IX.3 Aggression, Hirnkrankheiten und Gefängnis

Wie oft verstößt unser Strafrechtssystem wohl gegen die Regel, dass das Strafgesetz nicht auf Menschen mit einer Hirnkrankheit anzuwenden ist?

Seit Daniel McNaughton 1843 einen Mord beging und zur großen Empörung des viktorianischen England dafür nicht bestraft, sondern in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, ist man sich darüber einig, dass das Strafrecht nicht auf Personen mit einer Hirnkrankheit anzuwenden ist. Dennoch sind die Gefängnisse voll mit Menschen, die an einer psychiatrischen oder neurologischen Krankheit leiden. Nach Auffassung von Theo Doreleijers, Professor für forensische Psychiatrie und Jugendpsychiatrie in Amsterdam, leiden in den Niederlanden 90 Prozent der inhaftierten Jugendlichen unter einer psychiatrischen Störung und 30 Prozent der Sicherheitsverwahrten unter ADHS. Seiner Meinung nach sind die Niederlande in Europa führend darin, Kinder einzusperren, denen eine Behandlung in einer forensischen Tagesklinik besser helfen würde als eine Haftstrafe. Für Hirnerkrankungen, die mit aggressivem Verhalten einhergehen, sind zwei zusammenwirkende Hirnregionen besonders wichtig: der präfrontale Cortex (Abb. 12) und die Amygdala (Abb. 24).

Der vordere Teil unseres Gehirns, der präfrontale Cortex, hemmt unser Aggressionsverhalten und ist für unser moralisches Urteil maßgeblich. Kindern mit einer Schädigung des präfrontalen Cortex fällt es oft schwer, moralische und soziale Regeln zu erlernen. Vietnamveteranen mit einer Schädigung des präfrontalen Cortex wurden aggressiver und gewalttätiger, und bei affektgesteuerten Mördern ist der präfrontale Cortex ungewöhnlich passiv. Hirnkrankheiten, die den präfrontalen Cortex beeinträchtigen, gehen oft mit aggressivem Verhalten einher. Bei einem Chirurgen, der nach Beendigung der Operation seinen Namen in den Bauch des Patienten geritzt hatte, stellte sich heraus, dass er unter der beginnenden Pick-Krankheit litt, einer Form der Demenz, die im präfrontalen Cortex einsetzt. Schizophrenie, eine Erkrankung, bei der der präfrontale Cortex ebenfalls weniger aktiv ist, führt manchmal ebenfalls zu aggressivem Verhalten. John Hinckley wurde wegen seines missglückten Anschlags auf Präsident Reagan berühmt. Eine Kugel aus Hinkleys Pistole traf Reagan unter der linken Achsel und bohrte sich in den linken Lungenflügel, wo sie zwei Zentimeter vom Herz entfernt stecken blieb. Die Scannerbilder von Hinckleys Gehirn, die um die ganze Welt gingen, zeigten eine deutliche Schrumpfung des Gehirns, wie sie bei Schizophrenie oft vorkommt. Er sitzt noch immer in Haft. Ein anderes Beispiel ist der schizophrene Patient Mijailo Mijailovi’c, der 2003 die schwedische Außenministerin Anna Lindt ermordete, als er seine Medikamente nicht genommen hatte. Er behauptete, Jesus habe ihn auserwählt und er habe Stimmen gehört, die ihm den Auftrag zu diesem Mord gegeben hätten. Umgekehrt kann aggressives Verhalten durchaus auch das erste Symptom einer Schizophrenie sein.

Vorn im Schläfenlappen (Temporallappen) des Gehirns liegt die Amygdala (Abb. 23), sie hat die Größe einer Mandel. Wenn man während einer Obduktion das weiche Gehirn eines Patienten in Händen hält, kann man an der vorderen Spitze des Temporallappens das festere Knötchen der Amygdala ertasten. Die genaue Stelle und die Art, in der man die Amygdala stimuliert, entscheiden darüber, ob aggressives Verhalten gehemmt oder gefördert wird. Die hemmende Wirkung demonstrierte der spanische Forscher Delgado in eindrucksvoller Weise, als er einen angreifenden Stier in der Arena dazu brachte, unmittelbar vor ihm abzubremsen, indem er die Amygdala des Stiers aus der Ferne elektrisch stimulierte. Wenn man ihre Amygdala beidseitig deaktiviert, wird sogar eine Kanalratte handzahm. Bei manchen Psychopathen ist die Funktion der Amygdala gestört. Sie können aus den Gesichtern ihrer Opfer nicht ablesen, was sie ihnen antun, und entwickeln daher auch keine Empathie. 1966 erschoss Charles Whitman, nachdem er zunächst seine Frau und seine Mutter ermordet hatte, an einer texanischen Universität 14 Menschen und verwundete 31 weitere. In seinem Temporallappen fand man einen Tumor, der auf die Amygdala drückte. Da stellt sich einem wirklich die Frage, wie viele der Menschen, die an Schulen und anderen Orten in den USA und anderswo plötzlich wild um sich ballern, an einer Hirnkrankheit leiden.

Ulrike Meinhoff wandelte sich von einer kritischen Journalistin zur Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion. Diese Gruppe ermordete 34 Menschen. 1976 beging Ulrike Meinhoff in ihrer Zelle Selbstmord. Schon früher hatte sich gezeigt, dass diese Terroristin ein Aneurysma hatte, eine Ausbeulung an einer Schwachstelle eines Blutgefäßes, die gegen die Unterseite des Gehirns genau auf die Amygdala drückte und eine bleibende Schädigung verursachte. Bei der Operation ihres Aneurysmas hatte der Neurochirurg überdies noch den präfrontalen Cortex beschädigt. Es bestanden für sie also zwei Ursachen, ein aggressives und straffälliges Verhalten zu entwickeln.

Andere Hirnkrankheiten, die aggressives Verhalten mit sich bringen, sind Stimmungsstörungen, die Borderline-Persönlichkeitsstörung, kognitive Defizite, Hirnschläge, MS, die Parkinson- und die Huntington-Krankheit. Sogar demente Patienten können aggressiv sein. Erst 2003 hat die Demenz einer 81-jährigen Patientin in den Niederlanden zu einem Mord an ihrer 80-jährigen, ebenfalls dementen Zimmergenossin geführt. Die Täterin wurde vollkommen verwirrt auf der Toilette gefunden. Als sie von einer Betreuerin ins Bett gebracht wurde, entdeckte man das Opfer. Zum Glück stellte die Staatsanwaltschaft keinen Strafantrag. In »zivilisierten« Ländern wie den USA und Japan können schizophrene Patienten, die einen Mord begangen haben, noch immer zum Tod verurteilt werden. Das kommt bei uns hoffentlich nie mehr vor. Aber wie oft wird wohl bei uns gegen die McNaugthon-Regel verstoßen?