29
SAM
Davor
Als Sam um die Ecke bog, sah sie das Schulgebäude mit der großen Cafeteria und der einladenden Terrasse.
Die weiße Fassade. Der Hof mit den vielen Bänken und Sitzgelegenheiten, die unter mehreren riesigen Buchen standen. Große Glasfenster. Die Klassenräume der Fünftklässler waren bunt bedruckt. Irgendwie sah es aus wie immer. Aber es fühlte sich nicht wie immer an.
Rachel war tot. Und würde nicht mehr gemeinsam mit ihr zur Schule laufen.
Auf einmal war es real. All die Gedanken der letzten Wochen schossen Sam durch den Kopf und die Gewissheit durchfuhr sie siedend heiß.
Abrupt verlangsamte sie ihre Schritte und atmete tief aus. Zum Glück entdeckte man hinter der Sonnenbrille ihre weit aufgerissenen Augen nicht, konnte nicht erkennen, wie groß ihre Angst wirklich war.
Du schaffst das.
Innerlich zählte Sam bis drei, ballte ihre Hände zu Fäusten und lief mit hochgezogenen Schultern weiter. Der Wind trug den Geruch von Regen heran. In der Ferne erscholl ein dumpfes Donnergrollen und der letzte Rest Sonne wurde von einer grauen Wolke verschluckt. Es roch nach Herbst. Herbstregen.
Ihr Blick blieb am Schultor haften, das einladend geöffnet war und durch das die letzten Nachzügler eilten. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Unmut wider. Ein paar Zehntklässler standen hinter dem Hausmeisterschuppen und rauchten. Alles wie immer.
Du schaffst das , wiederholte Sam stumm. Das Zittern ihrer Hände verbarg sie, indem sie ihre Finger in die Taschen ihrer ausgefransten Jeansjacke steckte. Du schaffst das.
Sam lauschte tief in sich hinein und wartete darauf, dass sie auftauchte. Indigo. Ihre Heldin. Ihr zweites Ich. Ihr Schutzschild, ihr Panzer.
Dann war sie da. Übernahm die Kontrolle über ihren Körper und Sam ließ los.
Die Gedanken. Den Schmerz. Die Erinnerungen. Und Samantha. Jetzt war sie einfach diese andere Person, die so viel stärker war als sie selbst.
Sam spürte, wie sich ihre Mundwinkel zu einem überlegenen Lächeln verzogen. Selbst ihre Schritte wurden leichtfüßiger und trugen sie dem Schulgebäude entgegen. Mit jedem zurückgelegten Meter streifte sie die letzten Wochen ein bisschen mehr ab, bis nichts anderes mehr übrig war als eine Hülle mit einem Geist, der ihr noch etwas fremd war.
Das letzte Stück bis zum Klassenzimmer fühlte sich vertraut an, ein Rettungsanker, an den sie sich klammern konnte. Es war gespenstisch still im Gang. Was wahrscheinlich daran lag, dass es bereits geklingelt hatte.
Ich bin stark. Ich kann das.
»Hey, du bist wieder da!«
Jannik, ein Junge aus ihrer Klasse, erschien aus dem langen Nebenflur rechts, der zum Hinterausgang führte, und musterte Sam mit hochgezogenen Augenbrauen. Er sah sie an, als ob er es noch nicht wüsste. Nicht mehr lange, dann würde sich sein Blick verändern. Wenn er lächelte, so wie in diesem Moment, tauchte ein winziges Grübchen in seiner Wange auf. Die Sam vor den Sommerferien hätte das süß gefunden. Jetzt tut sie es nicht mehr.
»Hab dich schon vermisst. Neue Frisur?« Er deutete auf das kurz geschnittene blaue Haar.
»Jap.«
Er schloss zu ihr auf und schulterte seinen Rucksack. Sam registrierte, wie er irritiert ihr Gesicht anstarrte, und ahnte, dass es an dem roten Lippenstift und den dunkel geschminkten Augen lag.
