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SAM
Jetzt
Insgeheim hat sie gehofft, dass es vielleicht doch irgendwie anders geht, dass ihr alles nicht so schwerfällt. Aber jetzt, wo sie kurz davor ist, diesen Schritt zu gehen, spürt Sam umso deutlicher, wie notwendig er ist.
Sie hat das Gefühl, dass ihre Tränen mittlerweile einen ganzen See füllen könnten, denn sie laufen ungehemmt über ihre Wangen, hinausgespült von ihrer eigenen Verzweiflung, von all dem Schmerz, den sie in den letzten Monaten erdulden musste. Sie denkt an ihre Schwester, daran, was Rachel in ihren letzten Augenblicken empfunden haben muss, und die Verbindung zwischen ihnen ist auf einmal so intensiv wie schon seit Monaten nicht mehr.
Ein sanfter Wind kitzelt ihre Haare und sie erinnert sich wieder an all die Disney
-Filme, die sie zusammen geschaut haben. Die Nächte, in denen sie heimlich wach lagen und sich über den besten Prinzen gestritten haben. Lachende Momente, in denen es noch keine Dunkelheit gab, Erinnerungssplitter voller glücklicher Kindheitsträume. Und doch viel zu wenige, als dass sie für Rachel ausgereicht hätten.
Ein verzweifeltes Schluchzen entweicht ihrer Kehle, die sich geschwollen und kratzig anfühlt. Als hätte sie tagelang nichts anderes getan, als in die Welt hinauszuschreien.
Ihr Geist ist müde, erschöpft und ausgelaugt und sie hegt den dringenden Wunsch, sich einfach hinzulegen und den Schlaf der letzten Wochen nachzuholen, in einen Sommer-Winterschlaf zu verfallen und erst wieder aufzuwachen, wenn ihre Kraftreserven aufgefüllt sind. Aber das geht nicht. Noch nicht.
Erst muss sie Caspar aufhalten.
Ihre Finger tasten blind nach ihrem Handy, ihr Atem geht stoßweise. Sam zieht ihr Smartphone hervor und wählt die Nummer des Notrufs. Das Freizeichen schneidet ihr wie ein Messer ins Trommelfell. Einmal. Zweimal.
Dann ist da diese Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie klingt angenehm, so wie eine Stimme in einer Hilfestelle eben klingen sollte. Vertrauenserweckend, ein wenig so, als würde man mit einem Familienmitglied sprechen.
In kurzen, abgehackten Sätzen schildert Sam das Nötigste und nennt ihren Standort. Verschweigt keine wichtige Einzelheit. Legt alles offen, breitet alles vor ihr aus.
Sie fügt auch die Kleinigkeit mit den Hashtags hinzu, die gestreuten Brotkrumen, die sie gelegt hat, in der Hoffnung, dass ein Kripobeamter das Internet gerade heute Nacht nach Hinweisen durchforstet. Weil der Zusammenhang mit den Selbstmorden und Freitag, dem 13., womöglich doch zu offensichtlich ist. Es könnte sich als Ghosts Achillesferse entpuppen.
Es ist ihre einzige Chance.
Als Sam auflegt, erfüllt sie nichts als Erleichterung.
Trotzdem ist es noch nicht vorbei.
Sie hofft, bangt und bittet inständig darum, dass die Polizei rechtzeitig eintrifft, während ihr Herzschlag sich beschleunigt und sie wieder aus dem Schatten des Innenbaus tritt.
Wortdiebin. Und jetzt auch noch Verräterin.
Sam bleibt wie angewurzelt stehen. Ihr Atem stockt. Jedes Gefühl weicht aus ihren Gliedern. Ihr wird eiskalt.
Nein. Nein …
Caspars Schuhe stehen am Geländer des Turms. Ihre Schuhe daneben und seine Armbanduhr, alles fein säuberlich aufgereiht.
Doch von Caspar fehlt jede Spur.
Dort, wo er noch vor wenigen Augenblicken gestanden hat, herrscht jetzt gähnende Leere. Sams Gehirn versucht, die Situation zu verarbeiten, versucht zu begreifen, was sie vor sich sieht und welche Bedeutung das alles hat.
Oh, Caspar …
Krampfhaft zieht sich ihr Herz zusammen, doch dann nimmt sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Da steht er. Immer noch. Auf der richtigen Seite der Brüstung, der sicheren Seite, das Handy in einer Hand.
Er nimmt das Abschiedsvideo auf.
Unvermittelt durchströmt sie eine Welle von Erleichterung, heiß wie Feuer, und Sam sprintet auf ihn zu, während sich Hoffnung in ihr ausbreitet.
Es ist noch nicht zu spät. Es ist noch nicht vollendet.
In diesem Moment lässt er das Handy sinken, was nur bedeuten kann, dass die Aufnahme beendet ist. Ihr Pulsschlag schnellt in die Höhe, denn ihr bleibt nicht viel Zeit. Ohne zu zögern, rennt sie auf ihn zu, obwohl ihr Körper vor Panik aufschreit. Die Nähe zur Balustrade jagt ihr eine Gänsehaut über den Rücken, trotzdem schafft sie es irgendwie, die überquellende Angst vor dem Abgrund auszublenden.
