Bernard spürte gleich, als er die Tür zur Terrasse öffnete, dass es ein strahlend heller Tag werden würde. Trotz aller Unruhe war es ihm gelungen, tief zu schlafen. Glitzerndes Licht breitete sich über das Meer bis zum Horizont aus: ein tiefes, sattes Blau. Ein sinnenfrohes Spiel der Farben, das es nur in Nizza gab. Dafür liebte Bernard Nizza. Er würde diese Stadt für keinen anderen Ort auf der Welt eintauschen wollen. Er war glücklich darüber, dass es ihm gelungen war, Danielle hierherzulocken.
Kurz vor zehn Uhr stand Bernard am Stehpult vor dem Eingang des Hotels Negresco. Auf einem Podest reckte die Skulptur von Niki de Saint Phalle ihre Posaune empor. In der Rue de Rivoli parkten die Luxusschlitten der Gäste: ein Aston Martin Vantage V12, ein Bentley Mulsanne Speed, ein Ferrari FF, ein Lamborghini Huracán und ein Maserati GranTurismo Convertible. Von drei Rolls-Royce-Limousinen gar nicht zu reden.
Das Musée Masséna befand sich direkt gegenüber dem Hotel. Dort war Anna Piat zu Tode gestürzt.
Bernard lächelte Cyril zu, dem groß gewachsenen schwarzen Portier des Negresco mit Dreitagebart und einem unverschämt gut gelaunten Lächeln. Jedes Mal wenn er Cyril sah, bekam auch er gute Laune. Cyril trug die typische Uniform der Portiers des Negresco – blaues Sakko, rote Pluderhosen, blaue Seidenstrümpfe – mit einer charmant zur Schau gestellten Lässigkeit.
Er gab Bernard mit einer Kopfbewegung einen Wink. »Sie sitzen auf der Terrasse.«
»Danke!« Bernard war ihm dankbar für den Tipp. Er hatte tatsächlich noch ein paar Freunde in der Stadt, die ihm weiterhalfen und ihn nicht auflaufen ließen, wie der hochnäsige Plupart. Cyril hatte ihn gleich angerufen, als Jules Giraud und seine Models vor zwanzig Minuten zum Frühstück ins Negresco gekommen waren.
Bernard musste es einfach versuchen, mit dem Fotografen und den Models zu sprechen, auch wenn ihm klar war, dass er sie in ihrer Trauer störte. Es führte aber kein Weg daran vorbei. Jede Ermittlung war unzureichend und zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht mit den Beteiligten darüber sprach, wie sie das Geschehen erlebt hatten. Und was das Wichtigste war: was ihnen möglicherweise aufgefallen war.
Bernard ging eilig durch die Hotelhalle, wandte sich nach rechts, lief an den mit Gemälden überladenen Sälen entlang. In der Brasserie La Rotonde sah er, dass drinnen und draußen das Frühstück serviert wurde. Kellner liefen eilig umher, tischten Berge von Köstlichkeiten auf. Er konnte sich gar nicht daran sattsehen. Mindestens fünfzig verschiedene Sorten Käse, Salate, Bayonner Schinken, Cervelas de Lyon, Coppa di Corsica, diverse Fischspezialitäten und auch Champagner standen bereit. Bernard bekam schon wieder Hunger, obwohl er bereits gefrühstückt hatte.
Er trat auf die lichtdurchflutete Terrasse hinaus. Es war für ihn nicht schwer, unter all den Gästen die Gesuchten auszumachen: Der Fotograf und seine Mädchen saßen gemeinsam unter einem großen Sonnensegel an einem Tisch, Gisèle, Marie und Stefanie. Hinter Jules hockte ein weiterer Mann, dessen Name er nicht wusste, der aber auf einer der Fotografien im Nice-Matin abgebildet war. Bernard hatte keine Ahnung, wer das war. Egal, nun stand erst einmal seine heikelste Aufgabe an. Sie erforderte Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Die Models kannte er ebenfalls aus der Zeitung, hatte sich ihre Namen gemerkt.
Bernard Bonnot ging direkt auf die Gruppe zu. Marie hatte ihre blonden Haare hochgesteckt und entblößte ihren schönen Nacken. Über ihre schmalen Schultern spannten sich die Spaghetti-Träger ihres schwarzen Tops. Ihr Gesicht war aschfahl und wirkte schmaler, als es ohnehin schon war. Die Augen lagen in tiefen Höhlen, als hätte sie stundenlang geweint. Sie schaute Bernard nicht einmal an. Sie schaute einfach nur ins Nichts.
