23

Bernard genoss es, durch den dichten Verkehr auf der Promenade des Anglais in seinem Peugeot dahinzugleiten. Wenn er unterwegs war, konnte er seinen Ärger über Philippe Plupart am besten hinter sich lassen. Der kam sich ungeheuer wichtig vor, seitdem Bernard nicht mehr Commissaire war.

Es tat Bernard gut, seine Gedanken zu sortieren und die Fülle an Informationen einzuordnen. Das machte seinen Blick wieder klarer, er vermochte sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es brachte ihn hoffentlich auf einen neuen Ansatz. Die Befragung von Eric Michaud hatte jedenfalls keinen Durchbruch erzielt.

Bernard fuhr den Boulevard Gambetta Richtung Norden entlang. Am Jardin Alsace-Lorraine wurde eine riesige Metro-Station für die Tram 2 gebaut, die vom Flughafen bis zum Hafen führen sollte. In diesem Abschnitt verlief die Trasse unterirdisch. Er stellte seinen Wagen ab und lief zu Fuß weiter. Sein Frust auf Plupart ließ langsam nach. Es wäre nicht gut, Marie Denis wütend zu begegnen. Dann würde sie schnell dichtmachen. Es war schon viel wert, dass sie einem Treffen zugestimmt hatte.

In der Bar war keine Frau anzutreffen, die eine Ähnlichkeit mit der Putzfrau hatte. Bernard war sich jedoch sicher, dass er sie auf den ersten Blick erkennen würde. Er nahm draußen auf einem der Stühle Platz. Wenig später sah er, wie Marie Denis im Sonnenschein die Straße entlangkam. Nervös. Unruhig.

Bernard stand auf. »Madame Denis?«

»Ja.« Ihr Blick flirrte umher. Sie konnte Bernard nicht anschauen.

»Setzen Sie sich bitte. Schön, dass Sie gekommen sind.«

Marie setzte sich wortlos, zündete sich eine Zigarette an, schaute Bernard an, dann wieder auf den Aschenbecher. »Was wollen Sie von mir?«, fragte Marie Denis. Alle Welt wollte etwas von ihr. Ihre Augen waren umschattet. Die Wangen blass. Sie war hochgradig erregt und aggressiv, zugleich verunsichert und ängstlich. »Ich sage Ihnen gleich: Ich war’s nicht. Ich habe nichts getan, was man mir vorwirft. Ich bin unschuldig. Es ist eben leicht, mich zum Sündenbock zu machen. Also, was wollen Sie?«

Er blieb skeptisch, versuchte, auf Marie Denis beruhigend einzuwirken. Nur dann würde er an belastbare Informationen kommen. Er ließ für sie einen Café Creme kommen. Marie drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich eine neue an.

»Madame Denis, das will ich Ihnen gern glauben, dass Sie unschuldig sind.« Bernard wollte ihr zeigen, dass er ihr gewogen war. »Erzählen Sie mir einfach, was genau passiert ist.«

»Das habe ich doch schon alles den Polizisten von der Police National erzählt. Kaum dass das schöne Mädchen abtransportiert war, hatten sie mich am Wickel. Ich sag Ihnen was, das war von vornherein ein abgekartetes Spiel. Natürlich muss jemand dafür verantwortlich sein, wenn eine Treppe nass gewischt und kein Warnhinweisschild aufgestellt ist. Aber ich sag Ihnen was: Ich habe nach dem Wischen das Hinweisschild selbstverständlich aufgestellt. Es war nicht zu übersehen.«

»Ach ja?«, rief Bernard erstaunt aus.

»Natürlich«, bekräftigte Marie Denis. »Und danach habe ich den Mosaikboden in der Nähe des Eingangs gewischt. Selbstverständlich stand das Schild da noch an der Treppe.«

»Interessant«, sagte Bernard und nickte Madame Denis aufmunternd zu.

