X.4 Das Gehirn der Savants

Ein Hirnschaden im Kindesalter scheint für die Ausbildung von Savant-Eigenschaften günstig zu sein, weil das Gehirn dann noch effizient neue Verbindungen mit anderen Strukturen herstellen kann.

Es gibt diverse Theorien über die neurobiologischen Ursachen des Savant-Syndroms. Die außergewöhnlichen Begabungen, die zu diesem Syndrom gehören, entwickeln sich fast nie ohne die Präsenz eines Hirnschadens, meistens auf der linken Seite. Dadurch werden stärkere Verbindungen zu anderen Hirnstrukturen möglich, was zu einer hervorragenden Leistung des visuellen Cortex führt, der Hirnrinde, mit der wir sehen. In der Tat gibt es auch diverse Beispiele, die diese Hypothese stützen. Kim Peek hatte einen Hirnschaden links. In seinem Gehirn gab es keine Links-rechts-Verbindungen. Er ist imstande, in Windeseile zwei Seiten gleichzeitig zu lesen, mit jedem Auge eine. Auf diese Weise hat er 9000 Bücher über die Geschichte der Vereinigten Staaten gelesen, die er auch alle auswendig kennt. Aber er kann nicht allein leben. Sein Vater hilft ihm den ganzen Tag.

Epilepsie tritt oft zusammen mit Autismus auf. Brainman Daniel Tammet bekam mit vier Jahren seinen ersten ernsten epileptischen Anfall und wurde drei Jahre lang wirksam mit Valium behandelt. Bei ihm handelte es sich um eine linksseitige Temporallappenepilepsie, was seinen Schreibzwang im Alter von etwa sieben Jahren und seine späteren religiösen Gefühle erklären könnte (siehe Kap. XVI.8). Linksseitige Schädigungen des Gehirns könnten eine rechtsseitige Kompensation im Gehirn bewirken und so das Rechnen fördern, doch bei Tammet ist nach den epileptischen Anfällen nicht das geringste Anzeichen eines bleibenden Schadens an der linken Seite festzustellen, im Gegenteil, er ist auch ein Sprachgenie.

Es gibt eine Theorie, die behauptet, dass jeder Mensch Savant-Talente besitze, die in »niedrigeren« Arealen unter der Hirnrinde lokalisiert seien, aber von den »höheren« Prozessen unterdrückt würden. Der Forscher Darold Treffert bezeichnet das als »der kleine Rainman«, der bei jedem von uns im Gehirn einquartiert sei. Diese verborgenen Begabungen könnten erst zum Ausdruck kommen, wenn der Teil des Gehirns ausgeschaltet werde, der für höhere Funktionen verantwortlich ist. Es gibt tatsächlich Menschen, die eine Art von Demenz bekommen, die links-frontal einsetzt. Im Verlauf des Krankheitsprozesses entwickeln sie mitunter savantartige Eigenschaften: Sie beginnen beispielsweise zwanghaft zu malen. Diese kreative Explosion wird bei solchen Patienten von einer Zerstörung der Sprach- und sozialen Fähigkeiten begleitet. Das aktivste Hirngebiet befindet sich dann an der rechten Rückseite des Gehirns, dem visuellen Areal. Schaltet man bei gesunden Probanden das linke fronto-temporale Hirngebiet durch magnetische Stimulation aus, dann können sich bei einigen von ihnen Verbesserungen der Hirnprozesse ergeben, etwa beim Zeichnen, bei der Mathematik und beim Kalenderrechnen. Diese Steigerungen haben jedoch einen sehr bescheidenen Umfang und bringen keine besonderen künstlerischen Leistungen hervor. Das Konzept des »kleinen Rainman im Gehirn eines jeden« liefert uns also keine echte Erklärung für das Syndrom und lässt zudem die erbliche Komponente bei Savants außer Acht.

Für die Entwicklung von Savant-Eigenschaften scheint eine Gehirnschädigung im Kindesalter günstiger zu sein als in einem späteren Alter, wahrscheinlich weil das Gehirn dann noch effizient neue Verbindungen mit anderen Strukturen eingehen kann. Ein japanischer Savant bekam im Alter von vier Jahren Keuchhusten und eine Maserninfektion. Danach fiel er in seiner Sprach- und Sprechentwicklung zurück, zeichnete jedoch mit elf Jahren wunderbare Insekten in allen Einzelheiten.

Bisweilen wird behauptet, die Begabungen von Savants beruhten einzig und allein auf Training. Tammet bemerkte scherzhaft, dass er so gut zählen gelernt habe, weil er aus einer Familie mit neun Kindern stammt. Tatsächlich erreichen Savant-Talente u.a. deshalb ein so hohes Niveau, weil Savants sich stark auf eine einzige Sache konzentrieren können und obsessiv üben. Aber ohne Begabung geht es nicht. Talent äußert sich auch schon bei sehr kleinen Kindern, sowohl bei Savants als auch bei Wunderkindern wie Mozart. Und das spricht wiederum gegen das Argument, die Fähigkeit sei eine Sache der Übung. Als der junge Mozart im Sankt Petersdom in Rom das »Miserere« von Gregorio Allegri singen hörte, machte er sich einige Notizen und schrieb in seinem Hotelzimmer aus dem Gedächtnis die Noten auf – und umging damit ein Verbot des Papstes. Stephen Wiltshire machte bereits als Siebenjähriger wunderbare Zeichnungen, doch später entwickelte sich sein Talent nicht mehr besonders stark weiter. Die Fähigkeit der Kalenderrechner kann gelegentlich schon vor ihrem sechsten Lebensjahr zutage treten.

Ziemlich oft verflüchtigen sich die Talente im Laufe der Entwicklung. Das autistische Mädchen Nadia besaß zwischen ihrem dritten und siebten Lebensjahr ein außergewöhnliches Zeichentalent. Zuerst zeichnete sie Pferde und andere Tiere, später Personen. Nach ihrem neunten Geburtstag war diese außerordentliche Fähigkeit verschwunden. Offenbar ging die zum Sprechen benötigte höhere Aktivität der linken Hirnhälfte auf Kosten des Zeichentalents. Auch in dieser Hinsicht ist Daniel Tammet eine Ausnahmeerscheinung. Mit der Entwicklung seiner sozialen Fähigkeiten verlor er keineswegs seine Zahlen- und Sprachbegabung. Tammet hat ein wirklich in jeder Hinsicht sehr außergewöhnliches Gehirn.