Bernard Bonnot stampfte entschlossen die Prom’ entlang zum gusseisernen Tor des Parc Masséna. Er stand mächtig unter Druck. Auch Cyrils gewinnendes Lächeln hatte ihn nicht wirklich beruhigt. Es fühlte sich an, als würde ihm wieder der Boden unter den Füßen weggezogen. Wiederholt wählte er Marc Lamberts Nummer. Fehlanzeige. Sollte er noch mal mit Claire sprechen? Hatte sie vielleicht eine Idee, wo er Marc auftreiben konnte?
Er musste unbedingt mit Annas Familie Kontakt aufnehmen. Sie sollte nicht denken … ja was eigentlich? Wenn Plupart nicht herumposaunte, dass er der Urheber der Gerüchte in Nice-Matin war, wusste keiner davon, dass er dahintersteckte. Wirklich beruhigen konnte ihn das aber nicht.
Bernard lief den Weg entlang an den Bänken vorbei zur Rückfront des Musée Masséna. Hier hatte das Shooting stattgefunden. Hier hatte Jules Giraud die aufregenden Fotos seiner Models geschossen – und zum Schluss hatte es in einer Tragödie geendet.
Als Commissaire untersuchte er zuerst den Tatort. Ein Tatort gab jede Menge Auskünfte über das geschehene Verbrechen und über den oder die Täter. Hier hatte aber niemand Spuren gesichert; keine Forensiker in weißen Schutzanzügen hatten ihn auf DNA-Spuren untersucht. Die einzige Hoffnung, die ihm blieb, waren die Überwachungskameras im Museum. Es wäre eine Sensation, wenn Marc Lambert auf der Festplatte zu sehen war.
Bernard schaute auf die Terrasse, konnte aber nichts Besonderes feststellen. Die Fenster zum Museum waren geschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor wenigen Tagen ein Shooting stattgefunden hatte. Er nahm den Seitenweg und gelangte über die ansteigende Auffahrt zum Hauptportal. Am liebsten wäre er zur Rezeption gegangen, hätte der Dame seinen Dienstausweis vor die Nase gehalten und die Villa auf den Kopf gestellt. Bernard aber waren die Hände gebunden. Er musste sich notgedrungen ein Eintrittsticket kaufen.
Er schaute sich nicht die Ausstellung an, es drängte ihn gleich zu den Toiletten. Auf dem Weg entdeckte sein geübtes Auge am Stuck unter der Decke eine Überwachungskamera. Der Empfangsbereich wurde dadurch gut erfasst. Von der Rezeption gelangte er in einen Nebenraum. In einer Vitrine fanden sich zahlreiche Bücher über Nizza und eine Büste von Napoleon. Die Eingangskamera erfasste diesen Bereich aber nicht. Bernard drehte sich um und entdeckte zu seiner Verblüffung Aufzugtüren. Er lief gleich zu der Dame an der Rezeption.
»Sagen Sie, wohin führt der Aufzug dort?«
»Er führt in die erste und zweite Etage.«
»Auch in den Keller?«
»Auch in den Keller.«
»Man könnte also, ohne von jemandem gesehen zu werden, von der obersten Etage zu den Toiletten hinunterfahren?«
»Ja.«
Bernard bemerkte, dass die Frau vor Neugierde brannte, warum er das so detailliert wissen wollte. »Es würde keiner mitbekommen, wenn jemand die Treppe zu den Toiletten nimmt, dass unten bereits jemand auf ihn wartet?«
»Ja. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Das nimmt auch keine Überwachungskamera auf?«
»Nein. Wir sind nicht so unverschämt, die Leute bei ihrem Geschäft zu beobachten.«
»Schade, wirklich schade«, bemerkte Bernard. »Wissen Sie zufällig, wer Anna Piat gefunden hat?«
»Ich.« Es kam wie aus der Pistole geschossen. »Zuerst war da so eine Visagistin. Sie hat das ganze Haus zusammengeschrien. Dann bin ich schon hinzugestürzt. Ich hatte ja keine Ahnung …« Sie drückte sich ihre Hand auf den Mund. Für einen Moment schloss sie die Augen. »Mein Gott, das arme Mädchen! Ich habe noch nie so etwas Schreckliches gesehen. Das viele Blut.«
BB befand sich jetzt in seinem Element. Er war wieder der scharf analysierende Commissaire. Auf die Gefühlslage von Madame ging er weniger ein. »Ist Ihnen an diesem Tag an Anna Piat etwas aufgefallen? War sie verstört? War sie beunruhigt?«
»Nein.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
Bernard bewegte sich auf dünnem Eis. Gleich würde er sich offenbaren müssen. »Sitzen Sie immer hier?«
»Ja, fast immer. Ich gehe aber auch schon mal ins Musée.«
»Ist Ihnen aufgefallen, dass Anna Piat von jemandem verfolgt wurde?«
»Nein.« Ihre Antwort war geradezu entrüstet. Verständnislos. »Stimmt mit dem Unfalltod von Anna etwas nicht? Ich habe die Schlagzeile gelesen. Kommen Sie von der Police Judiciaire?«
Bernard lächelte ihre Bedenken einfach weg. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es sind Gerüchte, denen ich genauer nachgehe. Gerüchte – sonst nichts. Bis jetzt ist weder irgendetwas bestätigt noch widerlegt.« Bernard hatte die Dame trotzdem in Aufregung versetzt.
