Bernard stand mitten im Raum, die Lippen fest aufeinandergepresst, und überlegte. Keine Minute zweifelte er daran, dass es so gewesen war, wie Nadine ihm erzählt hatte. Er stand unmittelbar vor der Lösung – und doch war er meilenweit davon entfernt.
Jules Giraud würde jeden versuchten und tatsächlich begangenen Missbrauch an Anna strikt leugnen. Schon jeder Nachweis einer Vergewaltigung war schwierig zu führen, wenn keine Spermaspuren vorlagen. In den meisten Fällen stand Aussage gegen Aussage. Und es galt: Im Zweifel für den Angeklagten. Nadine war keine Augenzeugin. Sie konnte zwar bezeugen, dass Anna aufgelöst und verstört unter der Dusche gestanden hatte; sie konnte aber nicht bezeugen, dass jemand sie missbraucht hatte.
Die eigentliche Zeugin, das Opfer, war tot.
Den Mord an Anna konnte Jules unmöglich begangen haben. Es gab zu viele Zeugen, die bestätigen konnten, dass er während des ganzen Shootings mit den anderen Models zusammen war und erst später mit ihnen zur Treppe ins Erdgeschoss gerannt war.
Ein siedend heißer Gedanke durchfuhr Bernard. Er nahm von der Garderobe einen leichten Blouson und warf ihn Nadine zu. »Komm!«, forderte er sie auf.
»Was hast du vor?«
»Wir wollen dem feinen Herrn mal richtig auf den Zahn fühlen. Das ist genau der richtige Augenblick, um so tief zu bohren, bis es richtig wehtut. Na los!«, forderte er sie erneut auf und zog sie an der Hand vom Stuhl hoch.
Nadine war noch in ihren Erinnerungen an diese Nacht gefangen.
»Hat Anna jemals einen Namen erwähnt? Habt ihr darüber gesprochen, was ihr passiert ist? Anna musste klar gewesen sein, dass du es wusstest.«
»Nein.«
»Und du? Hast du jemals versucht, die Nacht unter der Dusche zur Sprache zu bringen?«
Es war unnötig, dass Nadine darauf antwortete. Bernard wusste es auch so.
Sie traten auf den Flur hinaus. Davor stand ihre Mutter und hielt ihr Handy ans Ohr.
»Du bleibst hier!«, kreischte sie, als sie bemerkte, was Nadine vorhatte. »Ich telefoniere gerade mit deinem Bruder. Christophe wird dich aufspüren und zurückbringen, egal wo du gerade bist.«
Sie erreichten die Haustür. Bernard hielt es nicht länger aus, er musste Madame Piat sagen, was er ihr schon lange hatte sagen wollen.
»Sie hätten sich ein bisschen mehr für das Schicksal und für die Gefühlslage von Anna interessieren sollen, dann wäre sie wahrscheinlich noch am Leben, anstatt Ihre Kinder gegeneinander aufzuhetzen, damit sie sich gegenseitig ausspionieren.« Er löste sich abrupt von Yvonne Piat und zog die Haustür hinter sich ins Schloss.
»Da entlang.« Bernard wies Nadine den Weg in Richtung Place Mozart.
Nadine durfte jetzt nicht durchdrehen und die Nerven verlieren. Sie war seine wichtigste Zeugin. Nur durch sie kam er der Wahrheit, was mit Anna geschehen war, endgültig nahe.
Vom unteren Ende der Avenue Auber raste ein Wagen der Police Nationale heran. Bernard warf in der Dunkelheit kurz einen Blick zurück. Yvonne Piat hatte ihre Drohungen also wahr gemacht, den Ruhestörer bei dem illegalen Verhör ihrer Tochter aus dem Haus zu schmeißen. Seine Ex-Kollegen kamen aber zu spät.
Er öffnete die Tür zu einem Taxi und ließ Nadine in den Fond einsteigen. »Rue Antoine Gautier«, wies er den Fahrer an.
»Was hast du vor?«, fragte sie ihn erneut.
