Nadine war ein bemerkenswertes Mädchen, spontan und geradeheraus, unkompliziert und clever. Sie durchschaute vieles, was nicht selbstverständlich war.
Was wusste sie über Anna?
Es reizte Bernard, mit ihr gemeinsam in die Wohnung von Marc Lambert zu gehen und sich dort einmal gründlich umzuschauen. Vielleicht fand er ja einen Hinweis auf dessen Aufenthaltsort. Eine Adresse. Eine Telefonnummer. Niemand machte sich Gedanken über sein überraschendes Verschwinden, keiner hatte dafür eine Erklärung parat. Auch für Nadine war es nicht nachvollziehbar. Oder wusste sie etwas, wagte es aber nicht, es ihm zu sagen? Versuchte Nadine, ihn insgeheim auf eine falsche Spur zu lenken? Sie hätte ihn vor allem entschiedener vor ihrem jähzornigen, gewalttätigen Bruder warnen müssen, dann hätte er sich keine Schläge eingefangen.
Bernard war etwas wütend auf Nadine, dass sie ihn dieser Gefahr ausgesetzt hatte. Noch wütender aber war er auf sich selbst. Er war auf dem besten Wege, sich in diesen Fall zu verbeißen und in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, die er unbedingt vermeiden sollte. So hatten die Ärzte es ihm geraten. Es ging ihm nicht allein um die Schläge, die er hatte einstecken müssen. Es kränkte ihn zwar, von einem jungen Typen verprügelt worden zu sein. Vielmehr beunruhigte ihn jedoch der emotionale Stress, dem er sich wieder bereitwillig aussetzte, als hätte er nie einen Herzinfarkt erlitten.
Seine Antwort auf Nadines provozierende Frage schob er vorerst auf. Es war leicht, ihn zu locken, damit er auf ihr Angebot ansprang. Das sollte er wohl auch.
Innerhalb weniger Tage war sein Leben gehörig durcheinandergewirbelt worden. Es hatte schon seinen Grund gehabt, warum er sich gegen jede Art von Ermittlungstätigkeit wehrte, und mochte sie auch noch so beiläufig und harmlos sein. Ehe er sichs versah, steckte er nun mittendrin. Er kannte sich selbst genau. Wenn er jetzt die Herausforderung annahm, konnte er nicht mehr aufhören. Ja, Anna faszinierte ihn. Sie vereinigte so viele widersprüchliche Eigenschaften, auf die er noch keine befriedigende Antwort gefunden hatte.
Die Arbeit im Hotel lenkte ihn von seinen Nachforschungen ab, auch von seinen Schmerzen. Neben der Nase würde sich ein Hämatom bilden. Er dachte nicht länger darüber nach, ob es nun gut oder schlecht für ihn war, Nadines Angebot anzunehmen.
Bernard nahm seine Joggingrunde wieder auf. Es gab nichts Besseres, um seinen Kopf wieder gedankenfrei zu bekommen und nach Christophes Attacke wieder herunterzukommen. Er ließ den Blick über das Meer schweifen. Seine Lungen füllten sich mit Sauerstoff. Er nahm die ganze sinnliche Herrlichkeit seiner Stadt in sich auf. Die Lichtreflexe auf dem Meer. Die Fassaden der Häuser, an denen er vorbeizog.
Bernard entspannte sich wieder und kehrte zu sich selbst zurück.
Niemand konnte ihn zwingen, weiter in diesem Fall zu ermitteln, wenn er es nicht wollte. Das war die Freiheit, die Unabhängigkeit, die er sich als Commissaire früher immer gewünscht hatte. Er neigte dazu, sich selbst viel zu sehr unter Druck zu setzen. Das musste er sich immer wieder vor Augen führen. Diese Lektion musste er mühsam über sich selbst lernen.