»Aber mir glaubt ja keiner. Der Museumsdirektor kam angeschossen, hat mich vor den Augen der Polizisten angebrüllt. Da war mir klar, wer die Schuldige sein sollte. Ich natürlich. Ich bin von der Reinigungsfirma erst einmal suspendiert worden, bis die Vorwürfe geklärt sind. Ich arbeite für den Scheißladen seit fast zehn Jahren. Aber es ist ihnen egal, was aus mir wird. Mit mir hat von denen noch niemand gesprochen«, redete sich Marie in Rage. »Es läuft ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Wissen Sie, was das heißt? Ich weiß nicht, wie ich die Miete bezahlen soll. Ich weiß nicht, wie ich meine zwei kleinen Kinder durchbringen soll.« Marie Denis sah ihn mit glühenden Augen an, berührte Bernard am Unterarm. »Sie müssen mir helfen, Monsieur le Commissaire«, flehte sie ihn an.

Er wehrte sich dagegen, sich von ihrem Leid berühren zu lassen. Das war nicht nur unprofessionell, sondern oft auch kontraproduktiv. »Lassen Sie uns zuerst die Fakten klären, Madame Denis. Ich kann für Sie nur etwas tun, wenn ich die genauen Umstände kenne. Ich möchte bei Ihnen aber auch keine falschen Erwartungen wecken. Ich kann also nichts versprechen.«

Widerwillig nickte Marie. Sie befand sich nicht in der Lage, viele Forderungen zu stellen.

»Wenn Sie den Boden nahe am Eingang gewischt haben, musste auch jeder zum Eingang und folglich zu den Toiletten an Ihnen vorbei. Ist das richtig?«

»Ja.«

»Haben Sie Anna Piat gesehen?«

»Natürlich, so ein blühendes Mädchen wie sie vergesse ich nicht. Und wie sie zurechtgemacht war! Perfektes Make-up. Schauen Sie mich an! Ich müsste mir die Augenringe wegschminken. Ich habe aber nicht genug Geld für Kosmetika.« Marie kam Bernard sehr nahe, flüsterte, damit die Leute vom Nachbartisch nicht mithören konnten. »Ich habe ihr sogar nachgeschaut in dem engen Rock, ihren schlanken Beinen, den teuren High Heels, die auf dem Boden klackerten. Verstehen Sie mich nicht falsch …«

»Ich habe Sie schon richtig verstanden.« Jetzt kam die entscheidende Frage. »Ist irgendjemand Anna Piat zur Toilette gefolgt?«

»Wie meinen Sie das?« Das war eine Frage, die Marie noch niemand gestellt hatte. Sie war verwirrt. »Sie meinen …«

»Beantworten Sie einfach meine Frage: Ist jemand Anna Piat gefolgt?«, wiederholte Bernard eindringlich.

Er erkannte, dass sich in Marie Denis ein Film abspulte. Sie rief verflossene Erinnerungsstücke wieder auf, denen sie keine Bedeutung beigemessen hatte. »Wenn Ihnen Anna Piat aufgefallen ist, ist das schon einmal gut«, bestärkte Bernard sie. »Es kann nicht sehr lange gedauert haben. Sagen wir drei bis fünf Minuten – also unmittelbar danach. Überlegen Sie in Ruhe. Sie brauchen mir nicht gleich zu antworten.«

»Nein, nein, ich will ja antworten. Ich kann mich nur nicht erinnern.« Marie Denis schloss die Augen, um die Realität auszuschließen: den Mann, der ihr gegenübersaß, das Café, den Straßenlärm.

Sie ließ offenbar vor ihrem inneren Auge die entscheidenden Minuten noch einmal Revue passieren. Dann öffnete Marie schlagartig die Augen. »Ja. Jetzt, wo Sie mich darauf ansprechen, erinnere ich mich. Kurz nachdem das Model Richtung Toilette verschwand, tauchte ein Mann hinter ihr mit großen Schritten auf.«

Bernard war wie elektrisiert. »Sind Sie sich ganz sicher?«, bohrte er nach. »Das ist jetzt sehr, sehr wichtig.«

»Ziemlich sicher. Ich gebe zu, ich habe ihm nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie Anna geschenkt. Ehrlich gesagt, war er mir egal. Da gingen so viele Menschen an mir vorbei.«

»Sie glauben aber, er könnte in einer Verbindung zu Anna stehen?«

Marie biss sich auf die Unterlippe. Man sah ihr an, dass ihre Anspannung wieder stieg. Erneut zündete sie sich eine Zigarette an. »Ich kann es unmöglich beschwören.«