Auch Stefanie wirkte abwesend. Ein Schatten ihrer selbst. Nur ihre leere Hülle saß am Tisch. Ein Croissant war kaum angebissen, die Kaffeetassen halb ausgetrunken. Bernard bewunderte ihre seidig glänzenden Haare, die ihr bis zum Po gingen. Ihr strahlendes Lächeln war jedoch erloschen.
Schon beim Näherkommen spürte Bernard die Traurigkeit, die beklemmende Melancholie, die von dem Tisch ausging. Es war ein strahlend schöner Tag – doch bei ihnen herrschte tiefste Nacht. Kaum einer sprach ein Wort. Auch nach wenigen Tagen konnten sie anscheinend das schier Unfassbare immer noch nicht begreifen – und schon gar nicht in Worte fassen. Anna Piat tot. Auf absurde Weise die Treppe hinuntergestürzt. Gerade eben war sie noch mitten unter ihnen gewesen, aktiv und lebendig – und auf einmal sollte Anna nicht mehr sein?
Es fiel Bernard nicht schwer, sich in die Gemütsverfassung der Models einzufühlen. Dafür war ihre Trauer mit Händen zu greifen. Annas Tod war so sinnlos und absurd. Die kleine Gruppe stand noch immer unter Schock. Annas Tod lähmte ihre Gefühle, machte sie hilflos und verzweifelt, da sie nichts gegen ihren Verlust tun konnten. Sie vermissten Anna. Alle.
Bernard räusperte sich. »Guten Morgen …«
Jules nahm seine Sonnenbrille ab und schaute ihn fragend an.
Bernard stand ein wenig verlegen da, als wüsste er nicht, was er sagen sollte; wichtig war aber, im ersten Moment die richtigen und angemessenen Worte zu wählen. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen zu dem tragischen Unfall von Anna Piat.«
»Danke!«
Es war Jules Giraud anzumerken, dass er den Eindringling schnell wieder loswerden wollte.
Bernard blickte wiederholt zu Stefanie und den anderen Models. Ihm wäre es lieber gewesen, mit ihnen allein zu sprechen. Sie würden wahrscheinlich bereitwilliger über Anna reden, wer sie war, was sie umgetrieben hat. Das Wichtigste überhaupt: Trug Anna sich tatsächlich mit Selbstmordabsichten? Und hatte jemand sie zusammen mit Marc Lambert gesehen?
Jules abschätzender Blick legte sich auch auf Bernards Stimmung. Es machte ihn gehemmter, als ihm lieb war. »Es tut mir leid, Sie beim Frühstück zu stören. Es haben sich da einige Fragen zu Anna Piat ergeben«, erklärte Bernard.
»Was für Fragen?«, fuhr Giraud ihn an. Er richtete sich in seinem Stuhl auf. »Wer sind Sie überhaupt?«, fragte er gleich gereizt. »Kommen Sie von der Presse?«
»Oh, entschuldigen Sie, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Bernard Bonnot. Eine Freundin von mir hat mich kontaktet. Sie hat Bedenken, dass sich bei Annas Tod wirklich alles so zugetragen hat, wie es die Polizei darstellt. Annas Freund Marc ist völlig aufgelöst und verzweifelt zu ihr gekommen, auf der Suche nach Anna.«
»Ja und?«, fragte der Fotograf desinteressiert.
»Anna hatte sich überraschend von ihm getrennt, und Marc wollte sie zurückhaben. Er ertrug es nicht, von ihr abgewiesen zu werden. Er ist vom Typ her ein wenig wie Bertrand Cantat. Verstehen Sie, was ich meine? Als ich ihn gestern in seiner Wohnung aufsuchte, ist er panisch vor mir geflüchtet …«
Die Models tauschten überraschte, verstörende Blicke aus.
»Anna hat sich von ihm getrennt?«, fragte Stefanie. »Das glaube ich nicht. Sie waren doch unzertrennlich. Jeden Augenblick schaute Anna auf ihr Handy, ob sie nicht irgendwelche Nachrichten von ihm bekommen hatte. Mehr weiß ich nicht über ihn. Anna hat nicht viel über ihr Privatleben erzählt.«
»Sie haben auch keine Ahnung, warum Marc verschwunden ist?«, setzte Bernard nach.