Der Kanonenschuss vom Schlosshügel knallte über die Bucht. Midi. Das war das Signal, auf das er sich immer verlassen konnte. Auf den letzten hundert Metern drehte Bernard noch einmal richtig auf. Als er im Hotel ankam, war er erschöpft, aber auch befreit, wie schon lange nicht mehr.
Er löschte seinen Durst und schrieb dann Nadine eine SMS.
Hat sich Marc bei dir gemeldet?
Nach wenigen Minuten kam eine Antwort:
Nein. Warum hast du nichts von dir hören lassen?
Bernard schrieb:
Es ging nicht. Ich musste mich erst einmal erholen. Okay. Lass uns in die Wohnung gehen, aber zu meinen Bedingungen. So ein Fiasko will ich nicht noch einmal erleben.
Bernard musste erst Klarheit schaffen zwischen Nadine und sich. Er würde sich keinesfalls blindlings in ein weiteres Abenteuer stürzen. Er wurde einmal kalt erwischt – das durfte sich auf keinen Fall wiederholen.
Es kam postwendend ein kurzes Wann?
Bernard hielt es nicht länger aus. Er rief Nadine einfach an. »Hör mir gut zu. Kannst du sprechen?«
»Ja.«
»Geh morgen um achtzehn Uhr aus dem Haus. Unauffällig.«
»Okay.«
»Geh zuerst zu einer Freundin. Bleib eine halbe Stunde bei ihr. Dann komm zu Fuß zu Marcs Wohnung, und warte dort auf mich. Hast du verstanden?«
»Ja.«
»Passiert das häufiger, dass dein Bruder dich verfolgt und Leute zusammenschlägt?«
Nadine wurde verlegen. »Nein. Es tut mir leid. Es war mein Fehler.«
»Allerdings.«
»Ich habe dir gesagt, er ist aufbrausend. Er kann gefährlich werden.«
»Du hast aber nicht gesagt, dass er dir nachspioniert. Vergiss nicht, Annas Handy mitzubringen«, schärfte er ihr ein.
Bernard wartete in seinem Peugeot vor dem Tor in der Avenue Auber auf Nadine. Sie ahnte nicht, dass er ihr mit dem Auto folgte. Er wartete geduldig und ließ sie dann weit vorauslaufen.
Wenige Tage zuvor hätte Bernard gezaudert und gezögert, eine Entscheidung zu treffen. Er konnte sich selbst nicht ausstehen, wenn er so dazwischenstand. Dass er sich selbst zurücknahm, brachte ihn wieder herunter. Er wurde entspannter, kehrte zu sich selbst zurück. Es war für ihn unerlässlich, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Die Möglichkeit, dass Marc zurückgekehrt war, feuerte ihn ungeheuer an. Nadine wäre von ihm enttäuscht gewesen, wenn er ihr Angebot nicht angenommen hätte. Für ihn war es keine ernsthafte Option gewesen, nicht weiterzumachen. Dafür steckte er bereits zu tief in dem Fall drin.
Diesmal folgte Nadine allerdings kein Golf. Bernard wollte aber nicht zu schnell Entwarnung geben.
Hatte Christophe auch Anna aufgelauert, sie ausspioniert, wenn sie sich mit Marc oder dem Fotografen Jules Giraud traf?
Bernard folgte Nadine zu einer Freundin, wo sie genau sechsunddreißig Minuten blieb. Sie war ein gutes Mädchen, befolgte genau seine Anweisungen. Auch dieses Mal tauchte nirgendwo der Golf auf.
Bernard stellte seinen Wagen ab. Den Rest des Weges lief er durch die Rue Droite zu Fuß.
Schon von Weitem sah er Nadine vor dem gusseisernen Tor von Marcs Apartment auf ihn warten. Sie spielte mit dem Haustür- und Wohnungsschlüssel.
Nadine wandte sich gleich zum Tor. »Wollen wir?«
»Warte!«, forderte Bernard sie auf. »Ich muss noch etwas mit dir klären.«
»Was gibt es denn?«, rief Nadine verwundert.