»Ich hole Ihnen einen Kollegen. Der hat beim Shooting die ganze Zeit zugeschaut, nicht auf der Terrasse, aber durch ein Fenster. Der konnte seine Augen von den Models nicht abwenden, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Auf eine verschworene Art zwinkerte sie ihm zu, als teilten sie ein gemeinsames Geheimnis. Und weg war sie.
Wenig später kam sie mit einem jungen Mann zurück. Groß. Schlank. Schwarze Hose, weißes Hemd. Zweitagebart. Seine Lippen presste er verkniffen zusammen. Er war in Habtachtstellung, wie Bernard sofort feststellte. Bernard stellte sich vor, verriet aber nicht, dass er ein ehemaliger Commissaire war. Auch der Aufseher stellte sich vor, zog seine Hand aber schnell wieder zurück, als wäre es ihm unangenehm, berührt zu werden: Eric Michaud.
»Sie haben gesehen, wie Anna Piat die Treppe hinunterstürzte?«, provozierte Bernard ihn.
»Nein, um Gottes willen, nein. Ich habe vom Napoleon-Saal aus zugeschaut, wie draußen auf der Terrasse das Shooting stattfand. So etwas sieht man nicht alle Tage. Ein Fotoshooting – großartig! Die wunderschönsten Mädchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Eric Michaud klang beunruhigt. Er schaute auf die Dame von der Rezeption, dann wieder auf Bernard. »Sind Sie von der Police? Ist das eine Untersuchung?«
»Nennen Sie es reine Neugierde von mir. Ist Ihnen an Anna Piat etwas aufgefallen? War sie nervös? Ist ihr jemand gefolgt?«
»Nein. Na ja, es gab eine Missstimmung beim Shooting. Der Fotograf gab ihr die Anweisung, sie solle in die Kamera schauen. Das tat sie auch. Wenn Sie mich fragen, hat er Anna klar vor den anderen Models bevorzugt. Das hat man ganz deutlich gespürt. Wie meinen Sie das, es sei ihr jemand gefolgt?«
»Nun ja, haben Sie bemerkt, dass ihr jemand nachgegangen ist? Oder hat ihr in den Sälen beziehungsweise am Empfang ein junger Mann aufgelauert?« Bernard verfluchte sich selbst, dass er kein Bild von Marc Lambert dabeihatte. Ein schweres Versäumnis, das er unbedingt ausbügeln musste. Er war davon ausgegangen, dass er lediglich ein paar allgemeine Nachforschungen anstellen würde, und jetzt steckte er mittendrin in einem Verhör. Er selbst konnte nur eine sehr unzureichende Beschreibung von Marc Lambert geben. Er hatte ihn kaum gesehen – und dann auch nur von hinten. »Ein junger Mann. Sportlich. Dunkles Haar, um die zwanzig. Trägt überwiegend schwarze Kleidung, schwarze Jogginghose, schwarzes T-Shirt.«
Eric Michaud zuckte die Achseln. »Nein, mir ist nichts aufgefallen. Dir?«
Aber auch die Dame vom Empfang konnte sich nicht an ihn erinnern.
»Er ist ein sehr markanter Typ. Na schön, ich komme wieder. Dann zeige ich Ihnen ein Foto von ihm.« Bernard wurde das Gefühl nicht los, als würde es Michaud leidtun, ihm nicht mehr helfen zu können.
Bernards Anspannung war keineswegs geringer geworden. Die angestaute Energie entlud sich auf dem viel zu kurzen Weg zu Claires Geschäft. Er sollte eigentlich wieder seine Joggingrunden drehen, doch dafür hatte BB keine Zeit. Er stürmte in den Laden. Claire manikürte einer Kundin gerade die Fingernägel.
Bernard packte sie am Handgelenk. »Wir müssen reden.« Der Kundin versprach er: »Es geht gleich weiter. Ihre gepflegten Hände werden noch schöner gemacht.«
Er führte Claire in die angrenzenden Behandlungsräume.
»Ich habe mich umgehört. Bis jetzt habe ich nicht viel herausgefunden. Ich war bei Marc Lambert. Als er mich sah, ist er durch den gegenüberliegenden Ausgang auf den Place Rossetti geflüchtet. Seitdem ist er verschwunden. Weißt du, wo er sich herumtreibt, Kneipen, Freunde, Plätze? Hat Anna darüber etwas erzählt, wo sie sich getroffen haben?«
»Nein.« Claire schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie fühlte sich von Bernards Attacke überfahren. »Hast du den Bericht in Nice-Matin veranlasst?«, fragte sie ihn erschrocken.
