KAPITEL 5

YOUNES

TAG 9: MO, 08: 30 UHR,
ZWISCHEN TORONTO UND OTTAWA, KANADA

Younes lief voraus. Er brauchte Abstand, Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein, nur was? War es nicht gelungen, alle Elekreen-Kraftwerke zu deaktivieren? Hatte Ayumi es nicht geschafft, das in Tokio abzuschalten, oder waren sie schlichtweg nicht schnell genug gewesen? Vielleicht reichte es Terra Mater nicht aus, dass die Menschen ihren guten Willen zeigten. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Menschheit zu vernichten, und eine Geste wie die Abschaltung aller Kraftwerke, war da womöglich einfach zu wenig.

»Es macht auch nicht ungeschehen, was ihr bereits getan habt«, fügte Ma’an hinzu.

»Aber sie hat das Recht, Unzählige zu töten? Wir haben es wenigstens nicht mit Absicht getan. Sie aber sehr wohl.«

»Nicht mit Absicht?«, höhnte Ma’an. »Ihr habt also versehentlich die Weltmeere verschmutzt, ganze Tierarten ausgerottet, sie milliardenfach überzüchtet, um sie grausam zu halten, zu töten und zu essen? Das alles ist aus Versehen passiert? So wie ihr aus Versehen versucht habt, meinesgleichen zu töten?«

Younes blieb abrupt stehen. Wut kam in ihm auf. Nach allem, was gerade geschehen war, wollte er sich nicht auch noch die Moralpredigten des Meliad anhören müssen. Ja, die Menschen hatten viel Scheiße gebaut, aber das konnte diesen Massenmord doch nicht rechtfertigen.

»Typisch Mensch«, warf ihm Ma’an vor. »Kaum hält man euch den Spiegel vor, wollt ihr nicht hinsehen.«

»Ach ja?«, schrie er zornig.

»Younes?« Chloe war neben ihn getreten und sah ihn besorgt an.

Er schnaubte vor Wut und Frustration. Terra Mater war eine Bitch. Wie gerne hätte er ihr das ins Gesicht gesagt. Wie gerne hätte er Ma’an als Lügner beschimpft und die Menschen verteidigt. Sie hatten vieles falsch gemacht, aber diese Strafe war einfach nicht gerecht. Das konnte nicht gerecht sein.

»Es ist nichts«, behauptete er.

»Das kauft sie dir nicht ab.«

Younes zwang sich, nicht auf die Sticheleien des Meliad einzugehen. »Es ist nur … was gerade passiert ist …«

»Du hättest nichts für die Menschen tun können«, sagte Chloe.

»Ich weiß, ich …« Er brach ab, weil er glaubte, etwas zu hören. Waren das Stimmen gewesen? Er ließ Ma’ans Energien in die Umgebung fließen und tatsächlich erspürte er eine Menschenansammlung hinter der nächsten Anhöhe.

»Komm!«, forderte er Chloe auf und erklomm den Hügel.

Auf der anderen Seite lag die Obstplantage, die sie gesucht hatten. Allerdings umschloss ein provisorisch hochgezogener Schutzwall aus Ästen einen großen Teil davon. So wie Younes das von oben erkennen konnte, befand sich dahinter ein Lager. Hunderte Menschen mussten dort Unterschlupf gefunden haben. Überall standen Zelte, waren Planen gespannt und erste Unterstände errichtet worden.

Chloe schloss zu ihm auf und hielt inne. Ihr Blick wanderte über die vielen Zelte und die Menschen in ihrer zerlumpten Kleidung. Auch wenn der Anblick erschreckend war, strahlte Chloe regelrecht. Endlich hatten sie den Weg zurück zu ihresgleichen gefunden. Endlich waren da andere Überlebende, denen sie sich anschließen konnten.