Bernard wollte das mit Nadine besprechen, bevor sie in Marcs Wohnung gingen. Er zog sie in ein angrenzendes Café.
»Nur ganz kurz. Du bist mir noch eine Erklärung schuldig.«
»Welche Erklärung?«, fragte Nadine.
»Hatte Anna psychische Probleme?« Bernard ging sofort in die Offensive.
»Nein«, rief Nadine empört. In dieser Familie durfte niemand psychische Probleme haben. Das gehörte sich nicht. Das kam bei den Piats nicht vor.
»Sag nicht so schnell Nein. Meine Erfahrung rät mir, dass deine Schwester eine Menge mitgemacht hat. Sie wird fast zu Tode gewürgt vom eigenen Bruder. Sie verliert den Vater, an dem sie sehr hing. Von ihrer Mutter wird sie abgelehnt. Mit einem Schlag erfolgt das glatte Gegenteil: Ein Fotograf zerrt sie ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Anna konnte psychisch nicht darauf vorbereitet gewesen sein. Sie findet sich nicht schön, ist sich nicht sicher zu gefallen. Denn gefallen möchte sie. Auf jeden Fall kann sie sich mit ihrem Aussehen nicht identifizieren. Kein Wunder, da sie über Jahre höchstens als Außenseiterin in eurer Familie geduldet, aber niemals akzeptiert wurde. Kannst du mir folgen, oder habe ich da etwas nicht richtig verstanden?«
Nadine horchte auf. In dieser geballten Form, wie der Commissaire ihre Schwester beschrieb, hatte sie Anna noch nie gesehen. »Na ja, das stimmt schon …«
»Aber?«
»Nichts aber. Worauf willst du hinaus?«
»War Anna oft niedergeschlagen? Kamen ihr grundlos die Tränen? Fühlte sie sich leer und zu nichts zu gebrauchen? Gab es in ihrem Leben keine Perspektive?«
»Du meinst, ob sie depressiv war? Nein, absolut nicht.«
»War sie in psychotherapeutischer Behandlung?«
»Nein. Keiner von uns ist depressiv. Wenn du nur gekommen bist, um mir das unter die Augen zu reiben, dann gehe ich besser.« Nadine stand bereits auf.
»Es tut mir leid«, lenkte Bernard wieder ein. »Setz dich hin. Na komm schon.« Bernard deutete mit dem Kopf auf den Stuhl. »Ich könnte genauso gut eingeschnappt sein wie du. Es hat nicht viel gefehlt, und dein Bruder hätte mir die Nase zertrümmert.«
Zögernd setzte sich Nadine wieder.
»Eine Frage noch. Hat deine Schwester Medikamente genommen? Schlaftabletten? Beruhigungsmittel?«
Nadine druckste herum. »Ja. Sie konnte nicht immer durchschlafen. Ist das ein Verbrechen? Ich weiß nicht, wie das Medikament heißt. Sie war aufgeregt und aufgewühlt wegen der Fotos. Genügt dir das?« Nadine sprang auf. »Gehen wir jetzt in die Wohnung, ja oder nein?«
»Warte! Hast du das Handy dabei?«
Nadine holte es aus ihrer Handtasche hervor. Sie verstand nicht, warum das für den Ex-Flic so ungeheuer wichtig war. Bernard versprach sich davon, weitere Aufschlüsse darüber zu erhalten, was geschehen war, bevor Anna die Treppe hinuntergestürzt war.
Nadine verließ das Café bereits und schwenkte provokativ mit dem Schlüsselbund. Umständlich stand Bernard auf. Er würde sich nicht wie ein Ochse am Nasenring von einem jungen Ding durch Nizzas Straßen ziehen lassen. Dieses eine Mal war es aber bestimmt klug und richtig, ihr nachzugeben.
Nadine schloss bereits das Tor auf. Bernard trat in das Marmortreppenhaus ein. Auf der gegenüberliegenden Seite war Marc Lambert vor ihm geflüchtet. Warum? Das war die entscheidende Frage.
