KAPITEL 4

YOUNES

TAG 9: MO, 07: 30 UHR,
ZWISCHEN TORONTO UND OTTAWA, KANADA

Das Lagerfeuer war bereits niedergebrannt, die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich über die Baumwipfel und dennoch brachte Younes es nicht fertig, Ella und Chloe aufzuwecken.

Nach ihrer kräftezehrenden Wanderung hatte es nur Minuten gedauert, bis die beiden eingeschlafen waren. Sie brauchten Zeit, um sich zu erholen, denn vor ihnen lag noch ein weiter Weg und kein Naturgeist verlieh den beiden ungeahnte Kräfte.

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, während er seine Schwester beim Schlafen betrachtete. Wie friedlich Ella doch aussah. Wie ein kleiner Engel. Younes konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Die Angst, er könnte sie wieder verlieren, wenn er sie auch nur einen Moment zu lang aus den Augen ließ, war einfach zu groß.

»Die Sonne geht auf«, erinnerte ihn Ma’an.

»Ich weiß«, antwortete er dem Meliad.

So hatte Addy die Wesen der Energiesphäre in ihrer gemeinsamen Vision genannt. Meliad. Diese Vision war auch der Grund dafür, dass sie nach Norden aufgebrochen waren. Wenn sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sollten – nämlich dass durch die vielen Naturkatastrophen auch die kanadischen Kernkraftwerke in Mitleidenschaft gezogen worden waren –, wollte er Ella und Chloe so weit wie möglich von ihnen weg wissen.

»Weck sie schon auf«, drängte Ma’an.

Younes wandte sich Chloe zu. Er strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht und ließ seine Finger über ihre Wange wandern. Sie stöhnte leise und drehte sich im Schlaf zur Seite.

»Ein paar Minuten noch«, bat er und blickte zum Sonnenaufgang.

Die Welt war in den letzten Tagen eine andere geworden. Friedliche Momente wie dieser, wenn alles um ihn herum still war und nichts und niemand bedrohlich zu sein schien, waren zu selten, um sie einfach verstreichen zu lassen. Younes genoss die Ruhe, weil es in ihm so laut war. Das Chaos war schwer zu ertragen, wenn man nicht einmal in seinem eigenen Verstand Ordnung schaffen konnte. Nicht einen Moment war er mit seinen Gedanken allein und nichts konnte er zu Ende bringen, ohne dass sich Ma’an einmischte.

»Younes?« Chloe war aufgewacht, gähnte und richtete sich auf.

»Morgen«, grüßte er sie.

»Du bist schon wach?«, fragte sie schlaftrunken, rieb sich die Augen und tastete nach ihrer Brille. Sie schob sich das Gestell auf die Nase und blinzelte durch die gebrochenen Gläser.

»Eine Weile schon«, sagte er.

»Du hast gar nicht geschlafen, oder?«, hakte sie nach.

»Liest du jetzt schon meine Gedanken?« Er lachte, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. »Es reicht mir völlig, dass das einer von euch tut.«

Chloe sah ihn lange an. Dass ein Naturgeist in ihm steckte, hatte sie noch nicht wirklich verarbeitet. Wie auch, wo Ma’an anfänglich damit gedroht hatte, sie zu töten? Wie, wenn er sich selbst noch schwer damit tat, den fremden Geist in sich zu akzeptieren?

»Hört er uns zu?«, fragte sie.

»Immer.«

Er nahm einen Stock und stocherte in der abgekühlten Asche. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass es anders wäre. Sie hatten einander gerade erst gefunden, würden aber nie auch nur einen kurzen Augenblick für sich alleine haben. Er wollte sie küssen, sie halten und alles mit ihr teilen, aber die Gefühle, die er für sie entwickelt hatte, waren wie abgeschirmt, wirkten irgendwie fern und kaum greifbar. Sie waren da, ließen sein Herz schneller schlagen, wenn er Chloe anschaute, aber es kam ihm vor, als hätte er in seinem Kopf einfach nicht genügend Platz zur Verfügung, um sich darauf zu konzentrieren. Gut möglich, dass er sich vor seinen Gefühlen verschloss, weil er Chloe nicht nahe sein konnte, ohne dass Ma’an ein Teil davon war. Er brauchte sicher nur etwas mehr Zeit, um das Chaos in sich zu sortieren. Aber Chloe wollte ihm die wohl nicht geben.

