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Sonnenstrahlen durchbrachen das dichte Blätterdach der Palmen im Parc Masséna. Das Musée Masséna war für ein groß angelegtes Fotoshooting ausgewählt worden. Die Rückfront der Villa mit ihrer Säulenterrasse sollte die Kulisse für die aufregendsten und provokantesten Fotos abgeben, die die Modewelt seit Helmut Newton gesehen hatte. So dachte jedenfalls Jules Giraud, der Fotograf.

Das Musée war im neoklassizistischen Stil errichtet worden und präsentierte Exponate aus der Zeit der Belle Époque. Genau das richtige Ambiente für ein Shooting, dachte Jules.

Der Fotograf lief im Park umher und rauchte scheinbar versonnen eine Zigarette. Er schien mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen gesegnet. Tatsächlich war er jedoch hochgradig erregt und nervös. Ein klitzekleiner Zweifel meldete sich, den er sofort wieder vertrieb.

Die Fotos mussten einfach gut werden. Nein, gut war nie gut genug. Damit würde er sich niemals zufriedengeben. Die Fotos, die ihm vorschwebten, mussten spektakulär sein; sie mussten Topspin haben. Bei über neunzig Millionen hochgeladenen Fotos auf Instagram – tagtäglich – war das nicht einfach. Heute glaubte jeder, der ein Smartphone halten konnte, er sei ein begnadeter Fotokünstler.

Jules Giraud würde ihnen zeigen, was einen richtigen Fotografen ausmachte.

Er suchte nicht den Vergleich mit Helmut Newton. Helmut Newton war einzigartig. Nein, darum ging es ihm nicht. Seinen Fotos in der Elle oder der französischen Vogue sollte man auf den ersten Blick ansehen, dass sie echte »Giraud-Arbeiten« waren. Er hatte sich mit der Zeit eine unverwechselbare fotografische Handschrift zugelegt. Eine Prise Glamour, eine kleine Extravaganz, die er und auch nur er besaß.

Jules warf seine Zigarette achtlos zu Boden. Durch die Blätter der Palmen sah er die Kuppel des Hôtel Negresco schimmern. Auf der Promenade des Anglais, die sich sieben Kilometer am Meer entlangschlängelte, tobte der Verkehr, aber das hörte man im hinteren Teil des Parks nicht.

Im Innern des Musée wurden seine Models vor den Augen von Napoleon III. geschminkt und für ihren großen Auftritt zurechtgemacht. Alles musste stimmen; alles musste perfekt sein.

Jules konnte mit Fug und Recht behaupten, dass es seine Models waren. Seine Fotos hatten sie erst zu dem gemacht, was sie jetzt waren: in der ganzen Nation bekannte Gesichter. Er hatte sie auf die Titelbilder aller großen Modezeitschriften gebracht. Er wusste genau, wie er sie inszenieren musste, wie ihre schönsten Seiten am besten zur Geltung kamen.

Wer für ihn und mit ihm nicht knallhart arbeitete, brauchte erst gar nicht zum Shooting erscheinen. Wer aber genauso wie Jules bereit war, alles zu geben, der konnte es mit ihm weit bringen.

Die Mädchen hatten genau die richtige Einstellung; sie brannten für den Job. Sie liebten es, ihre Körper vor der Kamera zu präsentieren und zu posieren. Das war unbedingt erforderlich. Jules’ Kamera war unbestechlich. Sie brachte sofort jede Unsicherheit und jede Verkrampfung zum Vorschein. Seine Fotos sollten natürlich sein. Doch die Mädchen bewegten sich untereinander so unbekümmert und cool, als wäre die Kamera gar nicht anwesend.

Stefanie hatte glänzende schwarze Haare bis zu den Hüften und ein Lächeln, das jedes Herz zum Schmelzen brachte. Sie musste sich nicht einmal darum bemühen. Sie lächelte auf diese unnachahmliche Art und Weise, dass es ihr Geheimnis blieb, wie sie das schaffte.

Marie aus Cannes war der starke Kontrast zu ihr: eine blonde verwunschene Fee, die jeden mit einem einzigen Augenaufschlag verzaubern konnte. Gisèle aus dem Senegal hatte rehbraune Augen und eine mokkafarbene Haut.

Jules’ aufregendstes Model war Anna aus Nizza. Er hatte noch nie ein Mädchen erlebt, mit dem vor der Kamera eine derart große Verwandlung vor sich ging wie mit ihr. Zunächst blieb sie kühl und reserviert. Doch nachdem ihr Make-up aufgetragen war, wurde Anna zu einer anderen Frau. Reifer. Weiblicher. Erotischer. Anna war erst achtzehn Jahre alt. Sie wurde selbstsicherer und emotionaler. Auf ihrem Gesicht erschienen all die Gefühle, die sie für gewöhnlich unter Kontrolle behielt.

