Für Bernard war der Anruf bei Nice-Matin der Versuch, irgendetwas herauszufinden, um in dem mysteriösen Fall weiterzukommen. Es musste Anna wichtig gewesen sein. Sehr wichtig. Es widersprach ihrem gewohnten Verhalten, Probleme mit sich allein auszumachen und mit niemandem darüber zu reden.
Bernard verlangte, Jean Tonnet zu sprechen, den Redakteur, der entgegen ihrer Absprache die Reportage über neue Gerüchte veröffentlicht hatte.
»Ja, was gibt’s, Bonnot?« Tonnet ließ ihn spüren, dass er nicht viel Zeit und noch weniger Lust hatte, sich mit ihm auseinanderzusetzen. »Sie sind ein besonders harter Hund. Wollen Sie mir wieder den Kopf waschen? Es gibt nichts, worüber Sie sich aufregen können.«
Bernard blieb im Ton konziliant und sachlich. »Ich muss noch einmal auf den Vorfall zurückkommen, dass Anna Piat bei Ihnen in der Redaktion angerufen hat. Was ist daraus geworden?«
»Ach, kommen Sie von der Kleinen immer noch nicht los? Ich dachte, der Fall ist abgeschlossen?«
»Beantworten Sie einfach meine Frage. Was wollte Anna? Wie haben Sie oder ein anderer Redakteur reagiert?«
»Wie ich schon sagte: Anna Piat gab sich sehr geheimnisvoll und mysteriös. Sie wollte auf keinen Fall am Telefon darüber sprechen.«
»Wer hat das Gespräch angenommen?«
»Ich«, sagte Tonnet ein wenig stolz. »Ich habe es auch schnell wieder vergessen und den Termin aus meinem Terminkalender gestrichen, weil sie … nun ja, Sie wissen schon.«
»Sie hatte bereits einen Termin?«, rief Bernard.
»Ja.«
»Wo sollte das Treffen stattfinden?«
»Den Ort wollte sie mir kurz vorher bekannt geben.«
»Hat Sie das nicht stutzig gemacht?«
»Doch, aber nur ein wenig. Es sollte ein Ort sein, an dem wir ungestört sind. Sie ist eine bekannte Person des öffentlichen Lebens und deswegen ausgesprochen vorsichtig und diskret. Sie wollte verhindern, dass sie mit einem Redakteur gesehen wird. Diese Furcht war aber unbegründet. Nur in seltenen Fällen werde ich erkannt.«
»Der Termin stand aber schon fest.«
»Ja. Es konnte ihr nicht schnell genug damit gehen.«
»Und Sie haben sie nicht gefragt, was sie wollte?«
»Aber selbstverständlich. Ich brannte geradezu darauf, mehr zu erfahren. Ich stieß bei ihr auf Granit. Da war nichts zu machen.«
»Wann wäre der Termin gewesen?«
»Da muss ich nachschauen«, entgegnete Tonnet.
Bernard wartete.
»Er wäre am 20. September gewesen. Zwei Tage nach ihrem Tod.«
»Zwei Tage …«, sagte Bernard versonnen und schaute nachdenklich in die Ferne.
»Meinen Sie, es besteht da ein Zusammenhang zwischen dem Anruf bei uns in der Redaktion und ihrem …« Tonnet zögerte. »… Tod?«
»Es ist möglich. Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich behalte den Hinweis auf jeden Fall im Kopf. Eine Frage noch: Glauben Sie, Anna hatte sich noch an andere Zeitungen und Magazine gewandt?«
»Sollte sie? Keine Ahnung, wirklich nicht«, antwortete Tonnet. »Solange wir nicht wissen, um was es ihr ging, bleiben alle Erklärungsversuche reine Spekulation.«
»Ach, vergessen Sie es«, antwortete Bernard. »War nur eine Idee von mir. Wahrscheinlich haben Sie recht.«
»Bestimmt. Wette ich mit Ihnen.«
Nach dem Gespräch schaute BB einige Minuten nachdenklich auf sein Smartphone. Aber da kam nichts: Kein Einfall, was Anna Piat von dem Redakteur gewollt haben könnte. Der Gedankenblitz würde wahrscheinlich dann kommen, wenn Bernard nicht länger über das Problem nachdachte: spontan und überfallartig.
