VIII.2 Koma und komaähnliche Zustände

Es ist, als wäre er zweimal verlassen worden, zuerst von seinem Gehirn und dann von den Leuten, die ihn kannten. Denn niemand kommt zu Besuch.

BERT KEIZER, ONVERKLAARBAAR BEWOOND (UNERKLÄRLICH BEWOHNT, 2010)

In Zusammenhang mit Problemen, die unser Lebensende betreffen, kommen regelmäßig eine Reihe neurologischer Begriffe zur Sprache, die erklärungsbedürftig sind. Unter »Koma« versteht man einen Zustand, aus dem ein Patient nicht aufzuwecken ist und in dem er nicht auf äußere Reize reagiert. Ursache eines Komas kann eine Schädigung der Hirnrinde, des Thalamus, der Verbindungen zwischen diesen beiden Hirnstrukturen (Abb. 17) oder des Hirnstamms (Abb. 18) sein, der die Hirnrinde und den Thalamus aktiviert. Aber es kann auch durch eine Stoffwechselstörung des Gehirns sowie durch Drogen oder Alkohol, das sogenannte Komasaufen, verursacht werden. Einige der Betroffenen erwachen wieder daraus, wie ein junger Mann, der nach einer abendlichen Kneipentour mit Freunden in hohem Tempo gegen den Betonpfeiler einer Überführung fuhr und sechs Wochen im Koma lag. Man sprach mit den Angehörigen bereits über ihn als möglichen Organspender für eine Nierentransplantation. Die Angehörigen glaubten jedoch, Anzeichen von Kontaktaufnahme zu erkennen, und verhielten sich abwartend. Und das zu Recht. Denn er erwachte aus dem Koma und konnte seine Ausbildung an der Ingenieurschule abschließen. Er war kein so brillanter Mathematiker mehr wie vor dem Unfall, aber davon abgesehen hatte er keine Beschwerden. Er fand eine gute Stelle, bekam Kinder und ist heute Großvater. Aber es läuft längst nicht immer so gut. Oft erwachen Menschen aus dem Koma mit schwerwiegenden bleibenden Hirnschäden, und ein Koma kann auch zum Dauerzustand werden.

Vegetativer Zustand

Im Hirnstamm (Abb. 18) werden überlebenswichtige Funktionen wie die Atmung, der Herzschlag, die Temperatur und der Wechsel von Wachen und Schlafen reguliert. Dieser Teil des Gehirns enthält auch die Reflexzentren, die das Husten, Niesen und Erbrechen steuern. Solange der Hirnstamm noch intakt ist, atmet ein Mensch weiter, auch wenn der Rest des Gehirns nicht mehr funktionsfähig ist. Diese tragische Situation tritt bei Patienten ein, die nach einer schwerwiegenden Schädigung des Gehirns aus einem tiefen Koma erwachen, die Augen öffnen, dann aber nicht allmählich genesen, sondern »wie ein Pflanze« weiterleben. In der gleichen Lage befindet sich im Grunde auch ein Patient im Endstadium einer Alzheimer-Erkrankung. Er liegt in Fetushaltung im Bett, seine Hirnrinde ist nicht mehr funktionsfähig, und er reagiert nicht mehr auf die Umgebung (Abb. 28). Die Hirnrinde brauchen wir, um denken, sprechen, Emotionen fühlen sowie Arme und Beine bewegen zu können. In einem »Coma vigile« oder »vegetativen Zustand«, auch »Wachkoma« oder »apallisches Syndrom« genannt, sind die Hirnstammfunktionen noch intakt, während der Rest des Gehirns, vor allem die Hirnrinde, nicht mehr funktioniert. Die meisten Patienten kommen aus einem solchen vegetativen Zustand nach einigen Wochen allmählich wieder zu Bewusstsein. Wenn die Hirnrinde jedoch irreversibel geschädigt ist, spricht man von einem »permanenten vegetativen Zustand«. Diese Patienten sind nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen, sie atmen spontan, haben einen normalen Herzschlag und sind daher nach klassischer Definition nicht »tot«, sondern »lebendig«. Ihre Augen sind womöglich weit geöffnet, sie ächzen und geben Geräusche von sich, als würden sie lachen oder weinen, ohne entsprechende Emotionen zu empfinden. Für Außenstehende wirken sie dadurch »wach«, sie zeigen jedoch keine körperlichen Reaktionen, an denen sich ablesen ließe, dass sie über ein gewisses Maß an Umgebungs- oder Selbstbewusstsein verfügen. Weil sie einen »wachen« Eindruck machen, hin und wieder das Gesicht verziehen und Geräusche von sich geben, fällt es den Angehörigen äußerst schwer zu akzeptieren, dass sich diese Patienten in einem permanenten vegetativen Zustand befinden und nicht bei Bewusstsein, sondern »hirntot« sind. Vor dem gleichen gewaltigen Problem stehen Eltern von Neugeborenen, die eine starke Hirnblutung erlitten haben. Das Kind sieht völlig normal aus, obwohl der größte Teil seines Gehirns nicht mehr vorhanden ist.