Jetzt. Jetzt oder nie.
Caspar hat ihr den Rücken zugedreht und Sam überlegt nicht lange, sondern reißt ihn mit aller Gewalt von den Füßen, steckt ihre gesamte Kraft, ihre gesamte Energie in diesen einen Angriff – bevor der Mut sie verlässt.
Gemeinsam segeln sie Richtung Boden. Für ein, vielleicht zwei Sekunden scheint es, als würde die Zeit still stehen, dann landen sie beide auf dem Beton. Scheppernd zerschmettert Caspars Smartphone auf dem harten Untergrund und ein dumpfes Stöhnen entweicht ihrem Mund. Schmerz zuckt durch sie hindurch wie tausend kleine Explosionen, fährt von ihren Zehen bis in die Fingerspitzen und lässt Sterne vor ihren Augen tanzen.
Ihr Hüftknochen pocht unangenehm und Sam braucht einen Moment, um sich wieder zu sammeln.
Caspar ebenso. Was ihr wertvolle Sekunden schenkt.
»Was zum …?«
Stöhnend versucht er, sich unter ihr aufzurichten, aber Sam schaltet schneller. Mit aller Gewalt drückt sie ihn hinunter, während die Nähe zur Tiefe und die Angst vor dem, was sie eben verhindert hat, sie zittern lassen. Ihre Arme umschlingen seinen Körper, gleichzeitig rammt sie ihr Knie in seine Schulter, fixiert ihn mit einem Griff, dem er sich trotz seiner körperlichen Überlegenheit nicht einfach so entziehen kann.
Mit einem Schlag weicht Caspars Benommenheit, seine Muskeln vibrieren wie ein frisch gestarteter Motor und er gibt sich große Mühe, gegen ihre Körperspannung anzukommen.
Doch er ist chancenlos. Denn das jahrelange Jiu Jitsu-Training macht sich jetzt bezahlt.
»Geh runter von mir!«
»Niemals!«, stößt sie atemlos hervor und presst ihn mit aller Kraft zu Boden, verstärkt den Griff noch, sodass Caspar vor Frustration aufstöhnt. »Das kannst du dir abschminken. Ich weiß, du wirst mich hassen, verfluchen, zum Teufel wünschen, aber solange ich hier oben stehe, lasse ich dich nicht springen! Nicht heute Nacht, nicht, wenn ich es verhindern kann! Ich habe es schon bei Rachel nicht verhindern können, doch heute ist es noch nicht zu spät!«
Caspar heult auf. »Sam! Geh verdammt noch mal runter von mir!«
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür zum Innenraum und Sam reißt den Kopf herum. Es sind allerdings keine Polizisten, die den Weg hier hoch gefunden haben.
Eine schwarz gekleidete Person tritt nach draußen, schleicht über die Plattform und bleibt bei den einsamen Sachen stehen, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Langsam geht die Person in die Hocke, schießt ein Foto und wirft dann einen Blick über die Brüstung hinab in die Tiefe.
Ihr Herz setzt einen Schlag lang aus, als die Erkenntnis sie überrollt.
Das ist er.
»Ghost«, flüstert sie und Caspar dreht den Kopf, um zu sehen, was sie entdeckt hat. Er wehrt sich nicht mehr, aber Sam bleibt trotzdem wachsam, rückt nicht einen Millimeter von ihrer Position ab.
Sie hat es gewusst. Sie hat gewusst, dass er an den Tatort kommt, dass er sie beobachtet. Es ist ein Spiel für ihn und die Teilnehmer sind ihm ausgeliefert. Sie sind alle völlig verzweifelt, auf der Suche nach einem Ausweg, nach einer Möglichkeit. Und er hat sie ihnen gegeben. Doch was sind seine Motive? Was ist sein Ziel?
Polizeisirenen erfüllen auf einmal die atemlose Stille. Als sich Ghost umdreht und seine beiden Kandidaten entdeckt, sieht Sam seinen erschrockenen Gesichtsausdruck. Blanke Panik liegt darin. Wahrscheinlich, weil er nicht damit gerechnet hat, sie beide noch lebend anzutreffen. Er steht da und starrt sie an. Tausend Fragen flackern über seine Züge, aber er bewegt sich keinen Meter.
Ghost ist nicht wirklich alt, vielleicht Anfang 30, mit einem dunklen Bartschatten und markanter Gesichtsform, die wie aus Marmor gegossen wirkt. Trotz der Entfernung erkennt sie den harten Ausdruck in seinen Augen, mörderisch und eiskalt. Es ist derselbe Typ, den sie im Dönerladen und in der Nähe des Parks gesehen hat.
Also hat sie es sich doch nicht eingebildet, ihr Verstand hat ihr keinen Streich gespielt! Er ist es tatsächlich.
