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Wer ist dir zur Toilette gefolgt? Wer hat dir aufgelauert? Wer hatte ein Interesse daran, dich aus dem Weg zu räumen?, fragte sich Bernard wiederholt auf dem Rückweg.

Er rieb sich mit der linken Handfläche das Auge. Da merkte er erst, wie müde und ausgelaugt er war. Die Ermittlungen der letzten Tage hatten ihn erschöpft. Das Ergebnis der Handyauslesung gab ihm aber auch einen ungeheuren Schub. Er war erleichtert darüber, nun etwas Konkretes in Händen zu halten. Endlich konnte er die letzten Tage vor Annas Tod rekonstruieren und daraus seine Schlüsse ziehen, Antworten finden auf Fragen, die ihm niemand beantworten konnte.

Bis zu seinem Treffen mit Gisèle hatte er noch Stunden Zeit. Wieder eine Befragung. Wieder Stress und Zeitdruck. Bernard brannte darauf, das Protokoll zu studieren, bevor er zu den Arènes de Cimiez aufbrach.

Er breitete die Papiere auf seinem Schreibtisch aus und begann zu lesen. Zuerst stürzte er sich auf all die Gespräche, die Anna am Tag ihres Todes geführt hatte und die bei ihr eingegangen waren. Die Telefonate waren nach Datum aufgelistet, was die Suche erheblich vereinfachte.

Der 18. September. Da waren sieben Anrufe von Marc Lambert aufgelistet, zwei davon am Nachmittag – da war Anna bereits tot. Keinen der Anrufe hatte sie angenommen. Bernard hielt kurz inne und überlegte.

Marc hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt.

Er hatte sie angerufen und nichts davon gewusst, dass sie, aus welchem Grund auch immer, die Treppe hinuntergestürzt war. Bernard musste wohl davon ausgehen, dass Marc nichts mit Annas Tod zu tun hatte. Das machte den Fall nicht einfacher. Über Tage hatte Bernard sein Hauptaugenmerk und seine Energien auf ihn gerichtet.

Mit einem Schlag stürzten all seine Erwartungen und Mutmaßungen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Bernard konnte seine Enttäuschung darüber nicht verbergen. Die ganze Zeit über hatte er sich auf Marc konzentriert, er war sein Hauptverdächtiger gewesen. Wer hatte noch ein starkes Motiv, Anna das anzutun?

Zweifel krochen in Bernard empor. Hatte er sich da in etwas hineingesteigert, was nicht der Realität entsprach? Er nahm seine Brille ab und stützte sein Gesicht in seine Hände. Das war eine vernichtende Niederlage, die er erst einmal verdauen musste. Er hatte sich viel zu früh und einseitig durch Claires Hinweise auf Marc festgelegt. Nun endeten seine Ermittlungen in einer Sackgasse.

Für einen kurzen Moment dachte er daran, alles hinzuschmeißen und mit seinen Ermittlungen aufzuhören. Er würde Claire erklären, Marc war wütend und rachsüchtig auf Anna gewesen, weil sie ihn abserviert hatte, aber er war’s nicht gewesen. Diese Erkenntnis bohrte sich tief in ihn hinein. Das konnte auch das Ergebnis seiner Untersuchung sein. Es war ein Unfall, nichts weiter als ein Unfall.

Dann erinnerte er sich wieder an all die Fakten, die dagegensprachen. Ein Mann war Anna gefolgt. Daran gab es nichts zu rütteln.

Bernard las das Protokoll der Handyauslesung weiter und hoffte darauf, eine heiße Spur zu finden.

Am 18. September fanden noch weitere Anrufe statt. Nadine rief dreimal an. Alle Anrufe vor dem Todeszeitpunkt, und keinen davon nahm Anna an.

Bernard versuchte, sich die Szene vorzustellen. Anna hatte bestimmt während des Shootings ihr Handy nicht bei sich haben dürfen. Das wäre unprofessionell und hätte den Fotografen massiv gestört. Sie musste vor und während des Shootings ihr Smartphone in ihre Handtasche gelegt haben. Nadine hätte eigentlich wissen müssen, dass es schlecht, wenn nicht gar unmöglich für Anna war, während eines Shootings mit ihr zu telefonieren. Was hatte Nadine von ihrer Schwester so dringend gewollt?

BB machte sich eine Notiz. Bei Gelegenheit würde er Nadine danach fragen.

Das erste geführte Gespräch an diesem Tag war zu früher Stunde mit dem Fotografen Jules Giraud. Es dauerte drei Minuten, siebenundfünfzig Sekunden. Jules rief Anna an. Was wollte er von ihr?

Bernard ging in der Liste der Telefonate zurück. Mit niemandem hatte Anna so viel Kontakt wie mit Marc – genauso regelmäßig schmetterte sie seine Anrufe, seine verzweifelten Versuche, mit ihr zu sprechen, ab. Bernard musste in der Liste mehr als eine Woche zurückgehen, bis sie tatsächlich miteinander gesprochen hatten. Es waren alles längere Telefonate. Eine Stunde, fünfzehn Minuten, zweiunddreißig Sekunden. Das Gespräch ging von Anna aus. Mit einem Schlag dann: keine Anrufe mehr. Anna brachte ihre Beziehung auf null. Marc existierte offensichtlich für sie nicht länger.