Wiederholt versuchte er, Gisèle zu erreichen. Nach dem fünften Versuch klappte es. Das Model erinnerte sich sofort an ihn und die kurze Unterhaltung im Negresco. Das letzte Mal sahen sie sich bei Annas Beerdigung auf dem Cimetière du Château. Sie hatten allerdings nicht miteinander gesprochen. Bernard hatte aber den Eindruck gehabt, sie wollte ihm etwas sagen.
»Können wir uns treffen?« Bernard machte es dringend. »Unsere erste Unterredung verlief zum Schluss etwas unfreundlich und artete aus, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ja, ich verstehe Sie gut.« Gisèle stand ihm glücklicherweise wohlwollend gegenüber.
»Es wäre schön, wenn wir uns einmal allein unterhalten könnten.«
»Sie meinen, ohne Jules«, brachte sie seine Absicht auf den Punkt.
»Ganz genau. Ein ausgesprochen hitziger und aufbrausender Mensch.«
»Der Schmerz hat ihn überwältigt. Das war für uns alles noch sehr frisch. Wir standen unter Schock. Das müssen Sie verstehen. Jules hat sein Lieblingsmodel verloren, an dem ihm sehr gelegen war und an dem er sehr hing. Es gibt da nichts zu leugnen: Anna war sein Lieblingsmodel. Punkt.«
Gisèle redete Klartext, das gefiel Bernard.
Sie überlegte kurz. »Ich bin bei einem Shooting bei den Arènes de Cimiez. Stefanie ist auch hier. Nein, Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir arbeiten dieses Mal nicht mit Jules zusammen. Das ist eine große Sache«, freute sich Gisèle. Im Hintergrund hörte Bernard, dass sie gerufen wurde. »Ich muss Schluss machen. Sagen wir um achtzehn Uhr. Dann müssten wir fertig sein.«
Bernard traf früh am Restaurant Le Frog ein. Es befand sich unmittelbar vor dem imposanten Bau der Opera de Nice in einer ruhigen Seitenstraße, fernab vom Trubel in der Altstadt. Am Ende der Straße weitete sich der Blick auf einige Palmen zum Meer hin. Hier waren sie ungestört. Le Frog war das einzige Restaurant in der Rue Milton, trotzdem verirrten sich viele Touristen hierher, oder Angestellte der Opera nahmen ihr Diner in der Mittagspause ein.
Der Kellner begrüßte ihn per Handschlag. Bernard war hier bekannt. Auf der kleinen Terrasse waren noch zwei Plätze frei. Er brannte darauf, eine Abschrift der Handyauswertung zu lesen. Es würde sich schnell zeigen, ob Marc ihn angelogen hatte.
Der Ex-Commissaire vertrieb sich die Zeit damit, ein junges Mädchen zu beobachten. Sie saß auf einem der blauen Metallstühle, die für gewöhnlich aufgereiht an der Promenade standen, im Eingang der Sicherheitstüren der Opera; verschlissene Jeans, rosafarbenes Top, das Handy am Ohr, Zigaretten im Schoß, eine Kippe in der anderen Hand. Sie war ungefähr in Annas Alter. Genauso lebendig und quirlig hätte Anna hier sitzen können.
»Wo schaust du schon wieder hin, BB?«
Bernard sah Plupart an, der in sein Blickfeld trat. Er hielt ihm die Hand entgegen. Das war eine seltene freundschaftliche Geste.
»Sie ist hübsch, sehr hübsch. So stelle ich mir Anna vor«, entgegnete Bernard.
Plupart nickte, konnte es aber nicht verstehen. »Das Mädchen ist ja wirklich zur Obsession von dir geworden. Was muss passieren, dass du davon loskommst?«
»Die Wahrheit, Philippe. Die Wahrheit. Ich bin mir sicher, wir kennen die Wahrheit nicht, was wirklich bei dem Shooting im Musée Masséna geschehen ist.« Es war ein raffinierter Schachzug, Philippe Plupart bei der Suche nach der Wahrheit mit einzubeziehen. »Wenn dich die Wahrheit auch interessiert …« Das war eine glatte Provokation.