»Steht dir gut. Die neue Farbe. Anders, aber gut.«
Früher hätte sie wegen seines Kompliments gelächelt. Aber auch das gehörte der Vergangenheit an.
»Deswegen habe ich mir meine Haare auch blau gefärbt. Damit du mich endlich bemerkst, wir uns Hals über Kopf ineinander verlieben, ich meine Nicht-Jungfräulichkeit an dich verliere und wir beide nach dem Schulabschluss heiraten und wunderschöne blond gelockte Kinder mit Grübchen bekommen.«
Verdutzt blieb Jannik stehen. »Was?«
»Du hast mich schon verstanden«, sagte Sam über die Schulter hinweg und ging einfach weiter. Sie hörte, wie seine Schuhe auf dem Boden quietschten, als er ihr eilig folgte.
»Alter, mit welchem Bein bist du denn aufgestanden?«
Dieses Mal antwortete sie nichts, sondern drückte mit einer Hand die Klinke der Klassenzimmertür mit der Nummer 203 herunter.
Es war, als würde Sam das Tor zu einer anderen Welt öffnen. Drinnen herrschte das übliche Chaos. Es roch nach Parfüm. Starbucks -Kaffee. Ein wenig nach Zigaretten, die irgendjemand noch vor dem Gong geraucht haben musste. Gesprächsfetzen begannen, sie zu umschwirren.
Jannik schob sich kommentarlos an ihr vorbei auf seine Clique zu, aber nicht, ohne sie ein letztes Mal verwirrt anzusehen. In seinen Augen stand so vieles. Zum ersten Mal nahm er sie wirklich wahr. Schade, dass es diese Sam war, die er bemerkte. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er sie davor auf diese Weise betrachtet hätte. Vielleicht hätte es ein verdammt schöner Herbst werden können. Voller Hauspartys bei Torben, verstohlenen Blicken, heimlichen Küssen und Schlafsacknächten.
Fast verspürte Sam so was wie Wehmut. Aber nur fast.
Ihr Platz in der vorletzten Reihe war noch frei und sie ging darauf zu, während die Ersten ihre Anwesenheit registrierten. Als hätte jemand plötzlich ein Scheinwerferlicht auf sie gerichtet und den Lautsprecherregler heruntergefahren. Und das Lächeln auf ihrem Gesicht wich einer Grimasse. Die Luft war auf einmal elektrisch aufgeladen.
Gerade als sie sich auf ihrem Sitzplatz niederlassen wollte, erschien Herr Seibert, ihr Englischlehrer, im Türrahmen. Er war mit einer Tasse Kaffee und seiner braunen Ledertasche bewaffnet.
»Morgen«, begrüßte er sie alle und zog mit dem Ellenbogen die Tür hinter sich zu. Dunkle Ringe lagen unter seinen klaren bernsteinfarbenen Augen und sein Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab. »Da ich letzte Woche krank war, beehre ich euch erst ab heute mit meiner Anwesenheit. Wie es aussieht, habe ich mit der ersten Stunde am Montagmorgen mal wieder die undankbarste Zeit erwischt. Meine Frau hat mich mit einem Fußtritt aus dem Bett befördert, weil ich das Weckerklingeln nicht gehört habe.« Er blickte zerknittert in die Runde. »Also, wer von euch hat denn das Klassenbuch? Samantha?«
Mit einem Ruck drehten sich sämtliche Köpfe zu ihr.
Es wurde sehr still.
Augenscheinlich hatte er noch nicht gehört, was in den Sommerferien passiert war. Dabei hatte es sogar in der Zeitung gestanden. Nicht nur regional. Vielleicht war er wie jedes Jahr mit seiner italienischen Frau und seiner kleinen Tochter im Wohnwagen durch Italien gereist. Ein Sommer voller Sonnenstunden. Am Strand. In der Toskana. Irgendwo zwischen Weinbergen und Sightseeing. In Florenz vielleicht. Oder in den Buchten von Venedig. Sam würde darauf wetten, dass sie eine schöne Zeit verbracht hatten.