Anstatt ihr zu antworten, zückte er sein Handy. Er wollte die Last der Verantwortung nicht allein tragen. Es war ihm außerdem klar, dass er keine Verhaftung vornehmen durfte, selbst wenn es ihm gelingen sollte, Jules Giraud zu überführen. Er rief Philippe Plupart an.
»Ich bin’s, hör mir gut zu!«, legte er gleich los und ließ Philippe keine Zeit, um groß zu protestieren. »Ich weiß jetzt, wie alles zusammenhängt. Und ich weiß, wer Anna auf dem Gewissen hat. Jules Giraud, der Fotograf, hat Anna missbraucht. Sie ist in seine Wohnung gegangen. Weil er wollte, dass sie zu ihm kommt. Anna wollte ihm bloß sagen, dass sie sich dem Shooting nicht gewachsen fühle und nicht daran teilnehmen werde. Er hat sie aber nicht mehr aus seinem Apartment gehen lassen, sondern dort festgehalten. Ihre Schwester Nadine ist jetzt bei mir. Du kannst das anhand von Annas Handy überprüfen. Die Google-Standortbestimmung wird dir anzeigen, dass Anna Piat am 11. September um etwa einundzwanzig Uhr in der Rue Antoine Gautier war.«
Bernard ignorierte das Gemecker seines Ex-Kollegen, dass er bereits außer Dienst sein und mit seiner Frau auf der Couch sitze.
»Scheiß auf den Dienst, Philippe. Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Wie alles genau abgelaufen ist, vom 11. September bis zu Annas Tod, kann ich dir noch nicht sagen. Ich bin mit Nadine zu Jules Giraud unterwegs und werde ihn mit der Wahrheit konfrontieren. Es wird ihm nicht gelingen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ich werde ihn schon zum Reden bringen. Philippe, ich will dich dabeihaben. Ich brauche dich«, appellierte BB an seinen früheren Kollegen. »Durch dich wird die Untersuchung und jedes Verhör erst offiziell. Ich hoffe, du hast die Kameraaufzeichnung inzwischen auswerten lassen. Wenn nicht, musst du dies Versäumnis unverzüglich nachholen. Ich bin mir inzwischen sicher, dass darauf Patrick Laval, Jules’ treu ergebener Freund und Komplize, zu sehen ist.«
»Das wirst du nicht tun«, antwortete Philippe. »Du hältst das Mädchen da raus. Du wirst sie keiner Gefahr aussetzen. Du weißt, wohin das führt, BB.« Dann lenkte er ein. »Okay, wenn das alles so ist, wie du mir berichtest, übernehmen wir den Fall. Es gibt einen konkreten Verdacht. Einen Hinweis. Die Schwester wird bei der Police Judiciaire eine Aussage machen müssen. Du unternimmst nichts. Gar nichts. Du wirst dir keine Extratouren mehr leisten.«
Bernard lächelte zerknirscht. »Tut mir leid, Philippe. Es ist schon zu spät. Wir haben unser Ziel erreicht. Wir stehen genau in der Rue Antoine Gautier vor Jules Girauds Apartment. Ich kann jetzt nicht mehr zurück. Du weißt, wo du mich findest. Beeil dich!«
Auch Nadine erkannte, wohin Bernard sie führte. Sie schaute zu dem hell erleuchteten Fenster in der ersten Etage empor; sie konnte ihren Blick nicht davon lösen. Sie stand an derselben Stelle, wo sie vor Wochen schon einmal gestanden hatte. Damals hatte sie sich falsch entschieden.
»Ich kann nicht. Ich geh da nicht rein«, sagte sie.
Keinen weiteren Schritt konnte sie mehr machen. Eine unsichtbare Macht blockierte sie. Es gab niemanden, der sie zwingen konnte, einen Fuß in dieses Haus zu setzen – auch Bernard nicht. Für Nadine war das, als müsste sie noch einmal die Tortur durchleben, die Anna erlitten hatte.
Bernard bemerkte ihre ungeheure Anspannung. Er war entschlossen, den Täter mit seiner Tat zu konfrontieren. All die vielen Wochen konnte Giraud sich sicher fühlen, dass niemals ans Licht kam, was in dem Apartment geschehen war. Es lief bestens für ihn, besser konnte es nicht sein. Anna stürzte die Treppe hinunter. Es war ein Unfall, ein tragischer Unfall.
