Nach zwei Tagen wurde Bernard aus dem Hôpital l’Archet I entlassen. Es hatte sich ein großflächiges Hämatom bis zum Ellenbogen gebildet, sodass Danielle ihm beim Anziehen eines leichten Sakkos helfen musste. Seine Joggingrunden musste er vorerst einstellen. Die Gefahr, nochmals auf den verletzten Arm zu stürzen, und sich dieses Mal etwas zu brechen, war zu groß. Bernard wagte höchstens, an der Promenade zu flanieren.
Er blickte an den Häusern, Balkonen und Terrassen entlang und beobachtete all die Menschen in den Autos, die insgeheim vielleicht ihn beobachteten und ausspionierten. Der Feind blieb unsichtbar und unheimlich.
Jeden Morgen kontrollierte er zunächst den Wagen, ob nicht wieder Morddrohungen hinter den Scheibenwischern angebracht waren. Er musste sie entdecken, bevor sie Danielle in die Hände fielen.
Einige Tage blieb es ruhig. Keine neuen Drohungen tauchten auf. Aber auch Bernard verhielt sich abwartend. Er tätigte keine Telefonate und versuchte nicht, mit jemandem in Kontakt zu treten. Wer immer es auf ihn abgesehen hatte, musste annehmen, seine perfide, aus dem Hinterhalt ausgeführte Attacke hätte ihr Ziel erreicht. Der verbissen nach der Wahrheit suchende Ex-Commissaire Bernard Bonnot hatte seine Nachforschungen eingestellt.
Er musste sich erst um sich selbst kümmern. Er hasste und verabscheute es, wenn er so hilflos war und nicht einmal die kleinsten Bewegungen und Aktionen ausführen konnte. Doch so langsam machte er Fortschritte. Er versuchte, wieder Auto zu fahren. Er konnte einen Gang einlegen, ohne dass gleich ein höllischer Schmerz in sein Schultergelenk fuhr. Das gewaltige Hämatom bildete sich nur langsam zurück. Es war jetzt grün, gelb und ein bisschen blau.
Mit Danielle besprach er sich wiederholt. Die Katze sollte zunächst allein das Gespräch mit Jules Giraud führen. Wahrscheinlich erinnerte er sich nicht mehr groß an den Vorfall. Bernard wollte aber verhindern, dass der Fotograf ihn gleich abkanzelte, wenn er seinen Namen hörte. Er setzte darauf, dass Jules’ aufgewühltes Inneres sich wieder beruhigt hatte. Seit dem Tod von Anna Piat waren inzwischen mehrere Wochen vergangen. Es musste einfach funktionieren. Bernard saß Danielle gegenüber und wartete gespannt darauf, was geschah.
Sie drehte sich abrupt zur Seite. Sie konnte nicht entspannt telefonieren, wenn sie von ihrem Mann angestarrt wurde. Sie stand vom Tisch auf, ging zum Fenster und schaute auf den Vorgarten des Hotels hinunter. Das Schlimmste, was passieren konnte, wäre, wenn Jules Giraud mitsamt seinem Modezirkus einfach weitergezogen wäre und somit nicht mehr für ihn greifbar war.
Die Verbindung kam zustande. »Monsieur Giraud?«, fragte Danielle. »Ich bin Madame Bonnot, die Frau von Bernard Bonnot. Ich möchte mich für meinen Mann, nun ja, für sein taktloses Verhalten auf der Terrasse des Negresco entschuldigen, als er Ihnen zum Tod von Anna Piat kondoliert hat.« Danielle legte den Finger auf den Mund und zwinkerte Bernard zu. Dann stellte sie das Gespräch laut.
»Schon gut«, sagte Jules Giraud. »Wir waren damals alle sehr gereizt. Unsere Nerven lagen blank, und wir waren geschockt über Annas Tod. Fassen Sie sich kurz, Madame. Ich habe nicht viel Zeit.«
»Monsieur Giraud, es haben sich einige neue, überraschende Erkenntnisse ergeben«, erwiderte Danielle.
»Ist Ihr Mann in der Nähe?«, fragte Jules. »Geben Sie ihn mir. Ich muss ein für alle Mal etwas klarstellen.«
Danielle reichte das Handy an Bernard weiter.