Abb. 18

Gehirn in Untersicht: Im Hirnstamm (1) werden Atmung, Herzschlag, Temperatur und Schlaf-wach-Rhythmus reguliert., Das Riechsystem besteht aus dem Bulbus olfactorius (2), dem Riechnerv, dem Nervus olfactorius (3) und der Hirnrinde dieses Systems, dem Uncus (4). Außerdem sind hier zu sehen: die Sehnervkreuzung (optisches Chiasma) (5), die Corpora mamillaria (6) und dazwischen die Hypophyse (7).

Wie man im Fall der Amerikanerin Terri Schiavo sehen konnte, ist es Patienten im vegetativen Zustand möglich, mit Hilfe künstlicher Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr jahrelang am Leben zu bleiben. Terri Schiavo fiel 1998 in einen vegetativen Zustand. Ihr Ehemann und gesetzlicher Vormund wollte nicht, dass man sie in diesem Zustand länger am Leben hielt, doch ihren Eltern gelang es über Jahre hinweg, jegliche Sterbehilfe zu verhindern. Der Fall ging mit großem juristischem Säbelgerassel durch mehrere Instanzen, während der Ehemann von »Pro-Life«-Demonstranten als Mörder beschimpft wurde. Das ist erstaunlich, denn schließlich sind die meisten Pro-Life-Anhänger für die Todesstrafe, und diese Bewegung ist für einige Morde verantwortlich! Erst nach sieben Jahren, nachdem ihr auf richterliche Anordnung hin die Nahrungssonde entfernt wurde, war es möglich, sie sterben zu lassen. Die anschließende Obduktion bestätigte, dass von der Hirnrinde nur noch wenig erhalten war und tatsächlich während der ganzen Zeit für sie nicht die geringste Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben bestanden hatte.

Eluana Englaro lag seit 1992 in Italien im Koma. Damals hatte sie einen Autounfall, bei dem ihre Hirnrinde irreversibel geschädigt wurde. Auch weil seine Tochter ihm gegenüber früher erwähnt hatte, niemals »wie eine Pflanze« weiterleben zu wollen, begann ihr Vater nach sieben Jahren juristisch um die Einwilligung zu kämpfen, die künstliche Ernährung einzustellen. Neun Jahre später, am 8. Juli 2008, erfolgte die höchstrichterliche Genehmigung, die Sondenernährung einzustellen. Das war ein bemerkenswertes Urteil, da in Italien Sterbehilfe verboten ist. Eluana wurde in eine Klinik verlegt, in der man sie sterben lassen wollte, doch der Vatikan und die Regierung versuchten, ihren Tod zu verhindern. »Stoppt die Mörderhand«, lautete wie zu erwarten die Reaktion des Kardinals, der das Amt des vatikanischen Gesundheitsministers innehatte. Nachdem der Staatspräsident das Dekret der Regierung Berlusconi, das Eluanas »Tod« verhindern sollte, nicht unterzeichnet hatte, versuchte Berlusconi, eine Notverordnung durchzupeitschen. Zum Glück für die unmittelbar Betroffenen gelang ihm das nicht schnell genug; einige Tage nach der Entfernung der Sonde starb Eluana.

In den Niederlanden wird ein Leben in einem permanenten vegetativen Zustand nicht als menschenwürdige Existenz gesehen. Daher betrachtet man es als medizinisch sinnlos, diese Menschen am Leben zu erhalten, und entscheidet sich im Dialog mit den Angehörigen meistens dafür, die Behandlung abzubrechen. Weil dabei eine medizinisch sinnlose Behandlung abgebrochen wird, handelt es sich im formalen Sinne nicht um Sterbehilfe. Doch auch in den Niederlanden gibt es Patienten, die längere Zeit im Koma liegen. Es ist schändlich, dass im Internet mit der Verzweiflung der Angehörigen Schindluder getrieben wird. CWUBS (»Coma Wake Up Brains Stimulations«) bietet beispielsweise für mehr als 10000 Euro eine Therapie an, die Patienten aus einem persistierenden vegetativen Zustand aufwecken soll. Doch selbst mit 100000 Euro kann man Patienten, deren Hirnrinde irreversibel geschädigt ist, nicht aus einem vegetativen Koma herausholen. Wer von einer solchen Therapie profitiert, ist einzig die CWUBS.