»Selbstverständlich interessiert mich die Wahrheit, BB. Deshalb sind wir schließlich Polizisten geworden, nicht wahr?«
Bernard setzte Plupart weiter zu. »Es wäre viel einfacher, der Wahrheit nahe zu kommen, wenn du dich nicht dagegen wehren würdest, die Kameraüberwachung anzusehen. Dann stünden wir jetzt nicht vor diesem riesigen Problem. Ich habe mit Marie Denis gesprochen. Sie hat gesehen, dass ein Mann Anna zur Toilette gefolgt ist – unmittelbar nach ihr.«
»So, du hast mit Marie Denis gesprochen. Du nimmst die Angelegenheit verdammt ernst und recherchierst gründlich.«
Bernard nickte zustimmend. »Ja. Im Gegensatz zu dir. Du nimmst es auf die leichte Schulter.« Er wischte sich über die flachen Hände. »Dann bist du fein raus und hast nichts damit zu tun.«
»Jetzt mal im Ernst, BB. Kann es sein, dass das für dich eine persönliche Angelegenheit ist? Willst du mir eins auswischen, weil ich untätig bleibe, weil ich nicht dieselbe Wahrheit propagiere wie du?«
»Nein«, wies Bernard entrüstet die Anschuldigung zurück, »weil es Unregelmäßigkeiten und Indizien gibt, die einer gründlichen Untersuchung bedürfen. Hast du das Protokoll der Auslesung?«
»Moment«, hakte Plupart ein. »So einfach ist das nicht.«
»Hast du nun das Protokoll: ja oder nein?«
»Das ist jetzt nicht das Thema. Es gibt andere Dinge dabei zu bedenken. Wir haben ein neues, fantastisches Gerät, um Handys der unterschiedlichsten Sicherheitsstufe auszulesen«, lenkte Plupart geschickt von der eigentlichen Frage ab.
»So, ihr habt ein neues, fantastisches Gerät. Willst du mich heiß machen, Philippe?« Bernard wollte sich nicht länger auf die Folter spannen lassen. »Was ist es? Spuck es schon aus, bevor du vor Stolz gleich platzt!«
Der Kellner kam zu ihnen, und sie gaben ihre Bestellung auf.
»Ich glaube nicht, dass du es kennst. Es ist erst nach deiner aktiven Zeit eingeführt worden.« Plupart vergaß nicht, ihm unter die Nase zu reiben, dass er draußen war und die Entwicklung über ihn hinwegging. »Es gab ein Treffen und eine Demonstration der hohen Tiere der obersten Polizeidirektion in Paris mit Vertretern einer israelischen Firma, die für Sicherheitsdienste und das Militär dieses Gerät entwickelt hat. Mit dem UFED von Cellebrite kann praktisch jedes Handy physikalisch ausgelesen werden, auch Mails und SMS, die bereits gelöscht worden sind.«
»Umso besser. Bravo. Ich bin beeindruckt.« Warum erzählte Plupart ihm das alles? Sie befanden sich nicht in einer Fortbildung über Sicherheitstechnik.
»Du weißt, ich dürfte dir den Ausdruck des Protokolls gar nicht geben. Wir bewegen uns da auf dünnem Eis. Das ist dir hoffentlich klar? Um es knallhart zu sagen: Ich dürfte Anna Piats Handy nicht auslesen lassen. Es gibt dafür keine rechtliche Grundlage. Gegen Anna wird nicht ermittelt – sie ist tot. Ihr Handy steht auch nicht im Zusammenhang mit einem Verbrechen.«
Bernard platzte jetzt endgültig der Kragen. »Es gibt keine rechtliche Grundlage, weil du untätig bleibst!«, schleuderte er ihm entgegen. »Hättest du von Anfang an auch nur einen Hauch Grips im Kopf gehabt, hättest du die Festplatte mit der Kameraüberwachung gecheckt, dann wären wir einen erheblichen Schritt weiter. Dann würdest du sehen, wie ein Mann, sei es Marc oder ein Unbekannter, Anna folgt. Da ist die rechtliche Grundlage. Das hast du dir selbst eingebrockt.« Bernard stieß den Teller mit der Dorade und dem Spinat von sich. Ihm war jeglicher Appetit vergangen. Er streckte die Hand aus. »Gib mir das Handy zurück!«, verlangte er barsch. »Ich muss doch bescheuert gewesen sein, dir zu vertrauen und zu glauben, bei dir sei das Gerät in guten Händen!« Bernard ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er es ernst meinte.
»Was hast du vor, BB? Dir gehört das Handy nicht.«
»Dir auch nicht. Ich habe es von Nadine bekommen. Ich werde es zurückgeben. Bei dir ist es definitiv in den falschen Händen.« BB schoss vom Stuhl hoch, bereit, die Terrasse zu verlassen.
