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SAM
Jetzt
Dreht ein Abschiedsvideo an eine Person, der ihr Lebewohl sagen wollt – sendet es mir und der betreffenden Person. Zieht dann eure Schuhe aus, stellt sie nebeneinander und schießt ein Foto davon. Schickt es mir zu und haltet euch bereit für #denletztensonnenaufgangfürimmer. Entscheidet, ob ihr gemeinsam oder nacheinander springen wollt. Um 5:55
Uhr ist es geschafft, herzlichen Glückwunsch. Wir sehen uns auf der anderen Seite.
Ghost
Sie will das nicht lesen.
Sie will das nicht sehen.
Sie will das nicht tun.
Und sie möchte nicht, dass Caspar es tut, doch als Sam den Kopf hebt und in seinem Gesicht nach einem Anzeichen von Veränderung sucht, entdeckt sie nur wilde Entschlossenheit. Mit einem Schlag ist sie hellwach, obwohl sich ihre Augen geschwollen und schwer anfühlen, als hätte sie tagelang geweint. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis, lassen ihr Gehirn auf Hochtouren arbeiten, um eine Möglichkeit zu finden, wie sie das alles noch verhindern kann, ohne dass jemand zu Schaden kommt.
Wahrscheinlich gibt es die nicht. Einer von ihnen wird verletzt werden, wenn nicht körperlich, dann seelisch, und diese Erkenntnis raubt ihr für einen Augenblick den Atem.
Sollte sie eines aus Rachels Tod gelernt haben, dann ist es einzuschreiten, bevor es zu spät ist. Es ist das Einzige, was zählt, was einen Sinn ergibt. Schließlich würde sie es sich nie verzeihen können, wenn sie auch noch Caspar auf dieselbe Weise verliert.
Ein dünner Streifen am Horizont kündigt den nächsten Tag an. Zarte rosafarbene Schleier, die den Nachthimmel verdrängen und einen neuen Morgen einläuten. Sie sehen unschuldig aus, das perfekte Motiv für ein Gemälde.
Wie sich Rachel wohl vor einem Jahr gefühlt hat, als sie hier oben saß? Ob sie überhaupt hier oben saß? Vielleicht hat Ghost ihr auch ganz andere Aufgaben gestellt. Sam weiß nur, dass ihre Schwester ertrunken ist. Man hat sie aus einem Fluss, 27
Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, gezogen. Das war wohl ihre letzte Aufgabe.
Hat sie Angst verspürt? Oder sich sogar auf den Moment gefreut?
Nein. Tief in ihrem Inneren spürt Sam das, was nur eine Schwester empfinden kann, ein Echo der Wahrheit, das in ihr nachklingt. Vor allem jetzt, nachdem sie weiß, wie es ist, die Aufgaben zu erledigen, nachdem sie die letzten Stunden dasselbe durchgemacht hat wie Rachel. Mit den Fingerspitzen berührt sie zaghaft die Linien des geritzten Wals, ein Zeichen für die Ewigkeit.
Rachel war nicht der Typ, der den letzten Schritt geht, nicht auf diese Weise. Sie war immer etwas unschlüssig, vielleicht war das ihre Art eines Hilferufs, nur dass ihn niemand gehört hat, ihr niemand geholfen hat. Stattdessen war sie umgeben von ebenso verzweifelten Jugendlichen. Und von Ghost, der das Ganze nur verschlimmert hat.
Wahrscheinlich hat sie es letztendlich nur getan, weil noch jemand anderes dabei war. Weil jemand anderes sie angetrieben hat.
Sam denkt an all die Nachrichten, die Aufgaben, das Adrenalin und den inneren Druck – ausgelöst von der Stimme in ihrem Kopf, die am Anfang noch leise war, aber jetzt immer lauter wird. Ghost hat in ihr Sätze eingepflanzt, die sich wie ihre eigenen anhören.
Ghost hat es geschafft.
Ghost hat es geschafft, ein Teil ihrer Gedankenwelt zu werden. Ein ständiger Begleiter, der ihr über die Schulter schaut. Es war leicht, einen Zugang zu ihr zu finden, weil sie sowieso schon anfällig war. Ihre Depression, die grauen Tage nach dem Tod von Rachel, die Distanzierung von ihren Eltern. Sie kann das Bedürfnis nachvollziehen, Ghost nicht enttäuschen zu wollen. Sondern weiter zu gehen, noch eine Aufgabe zu lösen, noch einen Schritt näher zum Abgrund zu machen, sich von ihrem traurigen Leben zu verabschieden, um endlich ein Gewinner zu werden.
