Bernard brühte seinen Lieblingskaffee Grand-Mère auf. Handfilter, keine Kaffeemaschine. Er war für das Frühstück zuständig. So hatten sie es vereinbart. Bernard hatte als frühpensionierter Commissaire bedeutend mehr Zeit als Danielle. Das stimmte auch – bis vor wenigen Tagen. Er schenkte Danielle Kaffee in ihren Bol ein.
Sie sah ihn skeptisch aus ihren funkelnden Augen an. Sie war gegen fünf Uhr aufgestanden. »Es ist spät gewesen, als du gekommen bist. Später als verabredet.«
»Tut mir leid. Es ist etwas dazwischengekommen, mit dem ich nicht rechnen konnte. Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich habe nicht geschlafen. Ich habe kein Auge zugemacht. Ich dachte, dir wäre etwas passiert.« Danielle setzte sich und nahm eines der Croissants aus dem Körbchen, legte es aber gleich wieder auf den Teller. »Ich hätte dich nicht zu Claire schicken dürfen.«
»Nein, nein, es war genau richtig. Welche Abgründe sich in dieser Familie auftun … Unglaublich! Je länger ich ermittle, desto mehr schreckliche Details kommen zutage. Ich fürchte, ich muss den Fall ganz neu angehen. Es ist nicht so, wie ich zuerst angenommen habe.«
»Ist es gefährlich, BB?«, fragte sie verunsichert.
»Nein. Du kennst mich, Katze.«
»Ja, eben deshalb. Von deinen Schmerzen in der Brust, bevor du einen Herzinfarkt erlitten hast, hast du mir auch nichts erzählt. Also, ist es gefährlich? Versuche mich nicht zu beschwichtigen. Du hast dir bereits Schläge eingefangen. Unter deinem Auge bildet sich ein Hämatom. Bernard, ich möchte nicht morgens an einem Tisch mit dir sitzen, scheinbar mit dir frühstücken, während du in Wahrheit mit ganz anderen Dingen beschäftigt bist, von denen ich nichts weiß.«
»Nein, es ist nicht gefährlich.«
Danielle schaute ihn eindringlich an. Bernard bestrich sein Croissant mit Butter.
»Deine Ermittlungen haben sich verselbstständigt. Das ist ein viel zu großer Stress für dich. Ich weiß«, sie versuchte, sich schonend ausdrücken, »die Arbeit im Hotel gefällt dir nicht. Das ist nicht unbedingt deine Sache, aber ich brauche dich hier. Ich möchte, dass du mit deinen Recherchen aufhörst.«
Bernard schaute sie verwundert an.
Danielle wusste genau, dass sie Bernard seine Freiheiten lassen musste. Genauso wichtig war es aber, ihm seine Grenzen aufzuzeigen, weil er selbst nicht merkte, wenn er sie überschritt. Dann würde er genau da landen, wo er vor vier Jahren schon einmal gewesen war.
»Das geht jetzt nicht«, verkündete er lapidar.
»Warum geht das nicht?«
»Wie stehe ich denn bei Claire da? Sie würde mich für einen Versager halten oder denken, ich wolle nur kneifen, weil ich Angst vor meiner eigenen Courage habe.«
Danielle kratzte sich an der Wange. Bernard sah ihr an, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hatte, aus der sie nicht wieder herauskam. Sie war es schließlich gewesen, die ihn dazu gedrängt hatte, sich die Bedenken ihrer Freundin einmal anzuhören.
»Wenn du nicht mit Claire reden willst, weil du dir keine Blöße geben möchtest, dann übernehme ich das für dich«, sagte Danielle.
»Das ist nett von dir, aber es geht nicht nur allein um Claire. Ich habe mit meinen Fragen und Nachforschungen mächtig Staub aufgewirbelt. Nadine weiß etwas, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es schaffe, dass sie den Mund aufmacht. In dieser Familie hat jeder Angst. Jeder spioniert den anderen aus. Madame Piat blockt jede Frage ab.«
»Du warst bei Annas Mutter?«, rief Danielle erstaunt. »Davon wusste ich nichts.«
»Ich kann unmöglich mit dir jeden einzelnen Schritt besprechen. Das überfordert mich. Das überfordert dich aber auch. Du hast mit dem Hotel genug zu tun. Ich brauche dich mit meinen Problemen nicht auch noch zu belästigen.«
»Du meinst …«, begann Danielle, aber Bernard fiel ihr ins Wort.
»Ja, ich meine, an der Sache könnte tatsächlich mehr dran sein.«
»Welches Interesse könnte Madame Piat denn haben, etwas vor dir zu verbergen?«, fragte Danielle.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe schon viele Zeugen und Angehörige vernommen, aber Madame Piat ist nicht zu fassen. Doch mein Instinkt rät mir, dass bei dem Unfall von Anna Piat nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Ich brauche aber Beweise, verstehst du, wasserdichte Beweise. Diese Beweise versuche ich gerade zu beschaffen. Das braucht Zeit. Lass mich ganz einfach meine Ermittlungen fortführen.«
Danielle war keineswegs beruhigt. »Du musst damit aufhören, BB. Ich kann nicht verantworten, dass du dich in Gefahr begibst.«
Bernard lächelte seine Frau milde und nachsichtig an. Er spürte wieder neuen Auftrieb, in diesem mysteriösen Fall zu recherchieren, der sein ganzes Können erforderte. Er fühlte, dass er nahe daran war herauszufinden, warum Marc verschwunden blieb. »Ich kenne mich mit Verbrechen aus, ich habe mehr als dreißig Jahre nichts anderes getan. Ich verspreche dir, wenn es gefährlich wird, dann hole ich mir Hilfe. Ich wende mich an Plupart oder an einen anderen meiner Ex-Kollegen.«
»Damals warst du aber noch um einiges jünger. Damals hattest du auch noch nicht …«
»Ich weiß, was du mir sagen willst. Damals habe ich noch keinen Herzinfarkt erlitten. Stimmt, aber schau mich an. Ich fühle mich blendend. Ich bin wieder ganz der Alte.« Er strahlte sie mit seinem unnachahmlichen Lächeln über das ganze Gesicht an. Mit diesem charmanten Lächeln hatte er sie schon immer für sich eingenommen. Er entwaffnete sie mit diesem Lächeln. Sie wusste nichts weiter darauf zu erwidern.