Sie schwieg und sah ihn nicht einmal mehr an. Unsicher spielte sie mit den Fingern und ihr Blick wanderte zum niedergebrannten Lagerfeuer.

»Es wird immer zwischen euch stehen«, sagte Ma’an.

Younes schnaubte verächtlich. Musste sich er sich denn auch noch in diese Sache einmischen? »Das ist mir schon klar«, zischte er.

»Was sagst du?«, fragte Chloe.

»Nichts«, wehrte er schnell ab.

Besorgt sah sie ihn an, schenkte ihm dann aber ein schmales Lächeln und stand auf.

»Wir müssen weiter«, erinnerte sie ihn und tat dabei so, als würden sich ihre Gedanken nicht um seine ständigen Selbstgespräche drehen. »Unsere Vorräte sind aufgebraucht. Wenn wir die Augen offen halten, finden wir unterwegs vielleicht etwas zum Frühstücken.«

»Ein paar Stunden Fußmarsch von hier entfernt gibt es eine Obstbaumplantage«, erklärte er.

Chloe verkrampfte sich bei diesen Worten. »Hat er dir das gesagt?«, fragte sie, ohne sich ihm zuzuwenden. Sie war bereits dabei, ihre Sachen zu packen.

»Ich kann Früchte wachsen lassen, wenn die Bäume noch keine tragen sollten.«

Chloe nickte hölzern.

Es musste doch einen Weg geben, ihr klarzumachen, dass sie keine Angst vor Ma’an und den Fähigkeiten haben musste, die Younes durch ihn gewonnen hatte.

»Ich weiß von der Plantage, weil ich vor ein paar Jahren schon mal dort war. Aber selbst wenn ich sie erspürt hätte, ist das nichts Schlimmes. Ich kann die Kräfte in mir nutzen, verstehst du?« Er griff nach Chloes Hand, um sie dazu zu bringen, ihm zuzuhören. »Ich kann es kontrollieren. Es kontrolliert nicht mich«, sagte er eindringlich.

»Kannst du das?«, fragte sie und sah zu seiner Hand an ihrem Arm.

Er folgte ihrem Blick. Zarte Blitze zuckten zwischen seinen Fingern und die Härchen auf Chloes Haut stellten sich auf. Erschrocken zog er seine Hand zurück.

Ehe er etwas sagen konnte, sprang ihm Ella in die Arme.

»Youn!«, stieß sie aus und klammerte sich an ihn wie ein Affe.

»Bist du endlich aufgewacht, du Schlafmütze!« Er lachte und raufte seiner kleinen Schwester durchs Haar. Dabei sah er flüchtig zu Chloe, die sich wieder dem Packen gewidmet hatte. So einfach würde sie die Sache sicher nicht auf sich beruhen lassen. Es gab noch viel Unausgesprochenes zwischen ihnen beiden.

Wie lange würde es wohl dauern, bis sie Younes’ neues Ich akzeptieren konnte? Würde sie es überhaupt je verstehen können? Wahrscheinlich nicht, wenn es ihm nicht gelang, Ma’ans Kräfte wirklich unter Kontrolle zu bringen.

»Dann los«, sagte Chloe, warf sich den Rucksack über die Schulter und stand auf. Ungeduldig sah sie zu Younes.

»Hol deine Decke«, forderte er Ella auf. Er rollte sein eigenes Lager zusammen, erhob sich und nahm Chloe ihr Gepäck ab. »Lass mich das tragen.«

»Das schaffe ich schon selbst!«, fuhr Chloe ihn an. Sie griff nach ihrem Rucksack, wollte ihn wieder an sich reißen, doch das ließ Younes nicht zu.

Er verstand nicht, warum sie sich wegen dem bisschen Gepäck so aufregte. Auch ohne die Kräfte eines Naturgeistes war er stärker als sie. War es da nicht selbstverständlich, dass er die schweren Sachen trug?

»Kommt endlich!«, rief Ella. Sie war bereits losgerannt, hatte die Lichtung überquert und winkte ihnen zu.