Das sind doch seine Worte: Gewinner.
Mit seiner perfiden Manipulation gelingt es ihm, auch die Unschlüssigen dazu zu bewegen, diesen letzten Schritt zu tun. Und ihnen damit die Möglichkeit zu rauben, jemals wieder zurückzublicken.
So wie bei Rachel.
Sam hingegen hat nie vorgehabt, sich umzubringen. Doch da sie diese Tatsache die ganze Nacht über nicht ausgesprochen hat, ahnt sie, wie groß sich der Verrat für Caspar anfühlen muss. Sie lässt den Kopf hängen, ballt die Hände zu Fäusten, weil sich plötzlich so viel Frustration in ihr anstaut, dass sie am liebsten gegen irgendetwas geschlagen hätte.
Wenn sie könnte, würde sie die Zeit zurückdrehen und es irgendwie anders versuchen.
Direkt die Polizei einschalten zum Beispiel.
Aber trotz ihrer Verzweiflung und den ungeplanten Offenbarungen hat sie so herausgefunden, was wirklich mit ihrer Schwester passiert ist. So seltsam es sich auch anhört, in gewisser Weise war es auch eine Möglichkeit, sich von ihrer Schwester zu verabschieden. Ihr nah zu sein, mit ihr verbunden zu sein, obwohl sie durch Raum und Zeit getrennt sind.
Es ist ein Abschied für immer. Ein für alle Mal.
Trotzdem wird diese Verbundenheit, die sie jetzt empfindet, ein ganzes Leben lang anhalten, sie immer begleiten, egal, wohin sie geht.
Denn Sam möchte leben. Möchte all die Dinge tun, die Rachel niemals tun kann: die Nordlichter sehen, eine Husky-Tour durch Lappland machen, Eis essen am Trevi-Brunnen und sich verlieben.
Müde presst sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, beobachtet, wie Caspar den Sonnenaufgang anstarrt, und spürt die warmen Strahlen wie eine Liebkosung auf der Haut. Das Bedürfnis, Caspar zu berühren, ihn festzuhalten und nie wieder loszulassen, ist überwältigend und Sam muss ihre gesamte mentale Kraft aufbringen, nicht den Arm zu heben und ihn anzufassen. Sicherzugehen, dass er noch da ist.
Caspar hat ihr jetzt das Profil zugewandt, ein entspannter, fast schon seliger Ausdruck legt sich auf seine Züge und Sam ahnt, dass sie zu spät ist. Schon zu Beginn der Nacht zu spät war.
Das hier ist nicht eine dieser Geschichten, in denen die Heldin in nur einer Nacht mit ihrer Liebe, ihrer Fürsorge und ihrem Verständnis alle Probleme löst und die finsteren Dämonen des Helden mit einem Kuss und einem zaghaften Lächeln verscheucht. Nein, das hier ist die Realität. Und in der Realität ist sie machtlos gegen jene übermächtigen Schatten, die Caspar von hinten umklammert halten und ihm Verheißungen von einem schönen Tod ins Ohr flüstern.
Zwar hat sie ihm nicht direkt ins Gesicht gelogen, aber sie hat ihn um die Chance gebracht, in dieser Nacht etwas Echtes zu erleben. Die ganze Zeit war sie nichts weiter als eine Täuschung, eine billige Kopie, verkleidet mit blauen Haaren, die wie eine Perücke auf ihrer Kopfhaut sitzen. Sie hat Rachels Gedanken gestohlen, ihre intimsten Wünsche und ihre größten Ängste. Nur für heute Nacht. Weil sie begreifen, nachvollziehen wollte, was ihre Schwester motiviert hat.
Jetzt ist sie sich sicherer als jemals zuvor: Rachel hätte niemals den endgültigen Tod gewählt.
Nicht freiwillig. Nicht so.
Aber mit dem Zwang, mit Ghost als Spielemacher, der im Hintergrund alle Fäden in der Hand hält und die Strippen zieht, lässt sich dessen Schuld nicht zurückweisen.
