6

Es gab aber keinen Beweis dafür, dass Anna Piat sich selbst die Treppe hinuntergestürzt hatte, dachte Bernard, als er die alten Zeitungen wieder verschnürt hatte und ins obere Stockwerk ging. Jedenfalls wollte er diese Möglichkeit nicht von vornherein ausschließen, so, wie Claire das tat.

War Marc Lambert in seiner Rage, in seinem Wunsch, sich an Anna zu rächen, so abgebrüht, sie die Treppe hinunterzustoßen? Befand Marc sich auf Aufnahmen der Überwachungskameras? Wurden von Anna Aufnahmen an ihrem Unfallort gemacht? Wahrscheinlich schon. Aber Bernard ging felsenfest davon aus, dass keiner seiner Ex-Kollegen die Festplatte der Überwachungskameras kontrolliert hatte. Wozu auch, wenn man von einem Unfall ausging.

Es war aber ein großer Unterschied, ob jemand auf einer Treppe ausrutschte oder mit starker Wucht gestoßen wurde. Anna war offenbar eine junge Frau mit vielen Problemen. Seine Tochter Isabelle hingegen war ein echter Glücksfall. Da hatte Bernard ausnahmsweise mal etwas Großes zustande gebracht, auf das er stolz sein konnte. Wenn er mit Anna Piat nicht weiterkam, würde er sich an Isabelle wenden, die ihm sicher auf die Sprünge helfen könnte, was in der Psyche einer Achtzehnjährigen so vor sich ging. Für Isabelle war das noch nicht so lange her. Sie war gerade erst neunundzwanzig Jahre alt.

»Und konntest du Claire helfen?«, fragte Danielle beiläufig, als sie Bernard in der Küche antraf.

»Kann ich noch nicht sagen. Ich stehe noch ganz am Anfang.«

»Aber es ist mehr dran, als du gedacht hattest?«

»Weiß ich nicht. Wird sich noch zeigen.«

Bernard konnte ausgesprochen geheimnisvoll sein, wenn er an einem Fall arbeitete. Was sollte er Danielle auch sagen? Er hatte nichts Konkretes in der Hand. Alles bloß Spekulationen. Marc Lambert war wenigstens so nett, einen Eintrag in den Pages Blanches zu hinterlassen – und seine Adresse, wo doch heute jeder ein Smartphone besaß: Rue Benoît Bunico in der Altstadt von Nizza.

Die Putzfrau der Reinigungsfirma wurde einem Verhör unterzogen. Auch wenn sie es vehement bestritt, vergessen zu haben, das Hinweisschild aufzustellen, ja, nicht einmal bei der Treppe im Erdgeschoss gewesen zu sein, sprachen die Indizien gegen sie. Ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung mit Todesfolge wurde eingeleitet. Wenn Bernard Bonnot keine neuen Beweise vorlegen konnte, dass sich auch Marc Lambert zu dem Zeitpunkt in dem Museum aufgehalten hatte, dann war’s das. Annas Leiche würde in den nächsten Tagen freigegeben und auf dem Cimetière du Château beerdigt werden.

Bernard Bonnot schaute sich Annas Fotos im Internet an. Er wollte sich von ihr ein Bild machen. Durch ihren frühen Tod wurde sie zu einer kleinen Berühmtheit. Es war schon jetzt klar, dass die nächste Ausgabe der Elle reißenden Absatz finden würde. Bernard entdeckte sogar ein Foto von Anna in Spitzenunterwäsche in einem hauchdünnen Nichts in schwarzer Seide. Der Slip und ein zusammengebundenes Oberteil gaben mehr von ihrem Körper preis, als dass sie ihn verhüllten. Bernard konnte das Foto kaum mit all dem in Einklang bringen, was Claire ihm über Anna verraten hatte.