»Geh nicht zu weit weg!«, bat Chloe sie.

»Wo ist das Problem?«, fragte Younes.

Chloe riss ihm den Rucksack aus der Hand und drückte ihn an sich, als hinge ihr Leben davon ab. »Den habe ich schon tragen können, bevor du aufgetaucht bist.«

»Aber jetzt bin ich hier«, sagte er und hob die Hände. »Ich kann dir helfen. Ich will dir helfen.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht«, giftete sie ihn an. »Ich habe es ohne dich bis nach Hause geschafft, habe es überstanden, dass meine Mum weg war, dass mein Elternhaus in Trümmern lag, und auch den plötzlichen Wintereinbruch habe ich überlebt. Ich habe deine Schwester gefunden und in Sicherheit gebracht. Da werde ich es ja wohl schaffen, diesen blöden Rucksack zu tragen.«

»Die spinnt doch«, murrte Ma’an.

»Misch dich nicht immer ein«, verlangte Younes durch zusammengebissene Zähne.

Chloe schnaubte, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.

»Jetzt warte doch!«, rief Younes ihr nach und hielt sie am Arm auf.

So langsam wurde auch er wütend. Er wusste ja genau, worum sich dieser Streit in Wirklichkeit drehte. Es ging noch immer um Ma’an. Es ging immer um ihn und es wurde durch seine Selbstgespräche nicht besser. Aber was konnte er dafür? Younes hatte es sich nicht ausgesucht, von einem Meliad besessen zu sein, diese Kräfte zu besitzen und lernen zu müssen, mit ihnen umzugehen. Es war nicht seine Entscheidung gewesen und er war es leid, sich immer wieder verteidigen zu müssen. Warum konnte sie es nicht einfach hinnehmen, wie es war?

Chloe riss sich von ihm los. »Du verstehst es einfach nicht«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Dann erklär es mir!«

»Ich will seine Hilfe nicht«, spie sie ihm entgegen.

»Als ob wir das nicht wüssten«, erklang Ma’ans Stimme in Younes’ Kopf.

»Lass es einfach!«, zischte Younes wutentbrannt.

»Siehst du!«, stieß Chloe aus und deutete auf ihn. »Genau das meine ich. Er hört immer zu und spukt durch deine Gedanken. Aber wir brauchen ihn nicht! Wir kommen auch ohne seine Kräfte zurecht. Ich war nicht umsonst jahrelang bei den Pfadfindern. Ich kann in der Natur überleben.«

»Das will ich sehen«, höhnte Ma’an.

Younes hütete sich davor, noch einmal auf ihn reagieren. Chloe war auch so schon wütend genug.

»Und was erwartest du jetzt von mir?«, fragte er.

»Schick ihn weg!«, verlangte sie geradeheraus.

Younes legte die Stirn in Falten. Wie, glaubte sie, sollte er das anstellen? Dass er und nicht Ma’an seinen Körper kontrollierte, war schon ein Wunder.

»Und du glaubst, das geht so einfach? Glaubst du, mir macht es Spaß, meine Gedanken mit ihm teilen zu müssen? Keine Sekunde für mich zu haben und immer damit rechnen zu müssen, dass er …« Younes brach ab. Während er alles hinausließ, was ihn innerlich auffraß, hatte er sich auf Chloe zubewegt und sie wich vor ihm zurück. Ängstlich sah sie ihn an.

»Dass er was?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

»Vergiss es«, wiegelte Younes unwirsch ab.

»Das kann sie nicht«, mischte sich Ma’an ein. »Sie fürchtet sich doch genau vor derselben Sache wie du. Dass sie eines Morgens aufwacht, du bist verschwunden und ich habe die Kontrolle zurück.«

Younes atmete tief durch. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie wütend ihn Ma’an gerade machte und wie sehr er darum kämpfen musste, gedanklich bei Chloe zu bleiben, statt ihn anzuschreien.

Doch er konnte ihr nichts vormachen. Sie wusste genau, das die Stimme in seinem Kopf ihn mal wieder vereinnahmte und er nichts dagegen tun konnte.

