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Bernard blieb kurz stehen und ließ seinen Blick über die Gesichter der Gäste gleiten. Er war sich sicher, Marc auf Anhieb zu erkennen. Die Bar hatte sich gefüllt.

Marc war nicht darunter.

Rasend schnell suchte Bernard nach dem Kellner. Kurz bevor er mit einem vollen Tablett auf die Terrasse heraustrat, fing er ihn ab.

»Wo ist er? Wo steckt Marc?«

Der Kellner schaute sich um. »Er saß gerade noch hier.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen? Hat er gesagt, wo er hinwollte?«

»Sie sehen doch, was hier los ist … Ich kann mich unmöglich um jeden Gast kümmern.«

»Schon gut. War er allein oder in Begleitung?«

»Ich habe überhaupt nichts gesehen. Ich habe nur den Typen wiedererkannt, von dem Sie mir das Foto gezeigt haben. Das ist alles. Was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen? Ihn an den Stuhl fesseln?« Der Kellner ließ Bernard einfach stehen und wandte sich wieder seinen Gästen zu.

Marc Lambert war hier gewesen. Das war schon einmal eine gute Nachricht. Seit Langem die erste Spur, das erste Lebenszeichen von ihm.

Bernard stand etwas ratlos da, schaute auf den belebten Platz vor dem Palais de Justice, dann in die entgegengesetzte Richtung. Adrenalin durchströmte seinen Körper. Er stand wieder mitten im Feuer, so, wie es früher immer gewesen war. Ohne lange zu zögern, ging Bernard zu Marcs Wohnung. Warum tauchte er gerade jetzt auf? Was trieb ihn an? Was wollte er in der Stadt?

Marc konnte nichts davon wissen, dass er wegen des Todes von Anna gesucht wurde. Es gab ja keine Untersuchung. Nur ein einzelner Ex-Flic hielt stur daran fest, dass Anna Piat im Musée Masséna ermordet worden war.

Marc Lambert hatte sich nicht einmal auf dem Cimetière du Château von ihr verabschieden können. Ein ungewöhnlicher Vorgang, wenn Anna ihm tatsächlich so viel bedeutete, wie alle behaupteten. Eine für Marc schmerzhafte Situation. Er hatte gewiss nicht vorgehabt, Madame Piat Auge in Auge gegenüberzutreten und ihr sein Beileid auszusprechen.

Bernard trieb sich zu größerer Eile an. Mit schnellem Schritt hastete er durch die Altstadtgassen, fast geistesabwesend, wie es nur Einheimische können. Zum Schluss begann er zu laufen. Er war Marc Lambert auf der Spur – er durfte ihm nicht entkommen.

Plötzlich entdeckte Bernard ihn in einer Gasse, wie er sich rasch von seiner Wohnung entfernte. Zuerst war Bernard perplex, reagierte aber schnell auf die neue Situation und hängte sich an Marcs Fersen. Noch hielt er sich zurück. Marc ging schnell, schien aber nicht auffällig nervös zu sein. Bernard wartete auf eine günstige Gelegenheit, zuzuschlagen und Marc zu stellen.

Mehrfach drehte sich Marc um. Befürchtete er, verfolgt zu werden?

Bernard ließ ihn fünf bis maximal acht Meter vorauslaufen, aber niemals so weit, dass er ihn aus den Augen verlor.

Für Marc stand fest: nichts Auffälliges zu sehen. Niemand, den er fürchten musste; niemand, der ihm gefährlich werden konnte. Hatte er sich ins Musée Masséna ähnlich geschwind und nahezu lautlos eingeschlichen, an Aufsehern, der Dame an der Rezeption vorbei, ja, sogar an Marie Denis?

Bernard stockte: Marc war plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Er konnte ihn nirgends entdecken. Sein Kopf und das markante schwarze T-Shirt tauchten nirgendwo auf.

Das konnte nicht wahr sein. Das war unmöglich.

Von seinen früheren Vorgesetzten hätte er einen riesigen Anschiss bekommen für diese Schlamperei. So etwas durfte einfach nicht passieren. Unschlüssig stand Bernard vor dem Nightclub L’Enfer. Das war ein passender Name für einen Nachtklub: die Hölle. Es konnte kein Zweifel bestehen: Marc musste hier drinnen verschwunden sein. Bernard trat, ohne zu zögern, ein.

Der breitschultrige russische Türsteher knallte ihm den ausgestreckten Arm gegen die Brust. Eine besondere Form der Leibesvisite. Er wollte vor allem eins: Geld. Am liebsten hätte Bernard ihm seinen nicht mehr vorhandenen Dienstausweis unter die Nase gehalten und den Großkotz damit zum Schweigen gebracht. Notgedrungen steckte Bernard ihm zwanzig Euro zu. Das war völlig überteuert für den billigen Schuppen. Problemlos durfte Bernard nun passieren. Wer mit Geld um sich warf, der war eben ein gern gesehener Gast.

Ihn empfing ohrenbetäubende Musik. Der DJ hinter dem Tresen hatte seinen Spaß daran, die Regler aufzudrehen. Ein in den höchsten Tönen singender Freddie Mercury empfing ihn mit seinem bombastischen »Bohemian Rhapsody«.

Bernard Bonnot ließ seinen geübten Blick durch den Raum gleiten. Wie oft hatte er schon solche Absteigen nach Verdächtigen oder Zeugen kontrolliert? Er wusste es nicht mehr zu sagen. Er hoffte nur, dass er nicht zu sehr nach einem Flic aussah. Sein Blick, seine Haltung, sein gesamtes Auftreten könnte ihn verraten.

Ein hübsches Mädchen kam ihm entgegen und forderte ihn auf, ihr einen Drink auszugeben. Bernard wischte sie mit einer Handbewegung beiseite.

Magisch angezogen trat er einige Schritte weiter in den Nachtklub ein, sein Zielobjekt deutlich vor Augen. Marc Lambert stand am Tresen und unterhielt sich mit dem DJ, nein, er brüllte ihm ins Ohr. Es war auch kaum anders möglich, sich verständlich zu machen – und wahrscheinlich so gewollt. Die perfekte Tarnung für ein konspiratives Treffen. Keiner konnte mithören. Es sei denn, er beherrschte das Lippenlesen.

Bernard konnte die Szene nicht genau beobachten. Dafür war es zu dunkel im L’Enfer. Die Stroboskoplampe blendete ihn. Wieder wurde er von der Seite angemacht. Auf einmal sah er, dass da genauso heimlich wie offen ein Paket den Besitzer wechselte. Je alltäglicher, desto unauffälliger.

Aus der Dunkelheit trat ein weiterer Mann hinzu und klopfte Marc sehr bestimmend auf die Schulter. Mit dem Kopf deutete er an, ihm in Richtung Toiletten zu folgen.

Marc reagierte nicht sofort. Er war mit dem DJ noch nicht fertig. Das Geschäft war wohl noch nicht abgeschlossen.

Auf halbem Weg drehte sich der Mann noch einmal um. Da erkannte ihn Bernard: Es war kein Geringerer als Christophe Piat, der ihm beinahe die Nase gebrochen hatte.