Da schaute eine hinreißend schöne Frau in die Kamera: selbstbewusst. Es machte den Anschein, als gäbe es nichts Schöneres für sie, als sich und ihren Körper zu präsentieren. Den rechten Arm stützte sie auf eine verzierte Kommode, den linken Arm hatte sie hinter dem Kopf verschränkt. Ihre schwarzen Locken fielen betörend schön wie ein Wasserfall.

Das Erstaunlichste an dem Foto war jedoch: Es gab nicht die geringsten Anzeichen, dass Anna es verabscheute, fotografiert zu werden. Im Gegenteil. Sie schaute offen in die Kamera, richtete ihren Blick direkt auf den Betrachter. Auf ihren vollen, sinnlichen Lippen lag ein feinsinniges Lächeln. Nicht unbedingt selbstironisch, aber zärtlich. Liebevoll. Große braune Augen. Bernard konnte nicht glauben, dass das die Anna sein sollte, die Claire ihm beschrieben hatte.

 

Auf dem Weg zu Marc Lambert wich Bernard geschickt den Menschentrauben am Cours Saleya aus, die vor den Obst- und Gemüseständen anstanden. Da war kaum ein Durchkommen möglich. Nur ein schmaler Streifen zwischen Ständen und den Stühlen der Restaurants wurde freigelassen. Er fand eine Lücke und überholte die langsam flanierenden Touristen. Wenn er ein Ziel vor Augen hatte, ließ Bernard sich von nichts und niemandem aufhalten. So hatte er es in seiner aktiven Zeit als Commissaire auch gehalten. Wenn er einen Fall auf den Tisch bekam, brannte er vor Ehrgeiz, ihn zu lösen. Dahin wollte er auf keinen Fall zurück. Es fühlte sich aber gut an, ein Ziel vor Augen zu haben, auf das er sich konzentrierte.

Der Duft von Rosmarin, Basilikum und kleinen Zitronenbäumchen wehte ihm in die Nase. Er hatte aber keine Zeit, diese mediterrane Pracht auf sich wirken zu lassen. Außerdem kannte er das Markttreiben zur Genüge und war daran gewöhnt. Bei Theresa wurde Socca in der riesigen Pfanne noch heiß in Portionen geteilt und zum Verkauf angeboten. Socca war eine Spezialität der Region und wurde aus Kichererbsenmehl hergestellt. Bernard achtete nicht darauf und ließ sie links liegen. Er war froh darüber, die von Menschen wimmelnde Geschäftigkeit hinter sich zu lassen.

In der Rue Droite – einer der ältesten Straßen in der Altstadt – ging es ruhiger zu. Trotz der intensiven Septembersonne lag die Gasse überwiegend im Schatten. Nun drehte Bernard erst richtig auf. Er hatte freie Bahn. Er fürchtete sich auch ein wenig davor, sein Ziel nicht zu erreichen.

Einige Geschäfte waren geschlossen. Gitter versperrten den Eingang. Es gab Galerien, die ihre Kunst anboten. In der Straße herrschte ein prächtiges Farbenspiel: grüne Fensterläden und ockerfarbene Fassaden. Nach rechts führten Gassen steil nach oben zum ehemaligen Schlosshügel. Er bog in die Rue Rossetti ein. Vor einem Haus, das von Bars und Restaurants eingerahmt war, ließ er es sich nicht nehmen, kurz stehen zu bleiben und hinaufzuschauen. Vor gut zwanzig Jahren hatte er hier einmal gewohnt. Er hatte in der Stadt Spuren hinterlassen, und die Stadt Spuren in seiner Erinnerung.

Bernard lief ein Stück zurück in die Benoît Bunico. Selbst für die Altstadt war die Straße eng. Hier kam kein Auto durch. Er fand das Haus umgeben von einem Restaurant und einer Boutique. Die Tür war ein Tor mit spitzen Gittern. Bernard spähte durch einen Spalt in das Marmortreppenhaus. Niemand zu sehen. Er schaute auf die Klingelleiste mit den Namen auf knallrotem Untergrund. Da fand er ihn: Marc Lambert. Er wollte dem Jungen auf den Zahn fühlen, was er zu dem überraschenden Tod von Anna Piat zu sagen hatte. Hatte er seine zerstörerische Rage genauso wenig unter Kontrolle gehabt wie Bertrand Cantat?