Mitgefühl lag in ihrem Blick. Sie hob zögerlich die Hand, berührte seinen Arm, aber Younes wollte das nicht und entzog sich ihr. Mitleid war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er wollte, dass sie verstand, welche Vorteile es hatte, die Kräfte eines Meliad nutzen zu können. Wie sollte er denn mit alldem zurechtkommen, wenn es die Menschen um ihn herum nicht konnten – wenn ausgerechnet sie es nicht konnte?

»Ich kann es nicht!«, sagte er mit Nachdruck. »Ich kann ihn nicht einfach fortschicken. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Wir brauchen ihn!«

»Wie kommst du darauf?«

Verständnislos blickte er sie an. »Du siehst doch, was um uns herum passiert. Die ganze verdammte Welt geht gerade unter und ich habe bisher nicht mal mein normales Leben geregelt bekommen. Wie sollte ich uns da aus dieser ganzen verdammten Scheiße lebend rausholen? Wenn wir das alles überstehen wollen, geht das nicht ohne ihn.«

»Und du glaubst wirklich, du bist nur wegen ihm so weit gekommen? Hältst du denn so wenig von dir? Oder ist er es, der dir das einreden will?«

Younes wandte sich von ihr ab. Sie hatte doch keine Ahnung, wer er wirklich war. Sie wusste nichts von all der Wut, die ihn so lange kontrolliert hatte – die mehr Kontrolle über ihn gehabt hatte, als Ma’an es je könnte. Er hatte Chloe nie erzählt, dass eben diese aufgestaute Wut die Ursache für Ma’ans Hass auf die Menschen war und wie kurz davor er gestanden hatte, seinen eigenen Vater umzubringen. Nichts davon wusste sie und er wollte auch nicht, dass sie es erfuhr. So sollte sie ihn nicht kennenlernen.

»Du warst auch ohne ihn schon stark und mutig«, behauptete Chloe und kam einen Schritt näher.

»Das stimmt nicht.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Sie versteht einfach nicht, dass du mich brauchst«, sagte Ma’an.

»Es stimmt sehr wohl«, widersprach Chloe und griff wieder nach seinem Arm.

Erst durch ihre Berührung merkte er, wie angespannt sein ganzer Körper war. Er wandte sich ihr zu und sie lächelte auf diese ehrliche, offene Weise, wie er es von ihr kannte und an ihr liebte.

»Ich habe dich schon immer dafür bewundert«, sagte sie. »Wie du dich um deine Schwester gekümmert hast und für deinen Bruder da gewesen bist. Und das trotz allem …«

»Das hat nichts mit Mut zu tun«, meinte er. »Und das war es auch nicht, was euch das Leben gerettet hat. Das verdanken wir ihm und seinen Kräften.«

Chloe schüttelte den Kopf. »Nein, das verdanken wir nur dir. Weil du nicht aufgegeben hast, bis du bei uns warst. Weil du gekämpft hast, für die, die dir wichtig sind. So wie du es schon immer getan hast.«

»Du weißt genau, dass du ohne mich längst tot wärst. Denk an die Schussverletzung«, erinnerte ihn Ma’an. »Aber sie hat recht. Du bist stark. Das habe ich vom ersten Augenblick an erkannt. Und gemeinsam sind wir stärker.«

Younes schüttelte den Kopf, als könne er den Naturgeist dadurch aus sich herausbekommen.

»Hör einfach nicht hin«, bat Chloe ihn.

»Das kann ich nicht. Weil seine Stimme lauter ist als alles um mich herum und er die Wahrheit sagt. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht hier und mit ihm kann ich euch beschützen.«

»Vielleicht sagen wir ja beide die Wahrheit«, meinte Chloe.

Er sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, das zuzugeben. Sie wollte Ma’an nicht in ihm wissen, sie hatte Angst vor ihm und seinen Kräften. Aber allmählich schien sie bereit, seine Anwesenheit zu akzeptieren. Vorläufig zumindest.

Younes streckte seine Hand nach ihr aus, sie presste die Lippen zusammen und mit einem Mal fiel sie ihm in die Arme. Er strich ihr über den Rücken und hielt sie, so fest er konnte.

»Es wird alles gut werden«, flüsterte er ihr ins Ohr. Ihr Körper bebte in einem leisen Schluchzen, der Rucksack rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Younes küsste sie aufs Haar. Wie gerne er doch seine eigenen Worte geglaubt hätte.

