KAPITEL 2
ADDY
Addy schlug die Augen auf. Es war dunkel, ihr Körper war schwer und ihr Schädel brummte. Sie wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie dort hingekommen war, doch die Geschehnisse der vergangenen Stunden überrollten sie wie eine Flut. Stöhnend griff sie sich an die Stirn.
Sie hatten alle Kraftwerke deaktivieren können, waren sicher gewesen, Terra Mater damit zu stoppen, und tatsächlich hatte sich die Natur für kurze Zeit beruhigt. Doch dann war es nur noch schlimmer geworden. Wie konnte bloß alles so schieflaufen?
War das, was Elekreen behauptet hatte, wahr? Gab es Terra Mater in Wirklichkeit nicht, waren die Meliad für die Naturkatastrophen verantwortlich und mit der Abschaltung der Kraftwerke hatten die Menschen ihre einzige Waffe gegen sie verloren? Konnte das sein? Alles schien darauf hinauszulaufen, aber wahrhaben wollte Addy es nicht. Niemals hätte sie sich in Casimir so täuschen können. Nicht in ihm.
Sofort saß sie aufrecht. Es kam ihr vor, als würde der Schuss, der Casimir niedergestreckt hatte, noch immer in ihr widerhallen. Ihr Puls raste und ihr Atem hetzte. Das durfte einfach nicht passiert sein!
Das Bild, wie Ben die Waffe abgefeuert hatte, war so klar vor ihr, dass es alles andere verdrängte. Addy presste die Hände fest gegen ihre Schläfen und versuchte, die Szene aus ihrem Kopf zu verbannen.
Nachdem sie sich einigermaßen gesammelt hatte, schaute sie sich um und stellte fest, dass sie wieder im Militärstützpunkt war. Sie saß auf dem Sofa in General O’Reillys Büro. Eilig tastete sie ihren Körper ab, um ganz sicherzugehen, dass sie ihn fühlen konnte. Sie war kein Geist, alles wirkte real auf sie. Also musste das, was sie gerade erlebte, die Wirklichkeit sein. Ihre Welt, die Welt der Menschen und der Materie und nicht Terra Maters Sphäre der Träume.
Aber wieso? Hatte man sie wiederbelebt? Anders konnte sie es sich nicht erklären.
Schwerfällig kam Addy auf die Beine, schwankte und fing sich am Schreibtisch. Eine Uhr stand darauf, durch die sie feststellen konnte, dass es spät am Abend war. Viele Stunden, nachdem Casimir ihr Herz zum Stehen gebracht hatte.
Das Gefühl der Machtlosigkeit war erdrückend. Als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen und sie mit dem Schmerz alleingelassen. So fühlte es sich an.
Ihre Finger verkrampften, gruben sich ins Holz der Tischplatte und Tränen überkamen sie. Schluchzend krümmte sie sich, schrie vor Wut und Verzweiflung und drohte zusammenzubrechen. Casimir zu verlieren, tat so unheimlich weh. Ohne ihn wollte sie nicht mehr sein und sie hasste sich selbst dafür, dass sie ihn von sich gestoßen hatte, statt um das, was zwischen ihnen war, zu kämpfen. Hätten sie doch nur früher über alles reden können! Jetzt war es zu spät.
Sie fiel auf ein Knie, klammerte sich weiter an den Schreibtisch und hatte das Gefühl, innerlich zu einem Häufchen Asche zusammenzuschrumpfen.
Nichts würde ihn ihr zurückbringen und alles, was ihr blieb, war der Schmerz und das Gefühl, leer und ausgebrannt zu sein.
Eine ganze Weile saß sie zusammengekauert vor dem Schreibtisch und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte, um sie zu vergießen, und sich endgültig ausgehöhlt und verlassen fühlte.
Es war still. Niemand kam, niemand sah nach ihr, keine Stimmen drangen vom Korridor aus zu Addy vor. Was, wenn es niemanden mehr gab, der nach ihr sehen konnte? Wenn Terra Mater unaufhaltsam weitergemacht und die Menschheit vernichtet hatte?