Locked-in-Syndrom

Durch den Hirnstamm ziehen sich sowohl die abwärts verlaufenden Nervenfasern, die unsere Muskeln steuern, als auch die zum Gehirn aufwärts führenden Gefühls- und Schmerzbahnen. Das Gegenteil eines vegetativen Zustands erlebt ein Patient mit »Locked-in-Syndrom«. Bei diesen Patienten verursacht eine Schädigung tief im Hirnstamm eine vollständige Trennung von Gehirn und Rückenmark. Abgesehen davon ist das Gehirn völlig intakt und der Patient bei vollem Bewusstsein. Weil er jedoch gänzlich gelähmt ist, ist es ihm unmöglich, anderen seine Lage verständlich zu machen. Er kann zwar alles hören, sehen und begreifen, sich aber weder bewegen noch sprechen. Er ist lediglich noch in der Lage, die Lider zu schließen und die Augen zu bewegen.

1995 erlitt der Pariser Journalist Jean-Dominique Bauby eine Hirnblutung, nach der er zwanzig Tage im Koma lag. In der darauffolgenden Zeit kommunizierte man mit ihm, indem man ihm das Alphabet vorlas, bis er bei der Nennung des richtigen Buchstabens einmal zwinkerte. Auf diese Weise schrieb er Buchstabe für Buchstabe das Buch Schmetterling und Taucherglocke. Es dokumentiert, dass er sich seiner Umgebung, seiner selbst und der elenden Lage, in der er sich befand, vollkommen bewusst war. 2007 wurde das Buch unter demselben Titel eindrucksvoll verfilmt. In einer Szene des Films wird auch vorgelesen, wie Dumas in Der Graf von Monte Christo (1844) die Erkrankung des Monsieur Noirtier de Villeforte beschreibt, der nach einer Hirnblutung am Locked-in-Syndrom leidet. Er kann nicht mehr sprechen, weder Arme noch Beine bewegen und dennoch allein durch die Bewegung seiner Augen und Augenlider einen Giftmord und eine unerwünschte Heirat verhindern. Jüngeren Datums ist der Fall von Nick Chisholm aus Neuseeland, der im Jahr 2000 beim Rugby das Bewusstsein verloren hatte. Zunächst schien es sich nur um eine simple Gehirnerschütterung zu handeln, doch dann hatte er eine Reihe epileptischer Anfälle und Hirnstamminfarkte. Man dachte, er läge im Koma, bis seine Mutter und seine Freundin wiederholt darauf aufmerksam machten, dass er sich dessen, was sich in seinem Umfeld abspielte, bewusst sei. Das war tatsächlich der Fall, und so stellte sich heraus, dass Nick Chisholm am Locked-in-Syndrom litt, von dem er inzwischen wieder genesen ist. Die Familie erkennt oft früher als der Arzt, dass ein Kontakt zu einem komatösen Patient möglich ist, andererseits nimmt sie aber auch häufiger als der Arzt zu Unrecht an, dass ein solcher Kontakt besteht.

Hirntod

Vor dem Zeitalter der Transplantationen war die Diagnose »tot« einfach zu stellen: Herzschlag und Atmung mussten aussetzen, und ihr Wiedereinsetzen war nach ärztlicher Auffassung nicht zu erwarten. Als Arzt war man vielleicht für einige Minuten in Ungewissheit, doch dann stand die Unumkehrbarkeit des Prozesses fest. Nur gelegentlich kam es vor, dass ein Skifahrer, der ohne Anzeichen von Herzschlag und Atmung unterkühlt aus einer Lawine geborgen worden war, danach wieder vollkommen gesund wurde. Diese vereinzelten Fälle von Scheintod sind so berühmt, weil sie nur äußerst selten vorkommen. 1244 bewegte sich der französische König Ludwig IX. während der Totenmesse in seinem Sarg, worauf das Begräbnis ausgesetzt wurde. Er erholte sich vollständig von seiner Krankheit und brach zu einem Kreuzzug nach Ägypten auf, wo er dem Tod reichlich zurückerstattete, was er selbst ihm schuldig geblieben war. Um dem Problem des Scheintods zu begegnen, kannte man den Überlieferungen zufolge in Frankreich früher den Beruf des »croque-mort«. Eine Person, die angeblich kräftig in den großen Zeh des Verstorbenen biss, um sicherzugehen, dass dieser tot war. Vor einigen Jahren kam es auch in den Niederlanden noch zu einer irrtümlichen Todesfeststellung. Ein Hausarzt hatte eine 83-jährige Frau für tot erklärt. Als die Bestatter die Leiche vom Fußboden des Badezimmers anhoben, sagte sie leise »Au«. Der alten Frau ging es danach wieder gut, dem Arzt weniger.