Durch das Fenster sah Jules den Models im Inneren des Musée Masséna zu. Annas Lippen wurden von der Make-up-Artistin tiefrot geschminkt – im Kontrast zu ihrem hellen Teint.

Annas wundervolles ovales Gesicht zog ihn magisch an, ließ ihn nicht wieder los. Jules hatte diese Faszination, die von ihr ausging, noch bei keinem anderen Model erlebt. In ihrem Ausdruck lag etwas Magisches. Millionen Leserinnen würden diesen magischen Moment mit ihm teilen. Es war nicht schwer, Anna eine große Karriere vorauszusagen. Sie würde später mal mit allen großen Fotografen zusammenarbeiten.

Aber noch war sie sein. Er hatte sie in der Fußgängerzone von Nizza entdeckt und angesprochen. Es kostete Jules erhebliche Überzeugungsarbeit, sie dafür zu gewinnen, vor einer Kamera zu posieren. Anna hatte zuerst entschieden abgelehnt, und er hatte ihr versprochen, zunächst nur Probefotos zu machen. Er wollte ihr zeigen, wie schön sie war. Für Jules waren die Fotos atemberaubend – für Anna ganz okay. Trotzdem gab Anna seinem unermüdlichen Werben um sie schließlich irgendwann nach.

Patrick Laval kam zu ihm herübergelaufen. Er schaffte das Equipment aus dem Auto heran, das auf der Vorderseite zum Eingang parkte. Patrick war sein Assistent. Auf ihn konnte er sich voll und ganz verlassen. Jeder Mann sollte einen Adlatus wie Patrick und eine Muse wie Anna haben, fand Jules.

»Wo willst du die Reflektoren haben?«, fragte Patrick.

»Stell sie erst einmal links und rechts vor den Säulen hin.«

Vor dem Museum herrschte gleißendes Licht. Die Terrasse selbst lag in den Morgenstunden überwiegend im Schatten. Jules wollte sich nicht vom Tageslicht abhängig machen. Viel zu unsicher. Mit einem Belichtungsmesser führte er eine erste Messung durch.

Er nickte Patrick zu. Sie verstanden sich auch ohne viele Worte. Sie wussten genau, was sie voneinander erwarteten. Ein seit vielen Shootings eingespieltes Team. Jules war zweifellos der eloquentere der beiden, ein Mann, der sich gern in den Vordergrund spielte, auch gern mit einem Model an seiner Seite.

Er ging ins Museum und trat zu seinen Models. Das Styling war so gut wie abgeschlossen. Es war genauso, wie er es haben wollte. Seine Spannung stieg wieder. Es konnte gleich losgehen.

»Alle mal herhören, Ladys!« Jules baute sich hinter ihnen auf – er war ein hochgewachsener, athletischer Mann. Er musste nicht erst um ihre Aufmerksamkeit buhlen. »Das wird ein sehr klassisches Shooting werden. Old fashioned, mit einigen kleinen Überraschungen und Stilbrüchen.«

Jules Giraud freute sich diebisch über seinen Coup. So hatte er es mit dem Art Director besprochen, und er hatte sich einige ausgefallene Bildkompositionen einfallen lassen. In den Spiegeln las er die Mimik der Models. Zustimmendes Nicken. Sie wussten, worauf es ankam; sie wussten, was von ihnen erwartet wurde, wie er sie haben wollte.

Nur Anna blieb ungerührt. Natürlich. Das sah ihr wieder einmal ähnlich. Jules konnte nichts in ihrem Gesicht lesen. Vielleicht sollte er es auch nicht. Er wurde einfach nicht schlau aus ihr. Das musste er auch nicht. Die Hauptsache war, dass sie einen großartigen Job machte.

Die Models liefen auf die Terrasse hinaus. Jules wies ihnen ihre Plätze zu, wo sie sich positionieren sollten. Patrick hatte links und rechts Reflektoren aufgebaut sowie zwei Scheinwerfer. Sogar eine Trittleiter stand bereit, falls er aus einer erhöhten Position Aufnahmen machen wollte.

Jules befand sich in seinem Element. Wenn er fotografierte, war er ganz bei sich selbst. Seinen Models wurden riesige geschwungene Hüte aufgesetzt, so wie beim Pferderennen in Ascot. Sie warfen Schatten auf ihre Gesichter.

»Ja. Genau so. Bleibt so!«, rief Jules ihnen begeistert zu. »So ist es perfekt.«

Klick, klick! Dann noch einmal: Klick, klick, klick!

Er schoss Salven von Fotos aus unterschiedlichen Blickwinkeln; mal aus der Totalen, dann Großaufnahmen.

»Senkt den Kopf zu Boden!«, wies er sie an. »Ja, so. Genau so. Jetzt hebt den Kopf! Nicht zu schnell. Ja, ja. Die Augen weit aufreißen. Ja. Super.«

Stefanie strahlte ihn mit ihren riesigen, glühenden Augen direkt an. Unter dem weißen Hut kamen ihre schwarzen Haare besonders gut zur Geltung.

»Anna, bitte!«, ermahnte Jules sie. »Dein Blick schweift ab. Du sollst direkt in die Kamera schauen«, forderte er sie auf.

Mit zwei Fingern deutete er auf die Linse – in Wahrheit meinte er seine Augen. Oder konnte sie ihn nicht direkt anschauen?

»Was?«, fragte sie aggressiv zurück.

Jules gab keine Antwort. Er wollte vor den anderen Mädchen keinen Streit austragen. Die Atmosphäre zwischen Anna und ihm war schon spannungsgeladen genug.

War es ein Fehler gewesen, Anna zu dem Shooting einzuladen, dachte er.

In dem Moment schaute sie direkt in die Kamera, zögerlich, widerstrebend, aber mit großer Anmut und großem Liebreiz. Anna berührte ihn zutiefst, sie ging ihm unter die Haut. Sie brachte in ihm etwas zum Schwingen, was er sich nicht erklären konnte. Wusste sie, wie unglaublich schön sie war, wie sehr sie Männerherzen höherschlagen ließ?

Auf der Stelle schoss Jules ein Dutzend Fotos von ihr.

»Sehr gut, Anna. Wunderbar. Formidable«, lobte er sie. Es widerstrebte ihm, Anna vor den anderen Models hervorzuheben. Die Mädchen könnten eifersüchtig auf sie werden. »Okay. Du kannst dir eine Auszeit nehmen. Ich mach inzwischen mit den anderen weiter.«

Die Outfits wurden gewechselt. Die großen Hüte verschwanden.

Stefanie, Marie und Gisèle posierten in bleistiftengen Röcken. Große Sonnenbrillen kamen zum Vorschein. Seine Models setzten sie aber nicht auf; sie spielten damit. Sie hielten die Brillen lässig in der Hand. Es sah vollkommen unbeschwert und losgelöst von irgendwelchen Alltagssorgen aus. Die Mädchen genossen ihr Leben. Genau so hatte er sich die Fotos vorgestellt.

Jules schoss eine Serie. Es war an der Zeit, dass er Anna wieder in Szene setzte. Anna gab den Bildern eine gewisse Schwere und auch Tiefe.

Jules schaute sich nach ihr um. Keine Anna zu entdecken. »Wo ist Anna?«, rief er. Er schaute ins Innere des Musée Masséna, bemerkte einen Aufseher, der ihn beim Fotografieren beobachtete. Die betörend schönen Models machten ihn wohl an. Nur seine Anna war nirgends zu entdecken.

Unruhe kam auf. Jules’ Gesichtszüge verhärteten sich.

»Schafft mir Anna herbei!«, befahl er schroff.

Er hatte endgültig genug von ihr. Anna glaubte wohl, sich alles erlauben zu dürfen. Für diese Eigenmächtigkeit würde sie sich erklären müssen. Damit kam sie nicht durch.

Die Mädchen schauten sich an, warfen sich fragende Blicke zu und zuckten mit den Schultern. Alle schüttelten sie die Köpfe. Niemand wusste, wo Anna abgeblieben war. Sie mussten nun alle auf sie warten.

»Ich glaube, sie ist zur Toilette gegangen«, warf Louise, die Visagistin, ein. Es klang so verschüchtert, als wüsste sie es selbst nicht genau.

»Dann such sie!«, forderte Jules sie auf. »Sie soll hierherkommen. Jetzt – und nicht erst in fünf Stunden. Sie ist nicht Marilyn Monroe, auch wenn sie sich so fühlen mag.«

Jules verabscheute es, wenn sein Shooting unterbrochen wurde. Er war gerade so schön im Flow gewesen. Es herrschte genau die richtige Atmosphäre in dieser mediterranen Stadt, die er mit seinen Fotos einfangen wollte. Das Publikum liebte das.

Louise machte sich durch die Gänge auf die Suche nach Anna. Am liebsten wäre es ihr, Anna würde gleich in ihrem atemberaubenden Outfit den Korridor entlangkommen. Warum hatte sie nichts gesagt? Jules konnte fuchsteufelswild werden, wenn es nicht weiterging. Das wusste Anna auch. Wollte sie ihn provozieren? Wollte sie, dass er vor allen Anwesenden explodierte?

Louise lief rasend schnell den Saal entlang, schaute sich nach allen Seiten hin um, sah direkt auf das Gemälde und das strenge Gesicht Napoleons III., als könnte er ihr verraten, wo Anna abgeblieben war. Sie warf in jeden herrschaftlichen Saal einen Blick.