Der Drang, aufzustehen und herauszufinden, was mit der Welt um sie herum geschehen war, war bald zu groß, um ihn zu ignorieren. Addy musste in Erfahrung bringen, warum die Natur sich noch immer gegen die Menschen richtete, obwohl sie aufgehört hatten, die Meliad zu töten. Noch einmal atmete sie tief durch und wischte sich die Tränen von den Wangen.
Sicher warteten vor der Tür Wachen auf sie. Nachdem das Abschalten der Kraftwerke nicht die erhoffte Rettung gewesen war, konnte Addy sich gut vorstellen, wieder eine Gefangene zu sein und wie eine Terroristin behandelt zu werden. So ruhig war es sicher nur, weil man den Korridor gesperrt hatte und niemanden zu ihr ließ.
Zittrig, wie sie war, zog sie sich hoch und ging zur Tür. Zu ihrer Verwunderung war nicht abgesperrt und im Korridor empfing sie nur gähnende Leere. Keine Wachen, keine besorgten Freunde, niemand wartete dort auf sie. Allmählich beschlich sie ein ungutes Gefühl.
Das Licht flackerte und ließ den Gang bedrohlich und düster wirken. Addy folgte ihm. Ihr Herz pochte ihr bis zum Halse, dabei wusste sie nicht einmal, was ihr so viel Angst machte. Sie bog um eine Ecke und auch dort war niemand zu sehen. Das Gebäude schien menschenleer. Wie ausgestorben.
Auch im Korridor, an dessen Ende der Ausgang lag, erwartete sie niemand. Er war unbeleuchtet, fensterlos und dadurch stockfinster. Nur durch die Türritzen fiel fahles Licht.
Zögerlich lief Addy weiter. Sie hatte Angst davor zu erfahren, was während ihres Herzstillstands geschehen war. Konnte es sein, dass der Stützpunkt evakuiert worden war und man sie dabei einfach vergessen hatte? Oder schlimmer noch: Sie waren alle tot.
Ihr Puls begann zu rasen und sie hielt die Luft an, als sie die Hand an die Tür legte. Kaum, dass Addy sie berührt hatte, schwang sie mit einem leisen Quietschen auf.
Sonnenlicht blendete sie. Erst nach und nach zeichnete sich die Umgebung vor ihr ab und ihre Brust schnürte sich bei dem Anblick zu. Der Stützpunkt war völlig zerstört worden. Kein einziges Gebäude stand mehr. Kein Stein lag auf dem anderen. Nur ein riesiges Trümmerfeld war geblieben.
Sie trat ins Freie, ließ ihren Blick über die zerstörten Gebäude wandern und wandte sich schließlich um. Selbst der Bungalow, durch den sie gelaufen war, hatte dem Erdbeben nicht standgehalten. Es war ein Wunder, dass sie im Inneren nichts von dieser Zerstörung bemerkt hatte. Wie konnte das sein? Von außen wirkte es, als wäre alles, was von dem Gebäude geblieben war, die Tür, umrahmt von einem Stück Fassade.
Addy stolperte rückwärts und sah sich weiter um. Pflanzen hatten die Trümmer nicht erobert wie sonst. Leichen sah sie auch keine.
»Hallo?«, rief sie, doch lediglich ihr Echo antwortete. Ihr war ganz mulmig. Irgendwie passte das alles nicht zusammen.
Frische Reifenspuren führten zum Haupttor und vom Stützpunkt weg. Vielleicht stimmte Addys Theorie und man hatte sie tatsächlich bei der Evakuierung vergessen. Eine andere Erklärung fand sie nicht. Aber nachvollziehen konnte sie es dennoch nicht. Weder was mit dem Stützpunkt geschehen war, noch dass man sie einfach zurückgelassen hatte. Eine innere Unruhe ergriff sie. Was war in den letzten Stunden wirklich geschehen?
Sie folgte den Reifenspuren, verließ den Stützpunkt und erklomm den Hügel, auf dem sie Casimir zuletzt gesehen hatte. Die Erde war durch das Beben aufgewühlt, aber sie hatte die Folgen weitaus schlimmer in Erinnerung.