»Hör bloß auf. Das hat mir heute schon genug Aufregung und auch Ärger eingebracht. Der Scheißkerl von Redakteur hat mich aufs Kreuz gelegt. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Hör zu, Claire, das ist jetzt sehr wichtig, für mich wie für dich. Der Bericht in Nice-Matin ist eine Katastrophe. Damit kann ich aber leben. Was ich aber nicht ausstehen kann und womit ich nicht leben kann, ist, wenn du mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Ich frage dich: Stimmt das alles so, was du mir erzählt hast?«
»BB, was ist los mit dir?«, rief sie ärgerlich. »Was ist in dich gefahren? Natürlich stimmt das alles so, wie ich es dir gesagt habe. Warum sollte ich denn lügen?«
»Entschuldige bitte.«
Claire sah ihm an, wie angespannt er war und welchem Druck er ausgesetzt war. Auf einmal stand Bernard selbst im Mittelpunkt der Kritik, für etwas, das er gar nicht zu verantworten hatte. »Schon gut.«
»Fällt dir nicht doch etwas zu Marc Lambert ein, was du mir nicht erzählt hast?« Bernard wollte sichergehen, dass ihm alle Informationen vorlagen. Claire zögerte. Sie sah Bernard an, wie erregt und aufgewühlt er war. »Hast du ein Foto von Marc? Ich brauche ein Foto von ihm, um es Zeugen vorlegen zu können.«
»Nein, ich habe kein Foto. Wieso sollte ich ein Foto von ihm haben? Sei nicht so laut, du vertreibst mir ja die Kundin.«
Bernard ging nicht darauf ein. »Ich war gerade im Musée Masséna und habe mir den Tatort angeschaut. Ja, es ist möglich, dass Anna die Treppe hinuntergestoßen wurde. Mein Gefühl sagt mir, dass es sogar sehr wahrscheinlich ist. Es gibt da einen Aufzug, der vom obersten Geschoss bis ins Basement fährt. Das bekommt die Dame am Empfang nicht mit. Ich habe aber keinen Beweis, dass es Marc gewesen ist. Ich weiß nicht einmal, ob er zu dem fraglichen Zeitpunkt im Musée war.«
»Du hattest doch was von Überwachungskameras gesagt …«, meinte Claire.
»Ich bin kein Commissaire mehr, ich kann die Herausgabe der Festplatte nicht anordnen. Da sind mir die Hände gebunden. Und es gibt noch eine Ungereimtheit. Der Aufseher, der die Mädchen beim Shooting durch das Fenster zur Terrasse beobachtet hat, kommt mir auffällig vor. Offenbar verschweigt er etwas. Es ist daher von umso größerer Bedeutung, Marc aufzuspüren und ihn zur Rede zu stellen.«
Claire schwirrte der Kopf von all den Neuigkeiten, die Bernard rasend schnell vor ihr abspulte. Was hatte sie nur getan? Hätte sie doch besser nie etwas gesagt! Mit ihren so harmlos und unscheinbar wirkenden Bedenken hatte sie eine Lawine losgetreten. Inzwischen wusste die ganze Stadt davon. Claire konnte von Glück sagen, dass ihr Name nicht veröffentlicht worden war.
»Ich habe heute Vormittag beim Frühstück die gesamte Shootingcrew im Negresco getroffen. Es herrschte eine beklemmende Stimmung. Ein Model brachte es auf den Punkt: Jules Giraud, der Fotograf, hat Anna bevorzugt. Weißt du etwas über ihn? Hat Anna etwas über Giraud erzählt?«
»Nein.« Claire bekam es immer mehr mit der Angst zu tun, was sie alles wissen sollte, von dem sie doch keine Ahnung hatte.
»Ich hatte den Eindruck, Jules wollte Anna beschützen. Er war sehr aufgeregt und beteuerte, dass Anna durch einen Unfall ums Leben gekommen sei. Könnte es sein, dass Anna mit ihm etwas hatte?«
»Nein, um Himmels willen, nein.« Claire seufzte schwer. »Ich weiß es doch nicht, ich weiß es doch nicht. Anna konnte unzugänglich, ja, unnahbar sein. Sie trug vieles mit sich herum, worüber sie nicht sprach.«
»Wenn beide eine Affäre hatten und Marc davon erfuhr, hätte er …«
»BB, es tut mir leid. Mir schwirrt der Kopf von all deinen Fragen. Ich muss zurück zu meiner Kundin. Und bitte komm nicht wieder unangemeldet in mein Geschäft. Lass uns lieber telefonieren.« Claire lief nach vorn zurück. Zum Schluss drehte sie sich noch einmal um. »Mir fällt ein, Anna hat sich mit Marc öfters in einer Brasserie in der Nähe des Palais de Justice getroffen, wenn dir das weiterhilft.«
»Du weißt nicht zufällig den Namen der Bar?«
»Nein, tut mir leid.«
Bernard durchfuhr eine Idee. Es war heiß. Er wusste mit einem Schlag, wie er an ein Foto von Marc Lambert kommen konnte. Das war die beste Idee, die er an diesem Tag hatte.