Der Ex-Commissaire trieb das Mädchen zur großen Eile an. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass sie gemeinsam von Mitbewohnern gesehen wurden, wie sie sich Zugang zu einer fremden Wohnung verschafften. Er wollte keine Zeugen haben.
Bernard schlüpfte als Erster in das Apartment. »Kein Licht«, wies er Nadine an. Sie wunderte sich darüber, dass er ein so großes Geheimnis daraus machte, dass sie in der Wohnung des Ex-Freundes ihrer Schwester waren.
Gespenstisch glitt der Lichtkegel seiner Handytaschenlampe durch die Dunkelheit. Sie standen inmitten des Ein-Zimmer-Apartments. Von dem einen Spaltbreit offen stehenden Fenster zum Place Rossetti drang Stimmengewirr zu ihnen herauf.
War es eine geplante Flucht gewesen, oder war Marc Hals über Kopf vor ihm davongerannt? Er musste übermäßige Angst gehabt haben. Nur sehr starke Angst konnte diese Kräfte in ihm mobilisieren.
»Warst du schon einmal hier?«, fragte Bernard Nadine.
»Nein. Anna wollte mich nie dabeihaben«, sagte sie bekümmert. »Marc gehörte ihr allein. Ich störte da nur. Ich war ja bloß die Schwester.«
Der Lichtkegel glitt über eine ansehnliche Plattensammlung. Vinyl. Auf dem Boden ausgebreitet standen großformatige Fotografien. Auf dem Couchtisch fand Bernard einen vollen Aschenbecher. Er prüfte ihn. Erkaltet. Marc war nicht in seine Wohnung zurückgekehrt, um etwas zu holen oder sich darin zu verschanzen.
Bernard schaute sich die Fotos an. Das genaue Gegenteil von den glamourösen Modeaufnahmen der Models, wie Jules Giraud sie inszenierte.
Marc fotografierte Alltagsszenen in den Straßen von Nizza, auf eine surreale Weise, überhöht und verfremdet. Der Asphalt im Vordergrund. Ein Bistrostuhl groß im Bild. Grelle Lichter der Straßenlampen und Autoscheinwerfer. Zweifellos war Marc ein begabter Fotograf.
»Was suchen wir hier?«, fragte Nadine unvermittelt. Das Licht ihres Smartphones glitt über den überladenen Schreibtisch.
»Das musst du doch wissen. Du hast mich schließlich hergelotst. Sei mal still!«, befahl Bernard schroff.
Er hörte Schritte, die sich näherten.
»Mach das Licht aus!«
Nadine gehorchte aufs Wort. Die Schritte kamen näher – von unten. Im Raum war es stockdunkel. Nur ein leichter Schein fiel vom Place Rossetti herein. Wenn Marc unvermittelt in seinem Apartment auftauchte, wie sollte er ihm erklären, warum sie unerlaubt in seine Wohnung eingedrungen waren? Oder noch schrecklicher: Christophe war Nadine gefolgt! Das war aber unmöglich. Er hatte die größtmögliche Umsicht walten lassen.
Bernard hielt den Atem an. Sein geschädigtes Herz hämmerte wie wild. Seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Er nahm Nadines Umrisse wahr. Nadine wartete offenbar auf neue Anweisungen von ihm. Sie zerknüllte einen Fetzen Papier und versuchte, es hinter ihrem Rücken verschwinden zu lassen.
Die Schritte gingen an der Tür vorbei, entfernten sich.
»Was hast du da?«, sagte Bernard. »Zeig’s mir!« Der Lichtkegel seines Handys strahlte direkt in Nadines entsetztes Gesicht und die durch die Dunkelheit weit geöffneten Iriden.