»Monsieur Bonnot, jetzt hören Sie mir genau zu«, wies Jules ihn zurecht. »Ich finde es unverschämt von Ihnen, mir hinterherzutelefonieren. Welche überraschenden Erkenntnisse sich ergeben haben, interessiert mich einen Scheißdreck. Inzwischen habe ich verstanden, was für eine große Zicke Anna gewesen ist. Nur durch mich ist sie groß herausgekommen. Sonst war sie ein Nichts, verstehen Sie mich? Ein Nichts. Sie hat meine Gutmütigkeit schamlos ausgenutzt. Anna ist tot. Punkt. Tödlich verunglückt bei einem tragischen Sturz. Ende der Durchsage. Ich möchte nicht, dass mir dieser Name ein Leben lang nachläuft. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Bernard ließ die Tirade des Fotografen unbeeindruckt über sich ergehen. »Monsieur Giraud, nun beruhigen Sie sich«, beschwichtigte er ihn. Betont ruhig und sachlich erklärte er: »Wussten Sie, dass Ihr Assistent, nachdem Anna Piat zur Toilette gegangen war, während des Shootings plötzlich verschwunden ist? Wo finde ich Monsieur Laval? Ich muss mit ihm sprechen.«
»Na und? Er verschwindet ständig irgendwohin. Wahrscheinlich ist er zum Wagen gegangen, um etwas für das Shooting zu holen. Wer behauptet das?«, fragte Jules schroff.
»Das tut nichts zur Sache. Die Reinemachefrau hat mir gegenüber bestätigt, sie erinnere sich an einen Mann, der Anna Piat durch die Halle des Musée Masséna folgte. Sie haben mir noch nicht gesagt, wo ich Ihren Assistenten finden kann. Es ist außerordentlich wichtig.«
»Er ist hier bei mir. Wir erledigen alle Jobs gemeinsam. Warten Sie einen Augenblick. Ich rede mit ihm«, sagte Giraud.
Stille. Keine Nebengeräusche drangen zu Bernard. Jules hielt bestimmt das Mikro mit der Hand zu.
»Monsieur Bonnot?« Jules’ Stimme klang erstaunlich aufgeräumt.
»Ja?«
»Es ist bösartig von Ihnen, Patrick auch nur dem Hauch eines Verdachts auszusetzen, er hätte etwas mit dem Tod von Anna zu tun. Das wollen Sie doch! Patrick hat mir gerade versichert, er sei nach vorne zum Wagen gelaufen, um etwas zu holen. Ich weiß, das genügt Ihnen nicht. Ich kenne Typen wie Sie genau. Sie müssen alles fürchterlich aufbauschen und dramatisieren. Das Anna schlicht und banal auf der Treppe ausgerutscht ist, passt nicht in Ihr Weltbild. Normalerweise würde für mich der Spaß hier aufhören. Ich würde mit Ihnen nicht weitersprechen. Patrick hat mich aber davon überzeugt, dass es gut wäre, mit Ihnen zu reden. Er ist zu einem Treffen mit Ihnen bereit«, erklärte Jules, »als ein Zeichen, dass er nichts zu verbergen hat und hinter seinem angeblichen Verschwinden nichts Ungewöhnliches steckt. Sie würden sonst noch auf die absonderlichsten Ideen kommen. Ich reiche sie an Patrick weiter.«
»Ja?«, hörte Bernard eine männliche Stimme. Sie klang angenehm wohltuend, nicht so bestimmend wie die von Jules, der es gewohnt war, Anweisungen zu geben.
»Monsieur Laval?« Bernard legte gleich los. »Mir wurde von verschiedenen Seiten bestätigt, dass Sie während des Shootings zum gleichen Zeitpunkt wie Anna Piat verschwunden waren. Wo waren Sie?«
»Wie Monsieur Giraud bereits gesagt hat, klären wir das bei einem Treffen. Sie können froh sein, dass ich mich dazu bereit erkläre.«
»Das bin ich. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Kennen Sie die Boston Bar unweit des Hafens am Place de l’Île de Beauté?«
Bernard zuckte zusammen. Die Erinnerung an Christophes Faustschlag holte ihn wieder ein. »Ja, kenne ich.«
»Dort können wir uns treffen. Sie offerieren vorzügliche Drinks. Monsieur Bonnot, Ihr Misstrauen ist unbegründet. Wir werden einen schönen Abend verbringen, und Sie werden anschließend beruhigt nach Hause gehen können. Sie werden sehen, Sie interpretieren in den Tod von Anna etwas hinein, was nicht den Tatsachen entspricht. Wie Jules schon sagte: Es war ein Unfall. Nichts als ein Unfall. Zwanzig Uhr? Ist das okay für Sie?«
»Ich werde da sein.«