Was wohl in ihm vorgeht? Was bringt einen Erwachsenen dazu, sich in einem Forum für Jugendliche anzumelden, die sich umbringen wollen, sie zu manipulieren und so in den Tod zu treiben?
Ihre Kehle ist wie zugeschnürt, jeder Atemzug schneidet wie eine Rasierklinge in ihren Brustkorb. Bebend schließt Sam die Augen, als die Sirenen der Polizei immer lauter werden und wie ein Feuerwerk in ihren Ohren explodieren. Gleich. Gleich ist es geschafft.
Sie fühlt sich leer, vollkommen ausgelaugt.
Das habe ich für dich getan, Rachel
, denkt sie und ein kleines, verzweifeltes Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen.
»Du weißt, dass du mich nicht für immer aufhalten kannst«, sagt Caspar jetzt und der tiefe Klang seiner Stimme vibriert unter ihren Händen.
»Ja«, antwortet sie flüsternd. »Aber ich habe es wenigstens versucht. Und dir vielleicht etwas Zeit gewonnen.«
»Du weißt, sie werden mich nicht ewig einsperren können.«
Tränen sammeln sich in ihren Augen, verschleiern ihren Blick, und Sam holt tief Luft, um sich konzentrieren zu können, um nicht ins Straucheln zu geraten. »Du bist minderjährig, wahrscheinlich werden sie dir psychologische Behandlung anordnen. Das ist nichts Schlimmes. Dort bekommst du Hilfe. Vielleicht können sie dir einen Weg zeigen, einen anderen Weg. Einen, den du selbstbestimmt und allein gehen kannst, Caspar.«
Er klingt ebenso erschöpft und ausgelaugt, als er antwortet: »Ich habe mich informiert. Die Polizei kann mich als Suizidgefährdeten nur für 24
Stunden einweisen. Wenn meine Eltern es für einen längeren Zeitraum wünschen, geht es über ein Familiengericht, das dann anscheinend einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten anordnen könnte. Sam?«
»Mhm?«
»Ich habe gelogen, als ich dir eben das Versprechen gegeben habe.«
»Ich weiß. Deswegen musste ich dich auch attackieren. Anders hätte ich dich nicht aufgehalten. Es tut mir leid, dass ich deinen Wunsch nicht respektiert habe, aber es tut mir nicht leid, dass ich dich aufgehalten habe.«
Der Junge mit den traurigen Augen und den schönen Händen. Der Klugscheißer. Der Typ, der ihr in dieser einen Nacht mehr Leben geschenkt hat als alle anderen Menschen in den letzten Monaten zuvor.
Ihre Schultern zucken hoch und runter. Sie weint.
Sie weint um ihre Schwester, die ein viel zu kurzes Leben geführt hat. Und sie weint um all die anderen Jugendlichen, denen Ghost diese Entscheidung abgenommen hat.
Schritte nähern sich. Polternd durchdringen sie den angebrochenen Morgen, zerstören den Moment.
Schweigend beobachten sie beide, wie die Polizisten Ghost umstellen, der sich die ganze Zeit nicht gerührt hat. Denn der einzige Ausweg für ihn wäre ein Sprung in die Tiefe. Aber so wie Sam ihn einschätzt, bringt er das nicht über sich.
Sobald die Polizisten sie beide erreicht haben, rutscht Sam mit wackligen Knien von Caspar herunter und steht langsam auf, während Erleichterung von ihr Besitz ergreift. Die Polizisten lösen Sams Wache ab, passen auf, dass Caspar sich nichts antut, bis seine Eltern eintreffen.
Erschöpft setzt sie einen Fuß vor den anderen.
Scharf nimmt sie den Untergrund bei jedem Schritt wahr, die kleinen Steine, die sich wie Nadelstiche in ihre Sohle bohren. Jede noch so winzige Erhöhung, jede Unebenheit. Mit jedem stechenden Schmerz durchdringt Sam die Erkenntnis, dass sie noch lebt.
Sie lebt. Und Caspar lebt. Noch.
Es gibt Hoffnung für ihn, denn er hat diese Nacht überlebt. Das ist erst einmal das Wichtigste.
Ihr Herz blutet erneut bei dem Gedanken an Rachel und all die anderen Jugendlichen, die ihr Leben gelassen haben und es noch tun werden, weil sie keinen anderen Ausweg sehen. Doch gleichzeitig weiß sie, dass es für viele nicht nur diesen einen Weg gibt. Mit jeder Tür, die sich schließt, wird sich eine andere öffnen. Sie müssen nur kämpfen, gegen die Dunkelheit, gegen den unaufhörlichen Gedankenstrom, ihn durchbrechen.
Heiße Tränen brennen sich einen Pfad über ihre Wangen und ein Schluchzen entweicht ihrer Kehle, als sie auf die junge Polizistin zutritt, die sie in eine Decke wickelt. Über ihnen geht die Sonne auf und macht diesen Freitag, den 13., zu einem neuen Tag.
Es ist vorbei.
Aber jedes Ende ist auch ein neuer Anfang.
Denn eigentlich möchte Sam einfach nur leben.