Younes sah das nicht so positiv. Die letzten Tage hatten ihm vor Augen geführt, wie grausam Menschen sein konnten, und er bezweifelte, dass man sie in diesem Lager einfach so willkommen heißen würde. Ob das alleine seine Gedanken waren oder zum Teil auch die von Ma’an, konnte er nicht sagen.

»Unglaublich, oder?« Es lag so viel Erleichterung in Chloes Stimme, dass Younes es nicht wagte, ihr etwas davon zu nehmen, also schwieg er. »Komm, wir gehen zusammen!«, bot sie Ella an und ergriff ihre Hand.

Younes wollte ihnen folgen, doch der Naturgeist hielt ihn davon ab. »Warte!«, stieß Ma’an aus. »Siehst du das?«

»Was soll ich sehen?«, fragte er.

»Younes?«, rief Chloe ihm zu. Ella und sie hatten bereits den halben Weg zurückgelegt.

»Ich komme«, versicherte er.

»Direkt neben dir«, erklärte Ma’an.

Younes schaute sich um. Neben ihm lag nichts weiter als Wiese und allmählich fragte er sich, ob der Naturgeist ihn nur davon abhalten wollte, zu diesem Lager zu gehen. Dennoch ging er in die Hocke und strich mit der Hand über das dichte Gras. Erst dadurch begriff er, was Ma’an längst bemerkt hatte. Mit wild pochendem Herzen beobachtete er, wie seine Finger nicht über die Halme, sondern einfach durch sie hindurchglitten. Ein Schauer überkam ihn.

»Es passiert«, sagte Ma’an warnend.

»Was passiert?« Younes konnte sich keinen Reim aus dem machen, was er da sah.

»Sie brechen zusammen. Alle Sphären. Das kann das Ende bedeuten, verstehst du? Das Ende von allem.«

Ma’ans Worte schraubten sich um Younes’ Inneres. Reglos saß er am Boden und spürte außer einer Welle aus Hitze nichts mehr. Er wagte es nicht, auch nur einen Moment über das nachzudenken, was Ma’an ihm gerade gesagt hatte. Denn das durfte einfach nicht passieren. Wenn die Sphären zerfielen, wäre alles, was sie getan hatten, umsonst gewesen.

Niemals. Der Naturgeist musste sich irren und wahrscheinlich war er allein dafür verantwortlich, dass sich Younes nicht wohl dabei fühlte, zu diesen fremden Menschen zu gehen. Wenn er diesen Gefühlen nachgab, würde er nur bestätigen, was Chloe behauptet hatte. Dann würde er sich wirklich von Ma’an beeinflussen lassen.

»Youn?!«, rief Ella ihm zu. Ihre Stimme riss ihn aus den Gedanken.

»Ich komme!«, erwiderte er und stand auf.

»Hast du mir zugehört?«, fragte Ma’an aufgebracht.

Younes ignorierte ihn. Er schloss zu Ella und Chloe auf und lief gemeinsam mit ihnen den Hügel hinab.

»War etwas?«, fragte Chloe.

Younes schüttelte den Kopf. In seinen Ohren rauschte es und alles in ihm drängte, innezuhalten und einen Blick zurückzuwerfen. Aber das tat er nicht.

»Es wird sich ausbreiten«, warnte Ma’an.

Ein Schauer überkam ihn. Es fiel ihm schwer, die Fassung zu bewahren, aber er wollte nicht, dass Ella und Chloe mitbekamen, was in ihm vorging. Sie hatten schon genug durchgemacht und vielleicht gab es gar keinen Grund zur Panik.

Sie erreichten den Schutzwall. Es war unverkennbar, dass man ihn gerade erst errichtet hatte. Von den angespitzten Speeren, die ihn spickten, lagen noch jede Menge in Haufen daneben und ein paar Männer waren gerade dabei, weitere Stöcke und schwere Stämme in das vorhandene Geäst zu verkeilen. Sie waren zu beschäftigt, um die drei Neuankömmlinge zu bemerken.