Ihr Herz verkrampfte sich, als sie die Blutlache erblickte, dort, wo der tödliche Schuss gefallen war. Das zu sehen, machte es nur noch realer. Sie ging in die Hocke und vergrub ihre Finger in der rot gefärbten Erde.
Erneut überkamen sie die Tränen, als ein plötzliches Geräusch sie aufschrecken ließ. Addy wusste nicht, was es gewesen war, aber es kam von den Trümmern der im Tal liegenden Stadt. Dorthin führten auch die Reifenspuren.
Sie stand auf.
Kam es ihr nur so vor oder war nicht nur der Stützpunkt totenstill gewesen, sondern auch das gesamte Umland? Bis auf dieses eine Geräusch war nichts zu hören. Kein Vogel zwitscherte, nicht einmal der Wind säuselte. Sie rieb sich die Hände an der Hose ab und stieg den Hügel hinab.
Je weiter sie kam, desto mehr beschleunigte sie ihre Schritte. Vielleicht bildete sie sich das mit der Stille nur ein. Vielleicht gelang es ihr, den Militärkonvoi einzuholen, und man würde ihr alles erklären.
Addy verfiel ins Rennen. Die Unruhe, die schon im Militärstützpunkt an ihr genagt hatte, war zu einem quälenden Dröhnen in ihrem Kopf geworden. Ihre Lunge brannte bereits und ihre Gedanken drehten sich um immer mehr Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Aber das veranlasste sie nur, noch schneller zu werden.
Sie überwand die ersten Trümmer, stieg über Mauer- und Fassadenreste, über zerstörte Möbel, Fernseher, Radios und andere Überbleibsel der Zivilisation. Überall um sie herum türmte sich der Elektroschrott und anderer Unrat. Computer, Waschmaschinen, Smartphones, so weit das Auge reichte. Wie konnte das alles zu einer einzigen Stadt gehören? Sie stockte, als sie ein klobiges Handy mit einem Blumensticker sah. Genauso eines hatte sie selbst einmal besessen.
Verwirrt lief Addy weiter, ließ ihren Blick über all den Müll wandern und verlor allmählich die Orientierung.
Aus der Ferne hatte sie noch geglaubt, Ruinen eingestürzter Gebäude zu sehen, doch nun waren da nur noch Berge an Metall, Plastik und Kabeln. Als wäre sie auf einer riesigen Müllhalde gelandet.
Vielleicht war sie das ja auch. Vielleicht hatte man vom Hügel aus nicht erkennen können, dass sich eine Mülldeponie am Rande der Stadt befand. Aber hätte Addy das alles wirklich übersehen können?
Ein Gestank stieg ihr in die Nase, von dem ihr übel wurde. Es roch nach Verwesung und kurz darauf fand sie auch die Ursache dafür. Überall um sie herum lagen tote Tiere im Schrott. Ihre Kadaver waren aufgeplatzt und unter Fell und Federn kam kein fauliges Fleisch zum Vorschein, sondern nur noch mehr Müll. Der Anblick ließ Addy erschaudern und sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen.
Ein paar noch lebende Vögel ließen keinen Zweifel daran, was mit ihren Artgenossen geschehen war. Dürr, mit ölverschmiertem Gefieder und trüben Augen pickten sie blind im Müll und verschluckten Plastik, Schrauben und alles, was klein genug war, um hinuntergewürgt zu werden.
Addy legte sich die Hand über Mund und Nase. Der Anblick ließ Galle in ihr hochsteigen. Übelkeit und Ekel übermannten sie beinahe, ihre Knie wurden weich und sie stolperte weiter voran.
Sie erklomm einen der Schrottberge, sah sich um und ihr Atem stockte. Fassungslos drehte sie sich im Kreis. Diese Müllhalde erstreckte sich zu allen Seiten bis hin zum Horizont. Hügel um Hügel an Schrott und Dreck, so weit das Auge reichte.
Was Addy da sah, war ihre Welt und sie war es auch wieder nicht. Sie hatte geglaubt, wiederbelebt worden zu sein, doch alles wies darauf hin, dass sie in Terra Maters Sphäre aufgewacht war. In der Welt der Träume, und zwar mitten in einem Albtraum. Tat ihr Terra Mater das mit Absicht an? Wollte sie Addy für etwas bestrafen?