Herr Seibert entdeckte sie schließlich und sie sah, wie sich seine Augen bei ihrem ungewöhnlichen Anblick überrascht weiteten.
»Samantha?«
In ihren Ohren rauschte es. Rachel war tot. Sie war tot und würde nicht mehr wiederkommen.
Einatmen. Ausatmen.
Sie spürte jeden Muskel. Ihre Lungenflügel blähten sich auf.
Irgendjemand räusperte sich und riss sie prompt wieder in die Realität zurück.
Sam verfiel wieder in Unsichtbarkeit, wurde zum Teil der Klasse, als sie sich abwandten von ihr, ihrer neuen Erscheinung.
Irgendjemand schob Herrn Seibert einen Zettel und das Klassenbuch zu, als sich die Tür leise öffnete und eine in Schwarz gekleidete, zierliche Person den Raum betrat. Talina trug ihre hellblonden gelockten Haare zu einem hohen Zopf gebunden, kaute auf einem Kaugummi herum und ließ den Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Als sie Sam entdeckte, zog sie ihre Mundwinkel nach oben. Ein Lächeln, das selbst ihre mit dickem schwarzem Eyeliner umrandeten blauen Augen erreichte. Ihr unschuldig wirkendes Gesicht passte so gar nicht zu den schwarzen Lederboots, der zerrissenen Strumpfhose und einem ihrer unzähligen Röcke in Schottenmuster.
»Talina, du bist acht Minuten zu spät«, ermahnte Herr Seibert sie, klang dabei aber etwas erschöpft und trug ihren Namen in das Klassenbuch ein.
»Ja, ich weiß. Tut mir leid.« Talina presste die Entschuldigung zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann grinste sie in Sams Richtung und kam auf sie zu.
Sam lächelte zurück. Die frühere und die heutige Sam taten es beide. Denn Talina war der einzige Mensch auf der Welt, der sie wirklich wahrnahm. Der sie ansah und alles erkannte. Jeden Winkel. Die guten und die schlechten Seiten. Wenn Sam Talina ins Gesicht blickte, hatte sie all die geteilten Momente, ihre Freundschaft und das tiefe Band ihrer Zuneigung vor Augen.
»Hey. Du bist wieder da«, sagte sie leise und ließ sich neben ihr nieder. Ein Schwall von Patchouli-Duft erreichte Sams Nase. »Ich dachte schon, du lässt mich eine weitere Woche mit all diesen Freaks allein. Wir sollten das feiern. Heute Abend. Sex, Drugs und eine gute Portion laute Musik, die dich vergessen lässt.«
Sam konnte ein aufkeimendes Lachen nicht unterdrücken und erntete prompt einen schiefen Blick von Herrn Seibert, der bereits mit dem Unterricht begonnen hatte.
»Also? Was ist, heute Abend?«
»Ja. Und wohin?«, flüsterte Sam zurück.
»Lass dich überraschen. Ich hole dich ab. Halb zehn.«
Plötzlich überkamen sie Bedenken. War sie schon bereit, irgendetwas zu feiern, wo doch …?
»Ich weiß nicht, ob ich …« Sam brauchte es nicht auszusprechen. Die Worte waren dennoch da. Einzementiert zwischen ihnen.
Talina schaute sie lange von der Seite an, dann lächelte sie. Es war ein leises, melancholisches Lächeln. »Doch, Sam. Du kannst.«
Nach all den Tagen in ihrem abgedunkelten Zimmer voller Schweigen und Zweifel und den unzähligen Fragen wurde Sam schlagartig bewusst, wie sehr sie Talina vermisst hatte.
Sechs Wochen hatte sie sich vergraben.
Es gab einen Weg. Nach vorn. Und Talina würde ihr dabei helfen. Irgendwie.