»Jetzt setz dich wieder, BB. Na mach schon.« Philippe deutete mit dem Kopf auf den Stuhl. »Führ nicht so einen Tanz auf wie ein angeschossener Tiger. Es genügt manchmal, mit einer feinen Nadel in dich hineinzustechen, und du gehst ab wie eine Rakete. Also setz dich. Es gibt da noch etwas. Ich bin noch längst nicht fertig.«
Widerstrebend nahm BB seinen Platz wieder ein.
»Jetzt mal was anderes«, begann Plupart erneut. »Hast du Marc Lambert ausfindig gemacht? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Was hat das wieder zu bedeuten? Du willst doch nur ablenken.«
»Beantworte meine Frage. Das wird dir doch nicht schwerfallen. Da genügt ein Ja oder ein Nein. Hast du Marc Lambert aufgespürt?«
»Nein. Er bleibt verschwunden.« Bernard setzte eine enttäuschte Miene auf, als könnte er es selbst nicht fassen. Plupart sollte nicht in ihn hineinsehen. Er wollte seine Erkenntnisse auch nicht mit ihm teilen, solange er nicht wusste, worauf er hinauswollte. Plupart hatte nichts anderes verdient, da er sich so illoyal verhielt.
»Warum interessierst du dich auf einmal für Marc?«, fragte er nach.
»Marc Lambert ist aus einem anderen Grund für uns wichtig. Ich kann dir nicht mehr darüber sagen. Ich hoffe, du verstehst das. Er ist da in etwas hineingeraten. Bestimmt ist er nur ein kleiner Fisch. Wir versprechen uns aber, über ihn an die Hintermänner zu kommen, die die Fäden ziehen. Du weißt schon. Etwas, was schon länger in Vieux Nice grassiert.«
»Geht es auch etwas konkreter? Okay, ich habe schon verstanden. Ihr sucht ihn. Was heißt das? Wird er observiert? Ist er zur Fahndung ausgeschrieben?« Bernard musste so viele Informationen wie möglich aus Plupart herausholen.
»Darf ich dir nicht sagen. Aus ermittlungstaktischen Gründen, wie es so schön heißt. Ich dürfte nicht einmal mit dir darüber reden. Das weißt du genau«, ließ Plupart ihn abblitzen.
»Ach, Philippe, das ist ja ein großartiger Deal, den du mir anbietest. Ich soll, wenn es sich gerade so ergibt, Marc für dich aufspüren, vielleicht auch festnehmen? Was ich gar nicht darf. Das ist für dich angenehmer und passt dir wunderbar in den Kram. Du lässt mich aber im Regen stehen. Du sagst mir nicht, um was es geht, warum du dich auf einmal für Marc interessierst. Sag mir wenigstens: Ist es gefährlich? Ist Marc Lambert bewaffnet?«
»Möglich. Ich will dir nichts vormachen. Sei besser vorsichtig.«
»Ach, da habe ich aber Glück, dass du mich warnst und mich nicht blind ins Verderben rennen lässt. Noch eine Katastrophe kann ich nicht brauchen. Okay«, sagte Bernard bestimmend, »wenn ich Marc, aus welchem Grund auch immer, aufspüre, werde ich an dich denken. Was soll ich tun?«
»BB, du brauchst nicht den Helden zu spielen. Ruf mich einfach an. Versuche, Marc hinzuhalten. Du kennst das ja. Wir kommen dann so schnell wie möglich.«
»Einverstanden. Ich rufe dich an. So, und nun gibst du mir die Abschrift des Ausleseprotokolls. Es gibt keinen Deal ohne Gegenleistung.« Bernard streckte seine Hand aus. Plupart griff in die Innentasche seines leichten Sommersakkos. Bernard konnte es kaum glauben. Plupart hielt mehrere eng bedruckte Seiten in seinen Händen.
»In diesem Fall ist es eine Ausnahme. Es dient zur weiteren Aufklärung einer Straftat und könnte zur Ergreifung eines Gesuchten führen.«
»Du meinst Marc Lambert…«
»Ja. Und ich möchte dich gleich darauf hinweisen: Wenn dir in den Mails, SMS und WhatsApps etwas auffällig erscheint, dann setze dich sofort mit mir in Verbindung. Klar? Und ich meine nicht den Schwachsinn, den du dir zusammenreimst.«
»Ich habe schon verstanden.«
Plupart überreichte ihm tatsächlich das Ergebnis von Annas Handyauslesung. Bernard überflog die Papiere flüchtig. Er konnte es nicht abwarten, die Ausdrucke genauer zu studieren.