»Wie sah der Typ aus?«

»Ziemlich groß. Schlank. Sportlich.«

»Alter?«

»Jung. Um die dreißig würde ich sagen, aber ich bin nicht gut im Schätzen. Außerdem habe ich ihn nur flüchtig gesehen.«

Bernard war enttäuscht. Er hatte mit einer anderen Antwort gerechnet. Das war für Marc zu alt, aber auch für Christophe, falls er seiner Schwester aufgelauert hatte. Bernard ließ sich seine Überlegungen nicht anmerken. Er wollte die Putzfrau nicht beeinflussen. »Sie sind sich aber sicher, dass es ein Mann war.«

»Ja.« Marie Denis fühlte sich immer unruhiger auf ihrem Stuhl. Am liebsten würde sie wohl aufspringen und davonlaufen, dachte Bernard.

»Ich zeige Ihnen jetzt ein Foto. Schauen Sie es sich in Ruhe an. Sagen Sie mir, ob Sie darauf jemanden erkennen.«

»Das ist das Model!«, rief Marie spontan, geradezu freudig, bis ihr einfiel, dass Anna jetzt tot war. »Wer ist der Mann?«, fragte sie verwundert. »Den kenne ich nicht.«

»Sie haben diesen jungen Mann noch nie gesehen?«

Marc schaute auf dem Foto direkt in die Kamera.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

»Das war nicht der Mann, der Anna gefolgt ist?«

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

Wieder Fehlanzeige. Bernard verbarg seinen Frust so gut es ging.

Erneut fasste Marie ihn am Unterarm. »Glauben Sie mir, dass ich nichts falsch gemacht habe, dass ich unschuldig bin?«, beschwor sie ihn.

»Ja, ich glaube Ihnen«, erwiderte er nüchtern.

»War es hilfreich, was ich Ihnen gesagt habe?«

»Möglich. Das wird sich zeigen.« In dem Moment blitzte in Bernard eine Idee auf. Sein letzter Hoffnungsschimmer, an einen konkreten Hinweis zu gelangen. »Könnte es sein, dass ihr ein Aufseher gefolgt ist? Groß, schlank, mit weißem Hemd und schwarzer Hose, so, wie die Aufseher im Musée gekleidet sind?«

»Nein, das wäre mir aufgefallen. Nein, auf keinen Fall«, wandte Marie sich entschieden dagegen. »Die kenne ich ja alle.«

Bernard hatte sein letztes Pulver verschossen. Doch Marie Denis bemerkte nicht, dass er enttäuscht war.

»Wenig später ist eine schicke Tussi hinter dem Model hergerannt, älter als sie, aber nicht weniger stylish. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Sie schien konfus zu sein. Beunruhigt. Keine Ahnung, was sie hatte. Ich musste meine Arbeit beenden. Ich hätte längst unterwegs sein müssen zu meinem nächsten Job. Ständig dieser Stress. Wenig später war dieser markerschütternde Schrei durch das Museum gegellt. Ja, wenn ich darüber nachdenke, muss sie es gewesen sein, die schrie. Die Tussi. Danach ist die Hölle ausgebrochen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Überall Sirenengeheul, Sanitäter, Notärzte, die Police National. Ich bin nicht dazu gekommen, dass Gebäude zu verlassen. Ich wurde aufgefordert dazubleiben, man wollte mich befragen. Der reinste Horror, sage ich Ihnen.«

»Sie sind nicht zur Treppe gelaufen, um nachzusehen, was passiert war?«

»Nein, das ging nicht mehr. Es war überall Chaos. Da standen zig Leute an der Treppe. Da war kein Durchkommen möglich. Die gesamte Fotocrew kam angerannt. Da wurde ich auch schon von Polizisten vernommen. Die waren ja noch ruhig und sachlich. Als der Museumsdirektor auftauchte und mich anbrüllte, dachte ich, mich trifft der Schlag. Es war eine ungeheure Unverschämtheit, mich vor allen dermaßen anzupöbeln und zu beschuldigen.«

»Wissen Sie, wie die Frau hieß, die Anna hinterherlief?«

»Nein, tut mir leid.«

»Danke, dass Sie gekommen sind, Madame Denis. Sie können mich jederzeit anrufen, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«

»Finden Sie den Mann, der Anna das angetan hat!«