XIV.3 Unbewusstes Moralverhalten

Die größte Tragödie in der Geschichte der Menschheit ist wohl die, dass die Moral von der Religion in Beschlag genommen wurde.

ARTHUR C. CLARKE (19172008)

Moralische Regeln dienen dazu, das Zusammenwirken und die gegenseitige Unterstützung innerhalb einer sozial lebenden Gruppe zu fördern. Sie funktionieren wie ein sozialer Vertrag, der dem Einzelnen viele Einschränkungen auferlegt. Darwins moralische Psychologie in Die Entstehung der Arten (1859) basierte daher auch nicht auf einem egoistischen Wettstreit zwischen Individuen, sondern auf der sozialen Bindung innerhalb einer Gruppe. Die gegenseitige Hilfe hat sich im Verlauf der Evolution aus der liebevollen Fürsorge der Eltern für ihre Jungen entwickelt. Sie wurde später nach dem Prinzip »Wer Gutes tut, dem widerfährt auch Gutes« auf die Artgenossen ausgedehnt. Mit anderen auszukommen entwickelte sich irgendwann zu einem eigenständigen Wert. Und schließlich wurde dieses Produkt einer Millionen Jahre währenden Evolution zum Stützpfeiler der menschlichen Moral, der erst in jüngster Zeit, vor ein paar tausend Jahren, von den Religionen übernommen wurde. Zynischerweise muss man übrigens konstatieren, dass die Existenz eines gemeinsamen Feindes den stärksten Anreiz für das Gemeinschaftsgefühl bildet, ein Mechanismus, den zahlreiche Führer von Großmächten missbraucht haben.

Dem biologischen Ziel der Moralität – der Förderung von Zusammenarbeit – ist es eigen, Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen. An erster Stelle steht die moralische Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der eigenen Familie, den Verwandten und der eigenen Gemeinschaft. Erst wenn das Überleben und die Gesundheit der Nächststehenden gesichert ist, kann der Loyalitätszirkel erweitert werden: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«, wie Bertold Brecht schrieb. Seit kurzer Zeit geht es uns so gut, dass wir in unsere Loyalität die EU, den Westen, die Dritte Welt, das Wohlergehen der Tiere und seit der Genfer Konvention von 1949 sogar unsere Feinde einbeziehen. Die Notwendigkeit dazu wurde jedoch schon viel früher empfunden. Im 3. Jahrhundert vor Christus seufzte der chinesische Philosoph Mo Zi angesichts der Verwüstungen des Krieges: »Wenn man andere Staaten wie den eigenen betrachtet […], dann werden […] die Menschen einander lieben und nicht schädigen.«

Obwohl sich auch in Tests keine signifikanten Unterschiede zwischen den moralischen Entscheidungen von Atheisten und Gläubigen ergaben, behauptet die ID-Bewegung, moralisches Verhalten sei etwas spezifisch Menschliches, das aus der Religion und vor allem aus dem Christentum hervorgehe. In dem von Dekker und anderen herausgegebenen Buch sagt der ID-Anhänger van der Meer beispielsweise: »[…] Menschen sind die einzigen Primaten, die über moralische Normen nachdenken.« Frans de Waal, ein Experte auf diesem Gebiet, hat allerdings darauf hingewiesen, dass Menschen meistens gar nicht über ihr moralisches Handeln nachdenken. Wir handeln schnell und instinktiv moralisch auf einer starken biologischen Grundlage – und erfinden dann im Nachhinein einen Grund für das, was wir im Bruchteil einer Sekunde unbewusst getan haben. Unsere moralischen Werte haben sich im Lauf von Millionen von Jahren entwickelt und beruhen auf unbewussten universellen Werten. Dass moralisches Verhalten auch schon früh in der Individualentwicklung sichtbar wird, bildet ebenso wie das moralische Verhalten von Tieren ein Argument für die biologische Grundlage dieses Verhaltens. Kleine Kinder trösten Familienmitglieder, die Schmerzen haben, auch schon, bevor sie sprechen oder über moralische Normen nachdenken können, genau wie Menschenaffen einander trösten. Wenn Erwachsene so tun, als ob sie Kummer hätten, tröstet sie schon ein ein- oder zweijähriges Kind. Und nicht nur Kinder, auch Haustiere beteiligten sich in einem solchen Experiment rege an den Tröstungen. Schimpansen können sich ebenso wie anderthalbjährige Menschenkinder altruistisch verhalten, auch wenn dafür weder eine kurz- noch eine langfristige Belohnung in Aussicht gestellt wird. Sie können einem anderen Schimpansen einen Stock oder einem Kind einen Bleistift reichen, einfach weil der andere nicht drankommt. Sie tun das auch mehrmals, ohne eine Belohnung zu erwarten. Die Wurzeln unseres Altruismus reichen also sehr weit zurück. Daher entbehrt die Aussage des ID-Anhängers van der Meer »Gutes Verhalten hat keine biologische Ursache, es muss erlernt werden, weil es nicht von Natur aus festgelegt ist und daher verfehlt werden kann« jeglicher Grundlage. Es ist auch unbegreiflich, wie die ausgezeichnete Primatenforschung von Frans die Waal und anderen zur biologischen Grundlage sozialen Verhaltens unter das subsumiert werden kann, was der ID-Vertreter Jochemsen in Dekkers Buch als »das Zusammenschrumpfen der Humanwissenschaften und Sozialwissenschaften auf ein Spezialgebiet der Biologie« beschreibt. Die eigenen haltlosen Ansichten ein wenig zu relativieren könnte den ID-Anhängern nicht schaden!