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CASPAR
Jetzt
Eine Weile stehen sie beide eng umschlungen da. Zwei Gestalten, die man für ein Pärchen halten könnte, und doch sind sie so weit davon entfernt, genau das zu sein, wie entgegengesetzte Pole.
Im Gegensatz zu Lauris hat sich Caspar nie Gedanken darüber gemacht, wie es wäre, mit jemandem zusammen zu sein. Selbst bei Sophie ist ihm dieser Gedanke nie gekommen. Einfach, weil es nicht in sein Leben gepasst hat. Die Vorstellung war immer abstrakt für ihn, er konnte sie nicht greifen, und jetzt scheint es dafür eh zu spät zu sein.
Sam … Mit Sam war heute Nacht alles anders. Aber selbst das spielt keine Rolle mehr.
»Ich würde das Video gerne allein drehen«, sagt Caspar leise.
»Weshalb?« Ihre geflüsterte Frage kitzelt an seinem Hals, die Nähe hat etwas unheimlich Wohltuendes. Weil es sich trotz der Lügen der heutigen Nacht so echt anfühlt.
»Es ist für eine bestimmte Person gedacht und ich will nicht, dass du es mitbekommst.«
Sams Kopf ruckt hoch und runter, als würde sie seine Worte nur schwer begreifen können. Wahrscheinlich glaubt sie, dass er allein sein will, um es zu Ende zu bringen. Er kann ihr Misstrauen wie eine eigene Duftnote wahrnehmen.
Und sie hat recht, zum Teil zumindest. Er möchte springen, gleichzeitig hat er wirklich eine ganz bestimmte Person im Kopf, für die das Abschiedsvideo vorgesehen ist.
»Ja … aber … ich …«
»Ich tu mir nichts an, während du weg bist.« Zu seiner Überraschung klingt es nicht wie eine Lüge, sondern so, als würde er es tatsächlich meinen.
Er spürt, wie ein Zittern ihre zarten Gliedmaßen durchläuft. Sie öffnet den Mund zum Protest, schweigt jedoch und Caspar erkennt, dass sie nachgibt, kann es unter seinen Fingern fühlen. Wahrscheinlich hat sie das Verlangen, ihm zu vertrauen, und das ist auch gut so.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Ich … ich komme gleich wieder«, flüstert sie mit tränenerstickter Stimme an seiner Brust und ihr Klang hallt wie ein tiefes Echo in ihm nach.
Caspar drückt sie noch etwas enger an sich, seine Arme schlingen sich um ihren schmalen Körper, der jetzt so zerbrechlich wirkt wie der eines Vogels. Er hört ihr scharfes Luftholen, nimmt überdeutlich wahr, wie ihre Muskeln zum Leben erwachen und sich aus seiner Umarmung befreien wollen.
»Warte.«
Er möchte den Moment noch etwas hinauszögern.
»Geh noch nicht. Nur noch einen Augenblick«, flüstert er an ihrem Haar, spürt das Beben unter seinen Fingerkuppen. Die Minuten zerrinnen zwischen ihnen und sie sagen beide nichts, weil schon alles gesagt scheint.
»Ich komme gleich wieder«, wiederholt Sam nach einer Weile, jetzt eindringlicher, hebt den Kopf und sieht ihn an. Eine kleine Mascaraspur zeichnet sich unterhalb ihres Wimpernkranzes ab, die Lippen sind aufgesprungen, die Augen gerötet und geschwollen vom vielen Weinen.
Gleichzeitig kann Caspar den Wunsch darin lesen, seinen nächsten Schritt zu verhindern. Beinahe hätte er darüber gelächelt. Sam nimmt den Abschied erstaunlich tapfer und ihre Tapferkeit ist es, die ihn plötzlich ganz ruhig werden lässt. All die wilden Gefühle toben jetzt nicht länger in ihm, liegen still und ruhig da wie die See nach einem Sturm.
»Okay«, sagt er leise und drückt ihren zierlichen Körper, der in den letzten Minuten dünner geworden zu sein scheint, ein letztes Mal fest an sich. Dann lässt er sie abrupt los, spürt die Leere, dort, wo sie sich eben noch berührt haben.
Mit hochgezogenen Schultern dreht sie sich um, marschiert auf den hinteren Teil der Plattform zu, zu der Stelle, von der sie hergekommen sind und wo sich die Tür zum Innenraum befindet. Abgelegen, verborgen vor ihm, will sie zur Tat schreiten und ein müdes Lächeln zieht an seinem Mundwinkel.
»Sam?«
Sie wendet sich zu ihm um, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwindet. Obwohl er ihren Gesichtsausdruck nicht deuten kann, ahnt Caspar instinktiv, dass er schnell handeln muss.
»Lass uns doch noch vorher das Foto machen. Von den Schuhen.«
Kurz zögert Sam, dann kommt sie zurück, streift sich ihre Chucks von den Füßen und stellt sie an das Geländer, während er ihrem Beispiel schweigend folgt. Kommentarlos schießt Caspar das Foto von ihren Schuhen, wie sie nebeneinanderstehen und in den Abgrund hinabblicken. Die sanften Schleier des Morgens verscheuchen die Schrecken der Nacht, kündigen einen neuen Tag an, als ob es nichts Besonderes wäre.