»Sagen Sie mal«, entgegnete Jules Giraud aufgebracht, »merken Sie nicht, dass Sie stören? Sie platzen in unsere Gedenkstunde für Anna hinein, in der wir uns an sie erinnern wollen.«
»Ich werde meine Unterbrechung kurzhalten. Versprochen.«
»Es interessiert uns nicht, dass Anna sich von ihrem Freund getrennt hat. Was haben wir damit zu tun? Ich habe jedenfalls keine Lust, Ihre impertinenten Fragen zu beantworten. Wir ringen mit uns selbst. Wir können nicht begreifen, dass Anna nicht länger unter uns ist. Wir möchten, dass unser Schmerz endlich aufhört. Doch das interessiert Sie offenbar nicht im Geringsten.«
Ein Kellner drehte sich zu dem Tisch um, da Jules am Ende laut wurde, griff aber nicht ein.
»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Selbstverständlich verstehe ich Ihre Trauer und Ihren Schmerz über den Verlust eines Menschen.« Bernard versuchte, die aufgeladene Stimmung zu entspannen. Der Mann sollte ihm gewogen bleiben und nicht gleich auf Abwehr schalten, bevor das Gespräch überhaupt begonnen hatte. »Hatte Anna sich in der letzten Zeit verändert?«, versuchte es Bernard erneut mit einer weniger verfänglichen Frage. »Es heißt, sie wollte sich nicht gern fotografieren lassen.«
Gisèle sagte überraschend: »Jules, blaff den Mann nicht an. Du weißt ja nicht, was er sagen will. Es stimmt doch, dass Anna nicht beim Shooting mitmachen wollte. Du hast sie dazu überredet, weil du sie unbedingt dabeihaben wolltest.«
Bernard war dem Mädchen sehr dankbar für ihr Einschreiten. »Was wissen Sie über Anna? Hatten Sie den Eindruck, dass Anna nicht hinter dem stand, was sie tat?«
»Worauf wollen Sie mit Ihren Fragen eigentlich hinaus?«, mischte sich Jules wieder ein.
Die Mädchen wurden nachdenklicher, als sie ohnehin schon waren. Bernards Fragen trafen offenbar einen wunden Punkt.
»Na, komisch war Anna schon«, bestätigte Gisèle. »Komm schon, Jules, das wirst du bestätigen können!«
»Ja, Anna soll sich hin und wieder seltsam verhalten haben.«
»Was meinen Sie mit seltsam?«, hakte Bernard nach. »Können Sie das näher beschreiben?«
Bernard schaute in die Gesichter der jungen Frauen. »Ich weiß, das ist alles nicht leicht für Sie. Bitte versuchen Sie es wenigstens! Können Sie sich an ein Ereignis erinnern, das charakteristisch für Annas Verfassung gewesen ist? Hatte sie das Gefühl, ihr Leben würde ihr entgleiten?«
Bernard sah den Models an, dass sie ernsthaft über seine Frage nachdachten.
»Nun ja, Anna war gewiss kein einfacher Mensch«, antwortete Gisèle.
Jules Giraud brauste wieder auf. »Warum wollen Sie das alles so genau wissen? Wenn Sie nicht von der Presse sind, dann von der Police?«
»Jetzt halten Sie doch mal endlich den Mund. Lassen Sie Mademoiselle aussprechen und einen Gedanken zu Ende formulieren. Bitte!«, forderte Bernard den Fotografen auf. Manchmal konnte der Ex-Commissaire sich nicht zurückhalten, dann musste Bernard sagen, was er dachte.
Er hatte sich Jules Giraud gerade zum Feind gemacht; bei der dunkelhäutigen Schönheit hatte er aber einen Stein im Brett.
»Ja, es stimmt schon, Anna hatte ein Problem mit ihrem Aussehen. Mir kam sie immer wie ein Mädchen vor, das im falschen Körper steckt. Sie wollte im Grunde eine andere Frau sein. Nie klar ausgesprochen, aber als Frau spürt man so etwas. Ich hingegen liebe es, fotografiert zu werden.« Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über Gisèles Gesicht. »Nicht so Anna. Jules musste sie dazu drängen, sonst hätte sie niemals an dem Shooting teilgenommen. Für dich gab es immer nur Anna«, wandte sich das Model direkt an den Fotografen. »Das wollte ich dir schon immer einmal sagen. Es ist gut, dass das jetzt zur Sprache kommt. Du hast Anna uns vorgezogen. Warum? Das habe ich nie verstanden. Sind wir dir etwa nicht gut genug?«
Aufmerksam registrierte Bernard, dass durch die Gruppe ein Riss ging. Ein schwelender Konflikt, der durch seine Fragen nun offen zutage trat.