Hatte Anna sich versteckt? Louise musste Anna finden, so schnell wie möglich. Sie selbst musste sich erst orientieren, wo sich die Toiletten befanden. Sie wollte verhindern, dass es zum Eklat kam. Anna war ein so eigenwilliges Mädchen. Louise wusste auch nicht, was in ihrem Kopf genau vor sich ging.

Aber darum ging es nicht. Es war jetzt nicht die Zeit, nach Erklärungen zu suchen.

Louise trieb sich zu größter Eile an. Der Kopf rauschte ihr von all den Sinneseindrücken, den Marmorsäulen, den Gemälden, den dicken Stores an den Fenstern.

Zum Glück entdeckte sie am Ende des Gangs eine Marmortreppe. Da musste es sein. Sie schöpfte wieder Hoffnung. Ohne lange zu überlegen, jagte sie die Treppe hoch, nahm zwei, drei Stufen auf einmal. Dass sie Anna nicht auf Anhieb fand, beunruhigte sie weit mehr, als sie sich eingestehen wollte.

Auf der ersten Etage mussten die Toiletten sein. Louise würde Anna aufspüren und auf der Stelle zum Shooting zurückbringen.

Aber auch dort fand sie die Toiletten nicht.

Louise wurde schwarz vor Augen von der geschwungenen Treppe. Sie hetzte durch einen Saal, fand die Fortsetzung der Treppe bis ins oberste Stockwerk. Ein Labyrinth war das. Louise bemerkte, dass sie nicht weiterkam. Eine Sackgasse. In einem abgedunkelten Raum gab es eine Ausstellung über Jazz in Nizza. Endlich stieß sie auf eine Aufseherin.

»Nein, die Toiletten befinden sich im Untergeschoss. Sie können …«

Aber das hörte Louise schon nicht mehr. In Windeseile rannte sie den Weg zurück. Ein englisches Paar rempelte sie an. Louise wusste selbst nicht genau, was sie antrieb. Eine schreckliche Vorahnung beschlich sie.

Die Visagistin erntete missbilligende Blicke des Aufsichtspersonals. Das war kein Rennparcours. Schon schwenkte sie links auf den Empfang und den Ausgang zu.

Verdeckt und schlecht einsehbar fand sie einen Gang gegenüber der Rezeption mit einem deutlichen Hinweisschild: Toiletten. Die Hetzjagd durch das Treppenhaus hätte sie sich sparen können. Louise schlitterte über den glatten Boden. Beinahe wäre sie ausgerutscht.

Plötzlich stand sie oben an der Treppe, schaute die Stufen hinunter. Was sie sah, ließ sie laut aufschreien.

»Anna!«, stieß sie hervor und dann noch einmal: »Anna!«

Ihr Schrei hallte vom Kellergeschoss durch die ganze Villa.

Keine Antwort. Keine Reaktion.

Am unteren Ende der Treppe lag ein in sich gekrümmter Körper, zweifellos Anna. Der enge Rock war zerrissen. Die Beine merkwürdig gebogen.

Louise stürzte die Treppe hinunter. Die Stufen waren feucht, nein, nass. Rutschig.

Die Visagistin beugte sich zu Anna, kam ihrem Gesicht sehr nahe. Wider besseres Wissen drehte Louise Annas Kopf zur Seite: »Anna, Anna, kannst du mich hören?«

Panik ergriff Louise. Aus einer weit auseinanderklaffenden Wunde über der rechten Augenbraue und auf dem Nasenrücken, sickerte Blut über die Fliesen. Louise tastete reflexartig nach Annas Halsschlagader.

Von ihrem entsetzlichen Schrei angelockt, tauchten die Dame vom Empfang und ein Aufseher auf. Die Frau wollte sie bereits zur Ordnung rufen. Im letzten Moment blieben ihr die Worte im Hals stecken.

»Rufen Sie einen Krankenwagen!«, schrie Louise. »Schnell!«

Auch Jules und all die anderen Models drängten sich an der Treppe.

»Was ist mit Anna?«, rief Jules besorgt. »Ist ihr etwas passiert?«

Louise richtete sich stumm wieder auf. Jegliches Licht in ihren Augen war erloschen; ihr Gesicht zur Maske erstarrt. Sie schaute zur Seite; sie konnte niemanden ansehen, auch Jules nicht, vor allem nicht Jules. Für ihn musste diese Nachricht wie ein Schock wirken. Louise’ Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte Annas Puls nicht mehr fühlen.

»Ich glaube, Anna ist tot!«, entgegnete sie zutiefst erschüttert. Louise wollte nicht, dass jemand im Augenblick des schieren Entsetzens sie ansah.

Von weit her hörten sie schon das Sirenengeheul stetig lauter und dröhnender werden.