Unbehelligt traten sie durch den offenen Durchgang. Erst im Inneren des Lagers fielen sie auf. Die Menschen blieben stehen und warfen ihnen argwöhnische Blicke zu. Das Schweigen, das ihnen entgegenschlug, war erdrückend und Ella klammerte sich so fest an Younes, dass er Mühe hatte voranzukommen.

Wenn man hier Fremde mit so viel Misstrauen empfing, was würden diese Leute erst tun, wenn sie wüssten, wen Younes in sich trug?

»Wenn die infiziert sind, stecken sie uns alle an«, tuschelte man neben ihnen.

»Wir haben nichts zu teilen!«, rief eine Frau.

»Verschwindet!«

Chloe rückte näher an Younes heran. Sie war mindestens ebenso beunruhigt wie er. Dass sie hier nicht willkommen waren, stand außer Frage.

Ein paar der Leute kamen näher, schnitten ihnen den Weg ab und ließen sie nicht weitergehen. Younes blieb stehen und legte seinen Arm um Ella. Es schien, als ob sich Chloes Hoffnungsschimmer allmählich in einen Albtraum verwandelte. Sie waren umzingelt und offensichtlich unerwünscht.

»Hatten wir nicht ausgemacht, dass Wachen aufgestellt werden?«, fragte ein bärtiger Mann und kämpfte sich durch die Menge bis zu ihnen vor. Missmutig betrachtete er Younes von oben bis unten. »Wo kommt ihr her?«

»Toronto«, antwortete Younes.

Der Name der Stadt zog sich wie ein Echo durch die Reihen. Die Leute flüsterten miteinander und einige schienen neugierig zu werden, aber auch unruhig.

»Für ein paar Kinder ist das ein weiter Weg«, meinte jemand skeptisch.

»Wir sollten sie fortschicken«, schlug eine Frau vor.

»Wer weiß, wie viele noch auftauchen? Wir haben keinen Platz mehr.«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut, ein paar der Menschen rückten näher und Younes drängte Ella hinter sich. Unwillkürlich ballte er eine Faust und spürte die Energie, die sich darin ansammelte.

Auch wenn er wusste, wie gefährlich es wäre, in diesem Moment die Kontrolle zu verlieren und sich damit zu offenbaren, juckte es ihn in den Fingern anzugreifen, bevor es die Umstehenden taten. Er würde nicht zulassen, dass sie Ella und Chloe etwas antaten, nur um ihr schäbiges Lager zu verteidigen.

»Warte nicht zu lange. Du bist vielleicht stärker, aber sie sind in der Überzahl.«

»Sie sind nicht infiziert!«, verkündete der bärtige Mann und sah sich dabei um. »Also regt euch alle mal ab.«

»Infiziert?«, fragte Chloe.

Younes konnte sich denken, worauf der Mann anspielte. Die Menschen hier fürchteten sich vor diesen Schatten, den Belial. Und wahrscheinlich hatten sie deswegen den Schutzwall errichtet. Das erklärte auch, warum sie so aggressiv auf Fremde reagierten. Dachten sie etwa, das, was mit der Welt geschah, wäre eine Art Zombieapokalypse?

»Chloe?«, rief jemand.

Chloe löste sich von Younes, sah sich mit weit aufgerissenen Augen um und ihr Blick blieb an einer Frau hängen.

»Mum!«, stieß sie fassungslos aus. Sie stürzte auf ihre Mutter zu und fiel ihr in die Arme.

»Du bist es wirklich, Chloe!«, seufzte ihre Mum voller Erleichterung und Freude.

»Das ist deine Tochter?«, fragte jemand.

Weitere Fragen prasselten auf sie ein. Es waren zu viele, als dass Younes den Überblick behalten konnte. Jemand wollte von ihm wissen, ob es noch mehr Überlebende in Toronto gab, andere fragten, wie die Stadt aussah. Immer mehr Menschen kamen, bedrängten sie und Younes fühlte sich wie eingekesselt.