Sams Kehle verengt sich gefährlich, unbeholfen wischt sie sich über die nassen Wangen und schmeckt eine Mischung aus Salz und Blut auf der Zungenspitze.
Wie viele Jugendliche hat er noch in den Tod begleitet? Hat ihnen Mut zugesprochen, sie angetrieben wie willige Schafe und dann mit einem seligen Lächeln über die Klippe gestoßen?
»Ich verstehe dich«, sagt Caspar in diesem Augenblick und durchbricht ihr einvernehmliches Schweigen. Er klingt jetzt klar, ausgeglichen, seine Züge sind weich und der Ausdruck in seinen Augen ist fast schon zärtlich, als er sich ihr zuwendet. »Du hast alles gemacht, um herauszufinden, was mit einem Menschen, den du geliebt hast, geschehen ist. Das war verdammt mutig, Sam.«
Sam öffnet den Mund, sucht eine Antwort, schließt ihn jedoch wieder. Es ist, als würde er ihr Absolution erteilen, und in gewisser Weise ist sie darüber sogar erleichtert.
»Du wolltest doch auch immer etwas mutiger sein.«
»Das hier ist nicht eine von diesen Geschichten«, antwortet er mit einem traurigen Lächeln, das seine Augen wärmer werden lässt. »Außerdem bin ich auch verdammt mutig.«
»Aber …«
»Ich habe mich entschieden. Das weißt du ganz genau.«
»Gibt es denn etwas, das du gerne noch gemacht hättest, außer mutiger zu sein?«, fragt sie ihn jetzt mit einer Stimme, die wie Schmirgelpapier klingt.
»Sam …«
»Wenn du es mir sagst, dann … Ich habe dir auch all die Dinge genannt, die Rachel aufgeschrieben hat«, gesteht sie ihm brüchig. »Wenn du es mir sagst, dann könnte ich diese Dinge an deiner Stelle erledigen. Oder so. Vielleicht fällt dir etwas ein.«
»Natürlich gibt es da Dinge … Einen Berg besteigen, der mindestens 4.000
Meter hoch ist. Oder einen Bungee-Sprung. So etwas in der Art?«
Sie spürt, wie jegliche Farbe aus ihren Wangen weicht, bemerkt dann jedoch das schelmische Funkeln in Caspars Augen.
»Das war ein Scherz. Wir haben doch vorhin übers Reisen gesprochen, oder?«
»Ja?«
»Dann fände ich es verdammt cool, wenn du einen Sonnenaufgang und einen Sonnenuntergang auf jedem Kontinent dieser Welt für mich erlebst.«
Sofort steigen ihr Tränen in die Augen, aber irgendwie bringt sie ein Nicken zustande. Eine Antwort findet sie jedoch nicht darauf.
Sein schlaksiger Körper rückt näher an ihren heran und dann, ohne jede Vorwarnung, findet sie sich in einer warmen Umarmung wieder. Seine Arme sind etwas zu lang, aber schlingen sich um ihre Schultern, sicher und fest, beschützend. So sollte sich eine Umarmung anfühlen.
Er hält sie genauso fest, wie er es zu Beginn dieser Nacht getan hat, als die Panik sie zu überwältigen drohte.
Ihr Kinn bebt an seiner Halsbeuge, sie fühlt seinen kräftigen Herzschlag und kann die Tränen nicht zurückhalten, die jetzt ein weiteres Mal aus ihren Augen quellen wollen. Nicht mehr lange und dieses Herz wird nicht mehr schlagen.
Die Erkenntnis lässt sie laut aufschluchzen und Caspar drückt sie etwas enger an sich, streichelt ihr beruhigend übers Haar, als würde er sie ganz und gar begreifen.
Tief inhaliert Sam seinen holzigen und herben Duft, seine Körperwärme und seine gesamte Präsenz, sperrt alles in ein Marmeladenglas aus Erinnerungen ein, so wie sie es als Kind immer getan hat, und krallt ihre Finger noch fester in sein Shirt.
Eine Gänsehaut hat sich auf seinen Armen ausgebreitet und das Vogelgezwitscher löst das eiserne Schweigen der Nacht ab, kündigt den neuen Tag mit Trompetengetöse an.
Sam will nicht, dass Caspar stirbt.
Aber sie ahnt, dass sie ihn nicht davon abhalten kann.