Bernard drückte auf den Klingelknopf. Noch einmal. Keine Reaktion. Niemand öffnete ihm. Um sicherzugehen, drückte Bernard noch ein drittes Mal auf die Klingel.

In dem Moment stürzte ein Mann in schwarzer Jogginghose und blauen Laufschuhen die Treppe hinunter. Kurz starrte er auf das Tor – und den Mann davor. Dann machte er plötzlich auf dem Absatz kehrt und rannte durch den gegenüberliegenden Ausgang auf den Place Rossetti hinaus, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Durch Bernard ging ein gewaltiger Ruck. Starke Reflexe. Schneller Antritt. Trainiert als Jogger. Er musste auf die Rue Rossetti zurück, musste um den Häuserblock herumlaufen. Dabei stieß er beinahe mit einem älteren Mann zusammen und konnte ihm gerade noch rechtzeitig ausweichen. Marc Lambert hatte bereits einen gewaltigen Vorsprung. Es konnte keinen Zweifel geben, dass er es war, der vor ihm davonlief.

Am Place Rossetti lief Bernard durch eine schmale Gasse neben einer Pizzeria. Vor ihm kreuzte ein halb nackter Brasilianer seinen Weg, der mit seinem Tambourin die Touristen abkassieren wollte. Um ein Haar wäre Bernard an einer Stufe bei der Fontäne abgestürzt. Er sah gerade noch, wie Marc nach rechts in einer Gasse verschwand. Bernard beschleunigte seine Schritte, soweit das in den engen Gassen in der Altstadt überhaupt möglich war. Ein Mann schob umständlich sein Motorrad zurück. Er hätte ihm fast das Hinterrad vor das Schienbein geknallt.

In jede Gasse, in jedes Restaurant warf er einen flüchtigen Blick. Er wurde genauso draufgängerisch, wie er früher immer gewesen war. Der junge Schnösel brauchte nicht zu denken, dass er ihn abhängen konnte, nur weil er dreißig Jahre jünger war. Der Wettlauf durch die Gassen mobilisierte seinen Ehrgeiz und seine letzten Kraftreserven.

Vom Place Vieille schlug Marc einen Schlenker nach rechts. Bernard blieb ihm dicht auf den Fersen. Der Abstand schmolz. Er bekam Oberwasser. Marc nun etwa zehn, fünfzehn Meter vor ihm. Er lief, als ginge es um sein Leben.

»Bleib stehen!«, brüllte Bernard ihm hinterher. »Ich will mit dir reden.«

Marc Lambert blieb nicht stehen, nicht eine Sekunde schien er daran zu denken. Die Straße weitete sich. Neben dem Gebäude des Conseil Général Des Alpes-Maritimes versperrte eine Touristengruppe Bernard den Weg. Von einem Moment zum anderen implodierte er, seine Kräfte verließen ihn – schlagartig. Marc lief uneinholbar davon.

Bernard stützte seine Hände auf seine Oberschenkel ab, keuchte, strich sich sein verschwitztes Haar zurück. Sein Herz hämmerte mit unglaublicher Wucht. Ihm wurde schwarz vor Augen, wie damals, als der Weg ihm bedrohlich entgegenkam und er vom Fahrrad stürzte. Er hielt sich die Stirn und hoffte darauf, dass seine Schwächephase verging.

»Hinter wem bist du denn her?« Bernard schaute direkt in das lächelnde Gesicht von Philippe Plupart. »Oder ist der Teufel hinter dir her? Dann musst du noch ein bisschen trainieren.«