Angeboren versus vererbt

»Angeboren« bedeutet nicht dasselbe wie »vererbt«. In dem Moment, in dem die Gene unseres Vaters und unserer Mutter vermischt sind, wird ein wesentlicher Teil unseres Charakters, unseres IQ und unseres Risikos, an Hirnkrankheiten zu erkranken, für immer festgelegt. Aber nach der Zeugung gewinnt auch die Umgebung in der Gebärmutter entscheidenden Einfluss auf die Hirnentwicklung. An der genetischen Hypothek, die dem Kind mitgegeben wird, können wir nur in Ausnahmefällen etwas ändern. Beim Down-Syndrom und anderen Chromosomendefekten kann man den Weg der pränatalen Diagnostik beschreiten. Wird hierbei ein krankheitserregendes Gen entdeckt, kann man einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. In manchen Fällen kann man eine In-vitro-Fertilisation durchführen und über eine Embryoselektion einen Embryo auswählen, bei dem diese Erkrankung nicht vorliegt, und ihn dann in die Gebärmutter einpflanzen. Das wird beispielsweise bei einer sehr frühen, familiär bedingten Form der Alzheimer-Erkrankung getan. Bei einem neugeborenen Baby wurden mittels einer Fersenblutentnahme eine Reihe genetischer Krankheiten gescreent, deren Behandlung eine Schädigung des Gehirns in seiner Entwicklung verhindern kann. Mit diesem Verfahren wird das Kind auch auf eine kongenitale Nebennierenhyperplasie (CAH) untersucht, eine genetische Störung, die dazu führt, dass die Nebennieren das Stresshormon Cortisol nicht mehr produzieren können und stattdessen zu viel Testosteron erzeugen. Damit kann nicht nur die sexuelle Differenzierung des Gehirns beeinträchtigt werden, auch eine akute ernsthafte Erkrankung des Kindes ist möglich. Die Untersuchung erstreckt sich auch auf kongenitale Hypothyreose, einen angeborenen Mangel an Schilddrüsenhormonen, der die Hirnentwicklung behindert, und auf Phenylketonurie (PKU), eine Stoffwechselkrankheit, bei der eine Diät die Schädigung des Gehirns verhindern kann. Die Heilung von Hirnkrankheiten durch den Einsatz molekularer Techniken ist noch nicht möglich.

Zwar sind Umgebungsfaktoren für die Hirnentwicklung entscheidend, aber im Gegensatz zu dem, was man in den sechziger und siebziger Jahren dachte, kommt der sozialen Umgebung nach der Geburt weitaus weniger Bedeutung zu als der chemischen Umgebung vor der Geburt. Je früher die Entwicklung beeinflusst wird, desto stärker ist die Auswirkung auf die Hirnentwicklung. In der frühen Entwicklungsphase lässt sich die Gesundheit des Kindes positiv beeinflussen, mit wesentlichem Gewinn für sein ganzes Leben. Dass etwa der Rat befolgt wird, äußerst zurückhaltend mit der Gabe von Medikamenten zu sein und das Kind nicht anderen chemischen Stoffen auszusetzen, die sich auf seine Hirnentwicklung auswirken, sowie eine gute Ernährung und eine ausreichende Versorgung mit Jod sicherzustellen, das für die Funktion der Schilddrüsenhormone von Mutter und Kind erforderlich ist. Wir wissen aus der Amsterdamer Hungerwinter-Studie, dass eine intrauterine Unterversorgung die Gefahr von Schizophrenie, Depressionen, antisozialen Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen und Fettsucht erhöht. Ich hatte während meines intrauterinen Aufenthalts 1944 das Glück, dass Freunde und Bekannte meine schwangere Mutter mit extra Lebensmitteln versorgten. Wo sie die herhatten, weiß ich nicht. Außerdem hatte meine Mutter genug Milch, um sogar noch ein untergetauchtes Kind im Versteck mit durchzufüttern. Um wen es sich handelte, haben wir nie erfahren. Die Muttermilch wurde durch eine Reihe weiblicher Kuriere von Hand zu Hand weitergegeben. Dieses Glück haben 200 Millionen Kinder auf der ganzen Welt heute immer noch nicht und laufen daher Gefahr, in einen Teufelskreis zu geraten. Unterernährung des Kindes in der Gebärmutter beeinträchtigt seine Hirnfunktionen, so dass es später als Erwachsener nicht in der Lage ist, optimale Lebensbedingungen herzustellen und so eine ausreichende Ernährung der nächsten Generation zu gewährleisten. Nur eine bessere Verteilung der weltweit vorhandenen Nahrungsressourcen kann diesen Teufelskreis durchbrechen. Außerdem gibt es weltweit noch immer jodarme Regionen. Da bei Jodmangel die Schilddrüse von Mutter und Kind unzureichend funktioniert, entwickelt sich das Gehirn nicht optimal, und es kommt zu geistigen Defiziten. Im Grunde ließe sich dieses Problem durch eine planvolle Verteilung von Jodsalz in diesen Regionen einfach aus der Welt schaffen.