Seit Patienten mit gravierenden Hirnschädigungen an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden, hat die klassische Diagnose »tot« ausgedient. Denn Herzschlag und Atmung werden künstlich in Gang gehalten, auch wenn der Patient »ohne Bewusstsein« oder »hirntot« ist. Dieser Zustand kann unendlich lange andauern. Wie etwa beim früheren israelischen Ministerpräsidenten Scharon, der nach einer starken Hirnblutung seit 2006 an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist. Seine Söhne wachen darüber, dass die Beatmung nicht eingestellt wird. In dieser Situation lautet die Diagnose nicht »tot«, sondern »hirntot«.

Für die »Hirntod«-Diagnose verwendete man ursprünglich die Definition: »irreversibler Ausfall aller Hirnfunktionen«.

Doch das Gehirn jedes vierten hirntoten Patienten produziert noch das antidiuretische Hormon (ADH = Vasopressin), ein Hormon, mit dessen Hilfe unser Körper in den Nieren jeden Tag viele Liter Wasser aus dem Urin zurückresorbiert (siehe Kap. VI.1). Sind die Hirnzellen, die ADH produzieren, abgestorben, erkennt man das sofort am Urinbeutel, der, an einen Katheter angeschlossen, neben dem Bett hängt. Denn darin sammeln sich dann tagtäglich 10 bis 15 Liter wässriger Urin. Bei hirntoten Patienten, deren ADH-produzierende Hirnzellen noch funktionsfähig sind, fließen pro Tag nur anderthalb Liter stark konzentrierter Urin in den Beutel. Auch andere Hirnzellengruppen können bei hirntoten Patienten aktiv sein, aber sie tragen nicht zur Wiedererlangung des Bewusstseins bei. Später definierte man »Hirntod« entsprechend den Harvard-Kriterien (benannt nach der berühmten amerikanischen Universität, an der diese Kriterien formuliert worden waren) als das irreversible Auftreten lichtstarrer Pupillen, das Fehlen von Hirnstammreflexen und einen permanenten Verlust der »höheren Hirnfunktionen« wie Kognition und Bewusstsein. Letzteres stellt eigentlich eine logische Umkehrung von Descartes’ Credo cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) dar. Wenn jemand nicht mehr denken kann, weil sein Gehirn nicht mehr funktioniert, existiert er auch als Person nicht mehr.

Transplantation

Auch bei der Organtransplantation spielt die Feststellung des Hirntods eine wichtige Rolle. Der niederländische Gesundheitsrat (ein unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium der niederländischen Regierung) empfiehlt, neben einer ausführlichen Untersuchung nach den oben genannten Kriterien zudem sicherzustellen, dass im Gehirn keine elektrische Aktivität und Durchblutung mehr vorliegen. Zuletzt ist die Beatmung kurzzeitig auszusetzen, um festzustellen bzw. auszuschließen, dass Spontanatmung einsetzt. Dies erhöht noch einmal die Gewissheit, dass der potenzielle Organspender wirklich hirntot ist. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind und ein Spenderausweis vorliegt, dürfen die Organe transplantiert werden. Da der Patient sich unter diesen Umständen seines Körpers nicht mehr bewusst ist, darf man die vom Rückenmark übertragenen reflexartigen Reaktionen, die auftreten, wenn Chirurgen die Organe eines hirntoten Patienten entnehmen, natürlich nicht als Ausdruck eines Schmerzgefühls interpretieren. Das ist leicht gesagt, doch für den Chirurgen, der die körperliche Reaktion wahrnimmt, wenn er das Messer ansetzt, um die Organe des hirntoten Patienten zu entnehmen, sieht die Sache doch etwas anders aus. In England nimmt man bei einer solchen Prozedur daher lieber eine Narkose vor. Die Niederländische Gesellschaft für Anästhesiologie (Nederlandse Vereniging voor Anesthesiologie) hält das für unsinnig, und aus wissenschaftlicher Sicht hat sie damit recht. Die Narkose wird jedoch nicht vorgenommen, um den hirntoten Patienten, sondern um den Transplantationschirurgen vor Ungemach zu bewahren.