Er sah zu Ella, die den Streit mit angehört hatte und verunsichert wirkte. Als er ihr die Hand entgegenstreckte, rannte sie zu ihm und schlang ihre Arme und seine Hüfte.

Younes wollte es wirklich glauben. Er hoffte so sehr, dass es eine Zukunft für sie gab. Eine Zukunft für die gesamte Menschheit. Doch noch während er die beiden an sich drückte, beschlich ihn ein Gefühl, das ihm das Adrenalin in die Adern schießen ließ.

»Wir müssen weiter«, sagte er mit fester Stimme.

Chloe löste sich von ihm. »Stimmt etwas nicht?«

Younes warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Da stimmte wirklich etwas nicht. Aber was es war, konnte er nicht in Worte fassen. Es schien, als würde sich die Farbe der Welt ändern. Als wäre die Energie, die alles durchströmte, mit einem Mal von einer anderen Macht getränkt.

»Ich spüre es auch«, sagte Ma’an.

»Sie ist es, nicht wahr?«, fragte er.

Ma’an musste nicht antworten. Sie wussten beide, dass er sich nicht irrte. Das erste Mal konnte Younes Terra Maters Kraft spüren. Sie durchfuhr die Erde, die Bäume und alles, was sie umgab. Ihre Macht bündelte sich und war so unbändig, dass Younes’ Beine drohten wegzubrechen.

»Wer?«, fragte Chloe.

»Schnell jetzt!«, drängte er und schnappte sich den Rucksack.

Plötzlich bebte die Erde, Chloe stolperte von ihm weg und riss vor Schreck die Augen auf. Die Bäume um sie herum bewegten sich wie auf hoher See, die Erde brach auf und Risse zogen sich über die Lichtung.

Younes ließ den Rucksack fallen, nahm Ella auf den Arm, griff Chloes Hand und rannte los. Er steuerte auf den Rand der Lichtung zu, während hinter ihm die Bäume entwurzelt wurden und laut krachend zu Boden stürzten.

Chloe kam kaum hinterher. Um sie herum brach die Erde immer weiter auf und Wasser trat daraus hervor. Gesteinsbrocken und Äste schossen ihnen entgegen und Ella vergrub vor Angst ihr Gesicht in Younes’ Schulter.

»Was passiert hier?«, rief Chloe.

Younes antwortete nicht. Er zerrte sie immer weiter durch den Wald, stolperte um die schwankenden Bäume, rannte auf einen Hügel zu und erklomm ihn bis zur Hälfte.

»Mach, dass es aufhört!«, flehte Ella.

Ein heftiger Ruck durchs Erdreich ließ Chloe in Younes’ Arme stolpern. Er zog sie und Ella fest an sich und fiel mit ihnen auf die Knie.

Die Kräfte des Naturgeistes waren nicht stark genug, damit Younes mit deren Hilfe gegen Terra Maters Willen bestehen konnte. Aber er konnte durch sie vorausahnen, was sie tat, konnte ihre Energie spüren, die sich wie ein Spinnennetz durch die Umgebung zog, und erahnen, was als Nächstes passieren würde. Und Younes wusste, dass sie sich kein Stück weit bewegen durften, wenn sie überleben wollten.

Der Hügel, auf dem sie knieten, rumorte, die Bäume brachen zu den Seiten weg und der Fels unter ihnen hob sich in die Höhe.

Younes kniff die Augen zusammen, hielt Chloe und Ella, so fest er konnte, und ließ Ma’ans Kräfte in die Umgebung fließen, um den Boden, auf dem sie saßen, zusammenzuhalten. Zu mehr war er nicht fähig.

Es dauerte nur Sekunden und doch fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, bis der Lärm nachließ, der Staub sich legte und die Erde zu beben aufhörte.

Zögerlich schaute Younes auf. Chloe starrte ihn völlig aufgelöst an. Ihr Atem hetzte und die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ella war in Tränen aufgelöst und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

»Ist es vorbei?«, fragte Chloe mit erstickter Stimme.