»Wo bist du?«, rief sie, in der Hoffnung, die Mutter der Natur würde ihr antworten.
Die Vögel ließen sich von Addys Gebrüll nicht aufschrecken. Sie wandten ihr die Köpfe zu, sahen sie mit runden, toten Augen an und Addy war, als würde sich der Dreck, den sie gefressen hatten, darin spiegeln.
Ein kalter Schauer durchfuhr sie.
»ZEIG DICH MIR!«, schrie sie aus voller Kehle. Ihre Stimme hallte durch die endlos scheinende Müllkippe.
Es kam ihr vor, als hätte Terra in dieser Schreckensvision allen Schrott, den die Menschen je achtlos weggeworfen hatten, zusammengesucht und aufgetürmt. Es war für Addy wie ein Schlag ins Gesicht. Wie eine Anklage, gegen die sie sich nicht verteidigen konnte.
»Wieso zeigst du mir das?«, rief sie weiter. Ein sich wiederholendes »Wieso« hallte von den Schrotthügeln wider und bildete die einzige Antwort.
Casimir! Der Gedanke an ihn schoss ihr so plötzlich durch den Kopf, dass sie abrupt innehielt. Ihre Augen weiteten sich und ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Ben hatte ihn erschossen, also war seine Seele ebenfalls in Terra Maters Welt gelandet. Addy musste ihn finden – ihn und einen Weg, ungeschehen zu machen, was Ben angerichtet hatte!
»Casimir!«, rief sie. »Casimir, ich bin hier!«
Ihr Herz pochte so hektisch, dass es ihr vorkam, als würde es sich jeden Moment überschlagen. Hoffnung hatte sich in der Leere eingenistet. Ein kleiner Funken nur, aber sie klammerte sich mit aller Macht daran.
Sie rutschte den Abhang runter, stieg über einen Berg zerknüllter Einwegflaschen und versank knietief darin. Mühsam watete sie weiter, als sie plötzlich eine Bewegung im Augenwinkel sah und herumwirbelte.
»Hallo?«, fragte sie unsicher.
Wieder war da eine Bewegung, diesmal links von ihr. Sie riss den Kopf herum, konnte jedoch nichts erkennen. Panik stieg in ihr auf. Sie kämpfte sich weiter durch die Flaschen, griff nach den Kabeln einer zertrümmerten Spülmaschine und zog sich daran aus dem Plastikberg.
Kaum, dass sie das getan hatte, raschelte es in ihrem Rücken.
Addy wirbelte herum. Da war wirklich etwas. Irgendetwas bewegte sich unter dem Schrott, ließ den Plastikberg auseinanderstieben und verschwand dann wieder in seinen Tiefen.
Ein Rumoren, weit unter ihr, ließ den Schrott vibrieren. Es klang wie der Ruf eines Ungetüms. In Addys Ohren begann es zu rauschen, sie robbte rückwärts auf die nächste Anhöhe zu, hatte sie aber noch nicht erreicht, als sich die Müllhalde direkt vor ihr teilte und etwas Riesiges aus dem Unrat brach.
Ohne erkennen zu können, was sich mit markerschütterndem Schrei auf sie stürzte, warf sich Addy herum und krabbelte, so schnell sie konnte, den Hügel hinauf.
Immer wieder gaben die Plastikflaschen unter ihr nach. Sie war kaum oben angekommen, da knallte es so laut, dass sie zusammenfuhr. Sie drehte sich auf den Rücken und erkannte gerade eben noch eine Art Flosse, die im Plastiksee versank.
Addy sah sich noch einmal um und musste mit Entsetzen feststellen, dass dieses Monster nicht alleine war. Überall um sie herum bewegte sich der Schrott. Etwas Lebendes schwamm darin wie Haie im offenen Meer. Diese Dinger umkreisten den Hügel, auf dem sie sich in Sicherheit gebracht hatte, und sie zogen ihre Bahnen immer enger.