»Nichts. Gar nichts.«
»Lüg mich nicht an.« Bernard streckte seine Hand aus. »Gib’s mir! Was ist es?« Er kam Nadine sehr nahe. Sie konnte ihm nicht ausweichen. »Dachtest du, ich würde es nicht bemerken, dass du etwas vor mir verschwinden lässt?«
Bernard legte sein Smartphone auf den Schreibtisch, packte Nadines Hände, die sie auf dem Rücken verschränkte, und entriss ihr einen Zettel. Er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sie ihn auf eine falsche Spur führen wollte. Sie rechnete offenbar nicht damit, dass Marc in seiner Wohnung Hinweise aufbewahrte, die er unter keinen Umständen erfahren durfte.
»Rühr dich nicht von der Stelle!« Bernards Stimme klang scharf. Er kramte nach seiner Brille in der Hosentasche. Auf dem Zettel stand:
DU BIST EIN DRECKIGER VERRÄTER!
ICH LASS MICH NICHT LÄNGER VERARSCHEN.
»Wer hat das geschrieben?«, fragte er Nadine und fuchtelte mit dem Fetzen Papier vor ihren Augen herum. »Lüg mich nicht an. Du kennst die Handschrift. Der ist von Anna, nicht wahr?« Es machte Bernard fuchsteufelswild, wenn ihn jemand anlog. Das konnte er nicht ertragen. Da wurden uralte Gefühle in ihm wach. Er wollte sich nicht von einem jungen Mädchen austricksen und hintergehen lassen.
Nadine sah ihn mit weit geöffnetem Mund an. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit seiner heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet.
»Du hast nicht erwartet, hier einen Zettel von Anna zu finden. Du wusstest von Anfang an, dass sich deine Schwester mit Marc aus dem Staub machen wollte – nach Paris. Du wärst dann mit deiner emotional verkrüppelten Mutter und deinem cholerischen Bruder allein geblieben. Anna wäre aus deinem Leben verschwunden. Und du hättest keine Kontrolle mehr über sie gehabt«, sagte er.
Unwillkürlich zuckte Nadine zusammen. »Nein, du bist ja verrückt.«
»Du musstest etwas finden, um Marc bei Anna schlechtzumachen und zu denunzieren. Was ist es gewesen? Warum ist Marc ein dreckiger Verräter?«, versuchte er, Nadine die Wahrheit zu entlocken.
Sie blockte entschieden ab. »Das stimmt nicht, was du da behauptest. Lass mich gehen! Ich will hier raus. Es ist heiß und stickig.«
»Du hast mich ins offene Messer laufen lassen bei deinem durchgeknallten Bruder.«
Nadine verstand endlich, warum der Ex-Commissaire ihr gegenüber so misstrauisch und ablehnend war. »Es tut mir leid, dass Christophe das gemacht hat. Ich hatte dich aber gewarnt«, verteidigte sie sich. »Das kannst du mir nicht vorwerfen. Nur weil ich einmal etwas verbockt habe, glaubst du mir nicht? Ich soll wieder alles allein austragen. Dabei habe ich doch nichts getan.«
»Du erzählst mir zuerst die Wahrheit. Eher lasse ich dich nicht laufen. Es gefällt dir nicht, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden. Wenn es für dich schwierig wird, läufst du lieber davon. Warum hast du mich hierhergeführt? Du musst doch einen Grund gehabt haben.« Bernard war nahe daran, Nadine am Arm zu packen und sie heftig zu schütteln. Er beherrschte sich, erhöhte aber den Druck auf sie.
Nadine entwand sich ihm, lief unter seinem Arm schnell und flink davon. Einen seiner Füße presste er gegen die Tür, sodass Nadine sie nicht öffnen konnte. Er verriegelte das Schloss.
»Setz dich hin«, forderte er sie auf. »So, du erzählst mir jetzt genau, was passiert ist. Warum hat Anna Marc verlassen? Da steckt mehr dahinter, als du mir bisher erzählt hast. Und lüg mich nicht an. Ich merke sofort, wenn du lügst.« Bernard war erregt. Er brannte darauf, die Wahrheit zu erfahren. Sein Herz pumpte wie wild.