Dabei ist heute der letzte Tag seines Lebens.
Als Sam sich wieder umdreht, sendet er das Foto an Ghost und fügt den Hashtag hinzu.
Auf Wiedersehen, Sam.
Caspar weiß, dass für seine Eltern dieser Tag niemals mehr derselbe sein wird. Es wird keinen Freitag, den 13., mehr geben, an dem sie nicht trauern. Natürlich waren sie keine schlechten Eltern, haben viel für ihn getan, ihm immer den Rücken gestärkt und ihn unterstützt, wo sie nur konnten. Vielleicht waren ihre Ansprüche zu hoch, ihre Wünsche zu sehr auf das fixiert, was er darstellt, nicht das, was er ist.
Aber er macht ihnen keinen Vorwurf, gibt ihnen nicht die Schuld.
Wenn sie heute Morgen in sein Zimmer schauen, weil sie nichts von ihm hören, werden sie dort einen Brief finden. Einen Brief, der ihnen alles erklärt. Damit sie ihn so in Erinnerung behalten können, wie sie es sich wünschen, und in dem er sie von jeglicher Schuld freispricht.
Ihm ist klar, dass sie sein Zimmer in einen Totenschrein verwandeln werden. Vollgestopft mit den Zeitungsartikeln, den eingerahmten Auszeichnungen von Jugend musiziert
. Ihre Welt wird sich weiterdrehen, sie werden Interviews geben und seinen Namen weiterhin hochhalten wie eine Nationalflagge. Und das ist auch völlig in Ordnung so.
Auch Lauris wird in den nächsten Tagen einen Brief erhalten, in dem Caspar sich von seinem Freund verabschiedet. Genauso wie Sophie, mit der er seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen hat. Aber das ist er den beiden schuldig und das weiß Caspar auch.
Sie werden für seine Entscheidung zunächst kein Verständnis haben. Doch nach einer gewissen Zeit der Trauer werden sie aufwachen und erkennen, wie wichtig dieser Abschluss für ihn selbst gewesen ist.
Sein ganzes Bewusstsein ist mit Abschiedstrauer geflutet. Nicht weil er diese Entscheidung bereut, sondern weil er sich nicht persönlich von seiner Familie und den paar Freunden verabschiedet hat. Allerdings würde er das nicht übers Herz bringen.
All jene Emotionen, die er in den letzten Wochen, vielleicht sogar Monaten unterdrückt hat, sprudeln nun an die Oberfläche. Seine Hände zittern heftig, als würde er an Parkinson leiden, während er das Handy ein zweites Mal hervorholt und sich im Forum anmeldet.
Es bricht ihm das Herz, als er daran denkt, was als Nächstes geschehen wird. Aber Sams verkorkste, verlorene Persönlichkeit steht für all die Menschen, die zurückbleiben, wenn jemand geht, wie er bald.
Plötzlich spürt er einen brennenden Druck hinter seinen Augenlidern und der Kloß in seiner Kehle scheint zu einer überdimensionalen Größe heranzuwachsen. Mit zitternden Fingern schreibt er einen Eintrag in Deathwish
, ein letzter Abschiedsgruß, ein letzter Blick auf sein altes Leben. Dann nimmt er seine Armbanduhr ab und legt sie neben ihre Schuhe.
Caspar mag Sam. Er mag sie wirklich. Weil sie der erste Mensch seit Langem ist, vor dem er sein Innerstes einfach ausbreiten kann, ohne Angst davor zu haben, dass sie darauf herumtrampelt. Stattdessen hat sie behutsam nach seiner Seele getastet, einfach nur ihn
gesehen. Nicht das Wunderkind.
Trotzdem bleibt da dieses hohle Gefühl in ihm zurück, das sie nicht so ohne Weiteres stopfen kann. Nur verlangt das niemand von ihr, das ist nicht ihre Aufgabe. Gleichzeitig würde sie es auch niemals können, weil alles von ihm abhängt. Er müsste die Schlacht selbst schlagen, aber das will er nicht. Nicht mehr. Und das hat er auch nie gewollt.
Vielleicht hat sie es nicht verdient, heute Nacht noch einen Menschen zu verlieren. Vielleicht hat er es ebenso wenig verdient, allein zu springen, weil sie ihre eigenen Pläne und Ziele verfolgt. Doch das ist völlig in Ordnung, das kann er akzeptieren.
Mit einem Blick über die Schulter stellt er fest, dass Sam noch nicht zurückgekehrt ist. Gut. Er hat keine Ahnung, wie viel Zeit ihm bleibt, aber er wird sie nutzen.
Seine Finger gleiten über die Tasten, dann schaltet er die Videofunktion ein und hinterlässt eine Nachricht für die Nachwelt, eine Nachricht, die nur für sie bestimmt ist. Insgeheim hofft er, dass sie das Video sieht, bevor der Sturm über ihr losbricht. Aber dafür gibt es keine Garantie, wie für alles im Leben.
Er sendet das Video ab.
In seinem Kopf erklingt wieder der Song von Radiohead
, genau so, wie er sich sein Ende immer vorgestellt hat.
Das war’s.