicht ausgesprochen …
»Sam?«
Ihr Name schwebt wie ein kitschiger roter Ballon zwischen ihnen und sie lässt ihre blauen Haare wie einen Schutzvorhang vors Gesicht fallen. Als wisse sie ganz genau, dass er aus ihrem Mienenspiel die Wahrheit herauslesen kann.
»Das kann ich dir nicht sagen.« Kaum mehr als ein leises Flüstern.
»Weshalb?«
»Weil du mich dann mit anderen Augen sehen würdest.«
»Wovon redest du?« Jegliche Körperwärme verschwindet schlagartig aus seinen Gliedern und eine Gänsehaut breitet sich auf seinen Armen aus. Aber nicht wegen der Kälte der Nacht und dem verlorenen Hoodie, sondern weil er das Gefühl hat, von innen heraus zu erfrieren.
Caspar macht wieder ein paar Schritte in ihre Richtung, geht neben ihr in die Hocke und streicht ihr das Haar hinters Ohr.
Die Berührung lässt sie zusammenzucken, vielleicht, weil sie eher mit unbändiger Wut als mit Mitgefühl gerechnet hat. Noch hat er kein Verständnis für sie, noch ist er auf der Suche nach der Wahrheit. Doch Sam ist kurz davor zu zerbrechen und er möchte da sein und ihre Scherben einzeln aufsammeln, wenn es passiert.
»Sam«, sagt er jetzt sanft, weil er das Gefühl hat, nur so ihren Panzer zu durchdringen. »Wir beide haben nicht viel Zeit. Was auch immer dich beschäftigt, egal welche Zweifel du hast, du kannst es mir einfach sagen. Ich versuche doch nur, dir zu helfen.«
Ihr raues Lachen ist von Bitterkeit durchtränkt. »Das ist es ja gerade … Es geht hier nicht um dich und mich.« Sie macht eine hilflose Handbewegung hin und her zwischen ihnen. »Es ging nie um dich und mich.«
»Sondern?«, fragt er dumpf, ausgehöhlt.
Jetzt klingt ihre Stimme kraftlos, als wäre ihr die letzte Energie gestohlen worden, und Caspar spürt, dass ihr Panzer bröckelt. »Es ging um Ghost. Es ging darum herauszufinden, was es mit der Challenge auf sich hat, wie alles zusammenhängt. Es ging einfach darum, mehr Informationen zu sammeln und alles zu verstehen.«
Ihre Worte lösen einen eiskalten Schauder aus, der über seinen Rücken jagt. Caspar fröstelt noch mehr und seine Gedanken überschlagen sich. Aber er rückt nicht von ihr ab, keinen Zentimeter, auch wenn sie plötzlich eine Kälte ausstrahlt, als wäre sie die Eiskönigin persönlich.
Dann stellt er die eine Frage, auf die er womöglich gar keine Antwort erhalten will: »Warum willst du das alles herausfinden?«
Sam starrt ihn an, sieht ihm direkt ins Herz und Caspar spürt Übelkeit in sich aufsteigen. Es ist, als wäre er in einem Albtraum gefangen, von dem er zuvor dachte, dass es bloß ein stinknormaler Traum ist.
Ihm entgeht nicht, wie sie mit sich hadert, wie sie einen stummen Kampf in sich ausficht, bei dem er nur als Verlierer hervorgehen kann.
Vorsichtig, dann etwas entschlossener schüttelt sie den Kopf, kapselt sich von ihm ab. »Nein … ich kann nicht.«
»Sam«, flüstert er jetzt eindringlich. »Sam, sag es mir doch einfach.«
Sam öffnet den Mund, tastet sich an den nächsten Satz heran, probiert ihn in Gedanken aus. Dann, nach einer halben Ewigkeit, scheint sie eine Entscheidung gefällt zu haben, denn sie hebt das Kinn ein kleines bisschen.
»Es geht um Rachel.«
»Deine Schwester?«, fragt Caspar.
»Ja.«
»Was ist mit ihr?«
Sam sagt erst einmal nichts, zögert.
»Was ist mit deiner Schwester?«
»Rachel ist tot.«
Rums.
Ihre Worte treffen ihn unvermittelt und so heftig wie ein Pistolenschuss. Caspar reißt die Augen auf, sieht, wie Sam die Lippen lautlos bewegt, noch etwas hinzufügt, aber sein sonst so perfekt funktionierendes Hirn hat sich in einen flauschigen Watteberg verwandelt. Keine Ahnung, was er antwortet. Ob er etwas antwortet.
Jetzt erst setzen sich die Puzzleteile zusammen, ergeben ein Gesamtbild, das er so nicht vorausgesehen hat. Wie im Schnelldurchlauf fliegen ihre Gespräche vor seinem geistigen Auge vorbei, jede Frage, jedes Wort. Er nimmt alles blitzschnell auseinander, versucht, die Bedeutung zu entschlüsseln, nur um zu dem einzig logischen Schluss zu gelangen.
»Rachel war in Deathwish
angemeldet, richtig?«
Sam nickt schweigend.
»Sie hat sich umgebracht.«
Wieder nickt Sam, dieses Mal abgehackt und bestätigt damit seine schlimmste Befürchtung. »Ihr Username war Aschekind
.«
Seine Fingerspitzen sind taub, das Blut weicht aus seinen Wangen, nur seine Füße prickeln. Etwas Schweres wickelt sich um seinen Brustkorb, schnürt ihn ein wie ein Paket. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit. Mit Sorgen und Ängsten, mit einem Rückzieher, weil sie nicht stark genug ist, es durchzuziehen. Doch Sams Geständnis eröffnet eine völlig neue Dimension.
Ungläubig blickt Caspar ihr ins Gesicht, versucht, es zu lesen wie ein Tagebuch, nur ist er dazu gar nicht mehr richtig in der Lage. Obwohl es ihm sonst so leichtfällt.
Tränen schwimmen in ihren Augen, dann stößt Sam einen erstickten Schluchzer aus und plötzlich ist es, als wären alle Dämme gebrochen. »Es tut mir leid. Ich wollte es dir ja sagen, aber ich war mir am Anfang nicht sicher, ob ich dir trauen kann. Und dann erschien es mir falsch, weil ich Angst hatte, dass du etwas Dummes tust.«
Erst jetzt begreift er das Ausmaß, die Bedeutung von ihren Worten, und er spürt den körperlichen Schmerz bis auf den Grund seiner Seele. Enttäuschung durchdringt ihn wie ein Schwert.
»Du hast mich die ganze Zeit über belogen.«