Nadine schaute vor sich auf den Boden. Sie zuckte mit den Schultern. »Es gibt keinen speziellen Grund, warum ich dich hierhergeführt habe. Wirklich nicht.« Sie druckste herum, biss sich verlegen auf die Lippe. »Du glaubst mir sowieso nicht. Ich will dir doch bloß helfen«, platzte sie aus sich heraus. »Ich dachte, wir finden einen Hinweis, wo sich Marc aufhält. Ich dachte, wir finden Marc, und dann kannst du mit ihm sprechen.«
Bernard baute sich groß und einschüchternd vor Nadine auf. Er wusste nicht genau, was er von ihren Worten halten sollte, prüfte sie sorgfältig, wägte sie ab, ob sie glaubwürdig klangen.
»Für Anna war Marc alles, verstehst du?«, fügte Nadine hinzu. »Mit ihm konnte sie endlich sie selbst sein, konnte dem strengen Regime unserer Mutter entkommen. Mit ihm konnte sie ausgelassen und unbeschwert sein.«
Nadine war für ihr Alter ausgesprochen raffiniert und durchtrieben. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. »Darum geht’s jetzt nicht. Was hat Marc Anna versprochen?«
Nadine überlegte rasend schnell. Bernard sah ihr an, dass Gedanken durch ihren Kopf schossen.
»Warte hier«, wies er sie an. »Rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin gleich zurück.« Bernard fluchte vor sich hin. Dass ihm das ausgerechnet jetzt passieren musste: Er musste mal pinkeln. Das war aber auch kein Verhör in einem Verhörraum. Alles war improvisiert und überstürzt. Er schaute sich wiederholt nach Nadine um. Er musste die Daumenschrauben noch ein bisschen fester anziehen, dann würde er Nadine schon zum Reden bringen. Sie sollte nicht auf die Idee kommen zu flüchten.
Der Deckel war hochgeklappt. Den Lichtkegel richtete Bernard auf die schmuddelige Toilette. Als er sein Geschäft beendet hatte, zog er ordentlich ab und klappte den Deckel zu. Sein Blick fiel hinter dem schmutzigen Abflussrohr auf einen fluoreszierenden Plastikbeutel. Bernard bückte sich danach, und seine Hand hielt ihn in den Lichtstrahl. Es befand sich ein weißes Pulver darin.
Bernard stürmte aus der Toilette und hielt Nadine den Beutel unter die Nase. »Ist das der Grund, warum Anna Marc verlassen hat? Ist das der Grund, warum Marc verschwunden bleibt?«
Nadine starrte auf das Beutelchen. Panik durchströmte sie. Ansatzlos schoss sie vom Stuhl hoch und schlug einen Haken. Bernards massiger Körper war viel zu schwerfällig, genauso schnell und flink wie sie zu reagieren. Nadine war federleicht. Schon war sie an der Türe und drehte das Schloss auf.
»Bleib stehen, Nadine!«, schrie Bernard hinter ihr her. »Es hat keinen Zweck davonzulaufen.«
Nadine sprintete das Treppenhaus hinunter; Bernard hinter ihr her. So wie Marc flüchtete sie vor ihm. Auch Nadine nahm den Ausgang zum Place Rossetti, wandte sich dann nach rechts in Richtung der vielen engen Gassen der Altstadt.
Bernard versuchte erst gar nicht, sie zu verfolgen. Er hätte keine Chance gehabt, und er wusste das. Doch Nadine konnte ihm nicht wirklich entkommen. Er würde sie aufspüren.
»Komisch, dass immer alle vor dir davonlaufen, BB«, hörte er eine Stimme neben sich. »Da ist es schon ein Wunder, dass Danielle bei dir geblieben ist.«
Bernard schaute in das hämisch grinsende Gesicht von Philippe Plupart.