Eine Woche vor ihrem Tod fand Bernard aber auch weitere Anrufe von Nadine. Zwei Gespräche. Nur kurz: fünfunddreißig Sekunden. Daraufhin hatte Anna zurückgerufen. Wenn Nadine Anna hatte stecken wollen, dass Marc Geschäfte mit Kokain machte, dann hätte sie es ihr auch zu Hause sagen können. Anna hatte sich zu dieser Zeit sicherlich in ihrer Fantasie bereits ihr neues Leben in Paris ausgemalt, das sie zusammen mit Marc aufbauen wollte.

Dann der Schock. Der Absturz. Hatte Nadine ihrer Schwester auf die brutalstmögliche Art die Augen über das wahre Wesen ihres Freundes geöffnet? Zerplatzte Träume. Enttäuschung und Wut über den Verrat, dass Marc sie belogen und hintergangen hatte.

Bernard fand in der Liste auch Anrufe von Christophe. Nicht viele und jedes Mal kurz. Unbeabsichtigt berührte Bernard seine Nase, auf die Christophe mit der Faust geschlagen hatte. Die Erinnerung an den plötzlichen, unbeherrschten Ausbruch des jungen Mannes stieg wieder in ihm hoch.

Hatte Anna gewusst, dass ihr Bruder sich bei Marc seinen Stoff besorgte? Wie hatte sie auf diese Neuigkeit reagiert? Christophe war gewiss kein Mann, der sich von irgendwem an den Pranger stellen ließ – auch nicht von seiner Schwester.

Bernard machte sich auch zu diesem Themenkomplex eine Notiz, diese Spur genauer unter die Lupe zu nehmen.

Noch etwas fiel ihm auf: eine Nummer, aber kein eingespeicherter Name. Anruf am 14. September. Bernard gab die Nummer ins Suchfeld im Internet ein. Als Ergebnis erhielt er Nice-Matin, genauso wie Tonnet es ihm gesagt hatte. Am Tag danach fand er ebenfalls zwei Telefonnummern ohne Namen. Auch nach diesen Nummern suchte BB im Internet. Ergebnis: Paris-Match und Le Parisien, die größte Boulevardzeitung Frankreichs.

Bernard schaute auf. Sein Blick und seine Gedanken schweiften im Raum umher.

Drei große Medien innerhalb von zwei Tagen. Verdammt noch mal, was hatte Anna denn von den Illustrierten und Zeitungen gewollt? Auf einmal hatte Bernard eine Idee, wie er der Flut von Informationen der letzten Wochen Herr werden konnte.

Auf seinen Block schrieb er Anna und kreiste ihren Namen ein. Um sie herum notierte er all die Personen, die mit ihr in Verbindung standen, und fügte die wichtigsten Ereignisse hinzu. Marc Lambert, das Shooting im Musée Masséna, der Fotograf, die anderen Models, Annas Mutter und selbstverständlich auch ihr Bruder Christophe und der Aufseher. Bernard versuchte, strikt rational vorzugehen und nicht zu viel zu spekulieren. Es gab einen Mann, der Anna gefolgt war. Doch wieso hatte Anna kurz vor ihrem Tod mit Nice-Matin Kontakt aufgenommen? Warum?

Bernard zerbrach sich darüber den Kopf, gab aber nach kurzer Zeit auf. Er musste sich selbst eingestehen: Er wusste es nicht. Er hatte keinen blassen Schimmer. Alles war Spekulation. Er nahm sich fest vor, diese Spur weiter zu verfolgen. Vorher konnte er unmöglich aufgeben. Das ließ seinen Mut wieder steigen, nicht an seinem Unvermögen zu scheitern.

Noch etwas anderes fiel Bernard auf. Am 11. September neun Anrufe von Marc – Anna hatte sie nicht angenommen. Einmal hatte Marc ihr auf die Mailbox gesprochen. Am späteren Nachmittag um 17:45 Uhr Anruf bei Stefanie – sie hatte nicht abgenommen. Wenig später Anruf bei Gisèle. Nur kurz: drei Minuten, fünfzehn Sekunden. Was hatte Anna von ihr gewollt? Was war an dem Tag geschehen?

Es vergingen mehrere Stunden. Um 20:21 Uhr rief Anna von sich aus Jules Giraud an. Wieder kein sehr langes Gespräch: vier Minuten, zwölf Sekunden. Danach Sendepause.

Bernard machte sich dazu eine Notiz. Er würde gleich Gelegenheit haben, Gisèle danach zu fragen.

Und noch etwas war ungewöhnlich: wer nicht auf der Liste erschien. Es gab nicht einen Anruf oder eine Nachricht von ihrer Mutter.