»Nadine, es ist wichtig«, redete er auf sie ein. »Du brauchst keine Angst zu haben. Es wird dir nichts geschehen.« Noch immer rührte Nadine sich nicht vom Fleck. »Ich habe meinen alten Kollegen Philippe Plupart angerufen. Gleich wird es hier von Polizisten wimmeln.« Bernard brach ab. Ein Blick auf Nadine genügte. In ihrem Kopf lief ein Film ab, den er auch mit den besten Argumenten nicht beeinflussen konnte. Er war sich nicht einmal sicher, ob seine Worte sie überhaupt erreichten. »Okay«, lenkte er ein. »Du musst nicht unbedingt dabei sein. Nicht sofort. Halt dich im Hintergrund auf. Mit dir rechnet Giraud nicht. Du bist mein Joker. Du trittst erst auf, wenn ich dir ein Zeichen gebe. Okay?«
Nadine murmelte ein leises, kaum hörbares Okay. Aber nichts war okay an diesem Abend, genauso wenig wie an jenem Tag, als Anna unter der Dusche stand und nicht herauskam, oder überhaupt, seitdem sie tot war. Es zerriss Nadine.
»Warte hier«, sagte Bernard zu ihr. »Es dauert nicht lange. Ich gebe dir Bescheid, wenn du kommen sollst.« Bernard lief zielstrebig auf den Eingang zu.
»Lass mich nicht zu lange warten«, rief Nadine ihm hinterher. »Ich sollte verdammt noch mal nicht hier sein.«
Bernard suchte nach dem Namen »Giraud«. Er klingelte. Die Gegensprechanlage wurde betätigt.
»Ja?«
Eine männliche Stimme. Zweifellos: der Fotograf selbst.
»Hat Anna sich schutzlos und ohnmächtig gefühlt, als sie am 11. September bei Ihnen war, Monsieur Giraud, oder hat sie sich gewehrt?«, sagte Bernard, anstatt seinen Namen zu nennen.
Eine Pause. Keine Antwort. Kein Protest. Keine wütende Widerrede. Jules Giraud wusste selbstverständlich genau, wer zu dieser späten Stunde bei ihm vor der Tür stand. Der Summer wurde betätigt. Bernard drückte die Haustür auf, lief einen langen Flur entlang. Auf dem Marmorboden klackten seine Ledersohlen. Er fürchtete, dass von dem Geräusch das ganze Haus aufgeschreckt werden könnte.
Am Ende des Flurs befand sich ein alter, vergitterter Aufzug. Bernard bevorzugte die Treppe. Dass Giraud schweigend aufgedrückt hatte, gefiel ihm nicht. Er stellte sich lebhaft vor, dass Giraud in Windeseile alle Möglichkeiten durchspielte, die ihm noch blieben. Bei einem Einsatz der Police Judiciaire hätte Bernard jetzt seine Waffe gezückt. Etwas in ihm sagte, sei sehr, sehr vorsichtig. Hier stimmte was nicht.
Die schwere Eichenholztür mit messingbeschlagenen Türgriffen stand einen Spalt offen. Das wirkte einladend, als würde er erwartet. Er drückte sie ein wenig auf. Von drinnen drang ein Lichtschein nach draußen.
»Monsieur Giraud?«, rief Bonnot. »Monsieur Giraud, sind Sie da?« Er setzte seinen ersten Schritt in die Wohnung. Er rief wieder.
Vor sich sah er einen athletischen Mann stehen, der ihm den Rücken zugekehrt hatte. Der Mann drehte sich langsam zu ihm um. Es war Giraud. Er stand im Wohnzimmer an der amerikanischen Kochinsel. Er trug eine Schürze und hielt ein großes Küchenmesser in der Hand.
»Ah, Monsieur Bonnot! Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches zu so später Stunde? Genügen Ihnen Patricks Erklärungen immer noch nicht, dass Sie zu mir kommen müssen?«
In dem Moment fiel die Tür ins Schloss. Bernard drehte sich blitzschnell um und starrte auf den hünenhaften Patrick Laval, der direkt hinter ihm stand.