Plötzlich griff jemand nach seinem Arm und sein Herz machte einen Satz. Es fehlte nicht viel und er hätte den Fremden mit einem Stromschlag von sich gestoßen. Seine Kräfte hatten sich bereits gebündelt, doch der Mann ließ von ihm ab und ging vor Ella in die Hocke. Freundlich lächelte er sie an, während Younes versuchte, ruhig zu atmen und sich nichts anmerken zu lassen.

»Du bist die kleine Ella, nicht wahr?«, fragte er. Ella versteckte sich ängstlich hinter Younes und der Mann stand wieder auf. »Und du bist der jüngere der beiden Tremblay-Jungs.«

Younes nickte steif, kaum fähig, klar zu denken.

»Du weißt doch noch, wer ich bin? O’Connor. Dein Bruder hat vor ein paar Jahren mein Auto zu Schrott gefahren.«

Der Mann streckte Younes die Hand entgegen und der krümmte und spreizte die Finger, um alle Blitze daraus zu vertreiben, ehe er es wagte, sie anzunehmen. An den Vorfall von damals erinnerte er sich nicht mehr. Geschweigen denn an O’Connors Gesicht.

»Die Welt ist klein.« O’Connor lachte verhalten. »Es hat nicht viele aus Toronto bis hierher verschlagen. Ein Wunder, dass ihr es geschafft habt.«

»Ja, das ist es«, stimmte Younes zu.

Eigentlich hätte er erleichtert sein sollen, aber das wollte sich einfach nicht einstellen. Obwohl die Stimmung umgeschwenkt war und niemand mehr davon sprach, sie aus dem Lager zu jagen, fühlte er sich bedroht. Schließlich konnte das jederzeit wieder umkippen. Dazu bedurfte es nur eines einzigen unbeabsichtigten Aufblitzens seiner Kräfte.

»Was werden sie tun, wenn sie es herausfinden?«, fragte Ma’an. »Du weißt, dass du hier nicht sicher bist.«

Younes hasste ihn dafür, dass er recht hatte. Wie gerne hätte er behauptet, dass schreckliche Ereignisse das Gute in den Menschen hervorbrachten. Aber das Gegenteil war der Fall. Angst und Panik lösten Misstrauen aus. Wie diese Leute sie empfangen hatten, bewies das. Jeder war sich am Ende selbst der Nächste und alles, was gefährlich sein könnte, wurde ausgeschaltet, bevor man es richtig verstanden hatte.

Wie lange würde Younes verbergen können, was mit ihm los war? Und wie konnte er sich sicher sein, dass man Ella und Chloe verschonen würde, wenn er sich versehentlich offenbarte?

»Sie haben Angst. Und was tun Menschen, wenn sie sich fürchten? Wenn sie etwas nicht verstehen und verzweifelt sind? Denk doch nur mal an Chloe und wie sie dich behandelt. Wenn sie es schon nicht verstehen und akzeptieren kann, wie werden da diese Fremden reagieren?«

Ein plötzliches Geräusch ließ Younes aufschrecken. O’Connor hatte direkt vor seinem Gesicht mit den Fingern geschnipst. Younes musste total weggetreten gewesen sein.

»Alles okay bei dir?«, fragte der Mann.

»Ja!«, sagte Younes übereilt. »Es geht mir gut.«

Er hatte nicht einmal seine Kräfte eingesetzt, keine Selbstgespräche geführt und schon wurde die erste Person misstrauisch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ans Licht käme, was er in sich trug.

Younes musste alles tun, um das zu verhindern. Ella war noch viel zu jung, um erfahren zu müssen, wie grausam Menschen wirklich sein konnten. Bei diesem Gedanken zog er sie näher an sich heran. Sie sah zu ihm auf und er schenkte ihr ein Lächeln.

Er hatte alles daran gesetzt, sie zu beschützen, und das wollte er auch weiterhin tun. Auch wenn das bedeutete, dass er sie am Ende vor sich selbst beschützen musste.