Younes nickte und wandte sich um. Auch wenn er wusste, was ihn erwartete, traf ihn der Anblick dennoch wie ein Schlag. Ihm wurde heiß und kalt zugleich und er taumelte, als er auf die Füße kam.

Der Hügel, auf den sie sich gerettet hatten, war angehoben worden und sie standen an einer Steilklippe, von der aus sie meilenweit blicken konnten. Während hinter ihnen das Land weitestgehend unberührt geblieben war, ersteckte sich vor ihnen wild gewucherte Natur – ein riesiges Tal, durchzogen von Flüssen, die allesamt in einem See mündeten, der ebenso ein Meer hätte sein können. Straßen, Häuser und die Trümmer mehrerer Ortschaften, an denen ihr Weg sie vorbeigeführt hatte, waren darunter versunken.

Obwohl die Kraftwerke ausgeschaltet sein sollten und der Spuk ein Ende hätte haben müssen, war das, was Ma’an schon vor Tagen angedroht hatte, eingetroffen. Der gesamte Landstrich von Toronto bis hin zu Detroit war unter drei Seen begraben worden, die Terra Mater zu einem einzigen hatte verschmelzen lassen. Irgendetwas an Addys Plan musste schiefgelaufen sein. Nur was?

Younes musste dagegen ankämpfen, Ma’ans Kräfte in die Umgebung fließen zu lassen. Er wollte nicht spüren, wie viele Opfer Terra Maters Neuformung der Welt gekostet hatte. Doch ganz verhindern konnte er es nicht.

»Aber wie …?«, brach es als Chloe heraus. Sie war neben ihn getreten und ließ ihren Blick über das Tal wandern.

Younes schluckte schwer. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und etwas sagen zu können.

»Ihr müsst weiter. Geht so weit nach Norden, wie ihr nur könnt. Wo die Natur unberührt ist, wird sie nichts ändern.«

Er tat einen Schritt nach vorne, ohne wirklich zu Ende gedacht zu haben. Alles in ihm drängte darauf, dort hinunterzugehen und wiedergutzumachen, wofür er sich verantwortlich fühlte.

Chloe hielt ihn auf. »Wie meinst du das?«

»Ich muss helfen«, sagte er. In seinem Kopf herrschte Chaos. Was da gerade geschehen war, wollte sich ihm nicht wirklich begreiflich machen. Hätte er es denn aufhalten können? Hätte er bleiben sollen, statt mit Chloe und Ella zu fliehen? So viele Kräfte waren ihm inne und dennoch war er einfach geflohen, statt zu versuchen, den Menschen zu helfen.

»Du hättest es nicht verhindern können«, versicherte ihm Ma’an.

»Aber du kannst doch nicht einfach gehen«, widersprach Chloe. »Willst du uns wirklich alleine lassen?«

Younes sah zu Ella. Verängstigt blickte sie zu ihm auf.

»Nein«, sagte er kopfschüttelnd. Und griff sich an die Schläfen. Chloe ahnte ja nicht, auf wie vielen Ebenen die Kräfte des Naturgeistes ihn wahrnehmen ließen, was gerade geschehen war. Sie konnte nur sehen, was mit der Umgebung passiert war. Er aber war mit allem, was ihn umgab, unweigerlich verbunden. Schon im eisüberzogenen Toronto hatte er dagegen angekämpft, die Toten und Verletzten in der Umgebung spüren zu müssen. Jetzt aber waren Ma’an und er noch viel stärker miteinander verbunden. Er konnte es einfach nicht mehr ausblenden und sich auch nicht zurückziehen und Ma’an das Lenken überlassen. Das Leid der Menschen griff nach ihm, zerrte an ihm. Und er konnte nichts dagegen tun.

»Du kannst Terra Mater ohnehin nicht aufhalten«, erinnerte ihn Ma’an.

»Younes?«, drängte Chloe.

»Lasst uns weitergehen«, sagte er. »Weg von hier. Zu dieser Obstplantage.«

Sie hatte ja recht. Das hatten sie beide. Was geschehen war, konnte er nicht rückgängig machen und er würde es sich nie verzeihen, Chloe und Ella mitten im Nirgendwo allein zurückgelassen zu haben, nur weil er sich Vorwürfe für etwas machte, das außerhalb seiner Macht stand.