»Das stimmt doch gar nicht, wie du das darstellst«, verwahrte sich Jules gegen ihren Vorwurf. »Ich habe mich immer bemüht, euch alle gleich zu behandeln. Das kannst du mir jetzt nicht vorwerfen.«
»Bemüht ja – Anna war aber deine Nummer eins«, versetzte Gisèle.
Bernards Blick flog hin und her. Das Gespräch nahm eine plötzliche, unvorhersehbare Wendung. Warum hatte der Fotograf Anne bevorzugt und protegiert? Bernard blickte den jungen Mann hinter Jules Giraud an, der sich bisher auffallend zurückgehalten, kein Wort gesagt, keine Miene verzogen hatte.
»Es reicht jetzt«, schaltete sich Jules energisch ein. »Ich möchte Sie bitten, uns in Ruhe zu lassen. Ich weiß nicht, was Ihre ganze Fragerei bringen soll.«
Bernard sah ihm an, dass er nahe dran war aufzuspringen, um seine Wut an ihm abzureagieren. »Das kann ich Ihnen genau sagen«, blieb Bernard standhaft. Er ließ sich auch nicht durch das aufbrausende Temperament des Fotografen beeindrucken. »Was ist, wenn es kein Unfall gewesen ist? Würden Sie dann auch versuchen, alle möglichen Fragen abzublocken?«
Bernard schaute in betretene Gesichter. Das war natürlich eine glatte Provokation. Aber sie zeigte Wirkung.
Jules Giraud hatte endgültig genug, sprang von seinem Sitz auf und baute sich vor Bernard auf, groß und athletisch. »Ich weiß nicht, was Sie antreibt. Ich weiß nicht, wer Sie dazu angestiftet hat, zusätzlich zu unserem Schmerz Ihre bohrenden Fragen zu stellen. Ja, Anna mag nicht einfach gewesen sein. Sie war aber ein äußerst talentiertes Model und ein liebenswerter Mensch. Wir alle haben sie angebetet. Sie hat wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wie sehr wir sie geliebt haben. Jeder von uns. Wenn Sie behaupten, es wäre kein Unfall gewesen, dann ist das eine gemeine Lüge.« Sein Blick schweifte ins Nichts, sammelte sich wieder.
Bernard wollte etwas erwidern, aber der Fotograf unterbrach ihn mit einer herrischen Geste.
»Es ist schon schwer genug, mit Annas Tod fertig zu werden. Aber es war ein Unfall! Ein schrecklicher Unfall. Damit müssen wir alle hier am Tisch leben. Dann sind Sie es also, der diese fiesen Gerüchte in die Welt setzt«, schleuderte Jules Bernard entgegen. Er griff nach der aktuellen Ausgabe des Nice-Matin und drückte sie Bernard gegen die Brust. »Hören Sie auf, solch niederträchtige Gerüchte zu verbreiten! So«, seine Stimme klang schneidend, »und jetzt verschwinden Sie! Wir wollen Sie hier nicht mehr sehen.«
Irritiert nahm Bernard die Zeitung. Er hatte keine Ahnung, wovon Giraud redete. Er schlug den Nice-Matin auf und starrte verblüfft und fassungslos auf die Schlagzeile: »Neue Gerüchte um den Tod von Anna Piat«, stand da in großen Lettern auf Seite eins. Bernard Bonnot wäre am liebsten im Boden versunken. Dieser Scheißkerl von Redakteur hatte ihn aufs Kreuz gelegt. Jede Unterhaltung, jedes Gespräch mit Jules Giraud war ab sofort vermintes Gelände. »Sie wissen ja, wie die Presse heute arbeitet: verbreiten nur Fake News.«
»So, Fake News nennen Sie das«, schäumte Jules vor Erregung. Er stand erneut kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »So hören Sie sich aber nicht an. Sie scheinen mir fest davon überzeugt zu sein, dass es kein Unfall war, und sind anscheinend wild entschlossen, das herauszufinden. Reicht das, oder muss ich noch deutlicher werden?« Jules Giraud stand mit geballten Fäusten da; er hatte große Mühe, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten.