KAPITEL 11

YOUNES

TAG 10: DI, 09: 00 UHR,
ZWISCHEN TORONTO UND OTTAWA, KANADA

Younes stand am Steilhang, ließ seinen Blick über den versunkenen Landstrich schweifen und fühlte dabei nichts als Leere in sich. Nicht weil es ihn kalt ließ, was mit den vielen Dörfern, Städten und ihren Bewohnern geschehen war. Ganz im Gegenteil. Es fraß ihn von innen heraus auf und ließ nichts mehr von ihm übrig. Nichts als diese Leere.

Als läge unter der reglosen Wasseroberfläche ein Paralleluniversum, spiegelte sich die wild gewucherte Pflanzenwelt mit all ihren Seltsamkeiten darin. Die Farben, die vielen Blüten und ungewöhnlichen Gewächse, das alles im funkelnden Wasser, umschwirrt von den Lichtern der Ignis, wäre ein atemberaubend schöner Anblick gewesen, hätte es nicht die vielen Leichen gegeben. Sie trieben zwischen den Trümmern der von den Wassermassen zerschmetterten Häuser, zwischen Dreck und anderen wertlos gewordenen Überbleibseln der Zivilisation.

Younes’ Kehle schnürte sich ihm zu. Er ertrug diesen Anblick nicht länger und wandte sich ab.

»Könnten wir Meliad fühlen wie ihr, wäre es das, was wir in den letzten zwei Jahrzehnten beim Verfall unserer Welt durchlitten hätten. Genau das.«

Ma’an musste Younes nicht daran erinnern, dass Elekreen Tore in seine Sphäre geöffnet, sie wie sein Sieb durchlöchert und ihnen ihr Leben ausgesaugt hatte. Er musste nicht immer wieder betonen, wie zahlreich und unentschuldbar die Fehler waren, die die Menschen begangen hatten. Die Meliad waren von ihnen genauso grausam behandelt worden wie Schlachtvieh in Massentierhaltung. Die menschliche Hochkultur war zu einem Krebsgeschwür geworden, das die Welt befallen hatte und in ihrem unstillbaren Wachstum nicht nur alles andere, sondern auch sich selbst auffraß.

All das war Younes längst klar. Und er wusste, dass dies hier die Strafe dafür war. Doch das machte es nicht einfacher, diesen Anblick zu ertragen.

»Was willst du jetzt tun? Willst du wirklich da runtergehen? Ich merke doch, wie du immer mehr an der Menschheit zweifelst. Und das zu recht. Terra Maters Pläne für dich können unmöglich darin bestehen, dich den Überlebenden zum Fraß vorzuwerfen. Aber genau das tust du, wenn du nach ihnen suchst.«

Ma’ans Worte ließen Wut in ihm aufkommen. Er hatte doch keine Ahnung von den Menschen. Nicht wirklich. Sie waren nicht alle schlecht, misstrauisch und fremdenfeindlich. Nicht jeder von ihnen.

Eine Weile schwieg Ma’an, als wäre er damit beschäftigt, in Younes hineinzuhorchen. »Du wirst versuchen, ein paar von ihnen zu retten«, sagte er schließlich.

Damit hatte er recht und Younes empfand eine Art Genugtuung, diese Antwort von Ma’an zu hören. Er wollte ihm das gerade bestätigen, als der Naturgeist fortfuhr. »Du glaubst, hier zu sein, um zu beweisen, dass Chloe sich irrt und du fähig bist, meine Kräfte zu kontrollieren. Aber in Wirklichkeit willst du dich doch nur davon überzeugen, dass es diese Fantasie von einem guten Menschen wirklich gibt. Du hoffst, dass sie sich nicht wie eine Horde blutrünstiger Barbaren auf dich stürzen werden, wenn du ihnen zeigst, wer du geworden bist. Du klammerst dich verzweifelt an dem Glauben fest, dass Terra Mater die Böse in dieser Geschichte ist, obwohl du im Grunde deines Herzen längst weißt, dass das nicht stimmt. Das Leben hat dir schließlich wieder und wieder vor Augen geführt, wie die Menschen wirklich sind. Menschlichkeit ist eine Illusion und das weißt du längst. Es wäre so viel leichter, würdest du das endlich akzeptieren.«

»Das reicht jetzt«, zischte Younes.

Was Ma’an behauptete, stimmte einfach nicht. Es durfte nicht wahr sein! Er hatte den Glauben an die Menschheit nicht verloren. Da war Gutes in ihnen, denn wenn nicht, was wäre er dann? Er, mit seiner Wut und seinem Hass auf alles und jeden. Er, der seine Schwester im Stich gelassen und Chloe das Herz gebrochen hatte. Der versucht hatte, seinen Vater umzubringen und die Schuld am Tod seiner Mutter und seines Bruders trug. Was wäre er, wenn es an den Menschen nichts gab, das es wert war, gerettet zu werden?

»Wie du meinst…«, flüsterte Ma’an in seinem Kopf.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Noch einmal ließ er seinen Blick über die Gegend schweifen. Der Verfall der Sphären wurde immer deutlicher. Mittlerweile sah er gleich mehrere Stellen, an denen die Membran durchlässig geworden war. Es wirkte wie Wassertropfen, die auf ein Aquarell gefallen waren und die Farbe dadurch verschwimmen ließen.

Hier und dort drang die Lebensenergie der Bewohner anderer Sphären durch diese Risse. Energiekugeln hoben sich aus den Fluten, und wo sie mit Materie in Berührung kamen, veränderte sich die Umgebung, die Pflanzen wucherten und entstanden wie aus dem Nichts.

An anderen Stellen sickerten die Belial wie schwarzer Nebel in die Welt. Durch sie waren einige Bäume zu düsteren, um sich schlagenden Rankenwesen mutiert, während wieder andere wie in Licht getaucht wirkten und leuchtende Früchte trugen.

Die ganze Umgebung schien ein pulsierendes, von neuem, fremdartigem Leben strotzendes Sammelsurium der Merkwürdigkeiten zu sein. Direkt vor seinen Augen entstand eine neue Weltordnung und er war machtlos dagegen.

»Es wäre besser, du würdest es einfach hinnehmen«, riet Ma’an ihm.

»Besser für wen?«

Er hob die Arme und mit seiner Bewegung begann der Berg zu erzittern und zu rumoren. Der Steilhang brach auf, eine Treppe aus Gesteinsbrocken und Lehm entstand, über die Younes eher schlitterte, als dass er sie ins Tal hinunterlief. Unten angekommen legten sich die Äste der Bäume über das Wasser und bildeten einen Steg, dem er folgen konnte.

»Besser fürs Überleben«, sagte Ma’an.

Younes folgte dem Pfad. Die Äste gaben unter seinen Schritten leicht nach und wurden immer wieder von Wasser überflutet. Größtenteils blieb er aber trocken.

Ein Kreischen, wie aus dem Nichts, ließ ihn zusammenfahren. Er sah hinauf zum Himmel, wo ein Rabe seinen Weg kreuzte. Als Younes bemerkte, dass das Tier direkt auf einen der Risse zuflog, war es bereits zu spät.

Eine Explosion schwarzen Nebels ließ die Welt um ihn herum erzittern. Younes’ Herz machte einen Satz. Instinktiv duckte er sich, der Rauch färbte den Himmel, und mit einem markerschütternden Schrei brach der Rabe auf der anderen Seite der Dunkelheit als riesiges pechschwarz gefiedertes Monstrum hervor.

Younes glaubte seinen Augen kaum. Das Tier war ebenso mutiert wie die Pflanzen. Es war riesig geworden, mit armlangen Klauen und der Flügelspannweite eines Passagierflugzeugs. Mit klopfendem Herzen sah Younes ihm nach.

»Ich kann es dir nicht sagen«, meinte Ma’an.

»Was?«, fragte Younes verwirrt, den Blick noch immer auf den schwarzen Rabendrachen gerichtet.

»Ob das auch mit den Menschen passiert, wohin das führt und wie Terras Pläne aussehen.«

Tatsächlich hatte sich Younes das alles gefragt und wünschte sich, der Meliad würde es beantworten können. Aber im Grunde wusste er ja, dass es nur einen gab, der die Antworten hatte. Terra Mater selbst.

Vorsichtig richtete er sich wieder auf. Der mutierte Rabe war weitergeflogen und hatte ihn nicht bemerkt. Wenn Younes sich umsah, erkannte er weitere Tiere, die sich vor den Fluten in die Bäume gerettet hatten. Eichhörnchen, Katzen, auch einen Fuchs sah er. Er lief weiter und fragte sich, wie viele dieser Tiere mutiert waren und wieso sie die Scheu vor den Menschen verloren zu haben schienen. Statt sich vor ihm zu verstecken, verfolgten ihn ihre Blicke.

Unter ihm schwankte der Pfad aus ineinander verkeilten Ästen. Die bislang reglose Wasseroberfläche schlug Wellen und ließ eine der aufgequollenen Leichen nahe an Younes herantreiben.

Ein ekelerregender Verwesungsgeruch stieg ihm in die Nase. Die Galle kam ihm hoch und er hielt sich die Hand vor den Mund. Mit dem Fuß stieß er den Toten an, der daraufhin in eine andere Richtung trieb.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und das Gefühl, als sein Schuh in das weiche, aufgedunsene Fleisch dieser Wasserleiche eingedrungen war wie in Teig, brannte sich ihm ins Gedächtnis. Die Knie wurden ihm weich, er stolperte zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen Baum.

Ein Geräusch zog Younes’ Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Dort, wo die Leiche hingetrieben war, durchbrach etwas Gigantisches die Wasseroberfläche. Wieder schwankte der Steg und zwang Younes in die Knie.

Ungläubig, mit weit aufgerissenen Augen, beobachtete er, wie ein mehrere Meter langer Wels in die Höhe schoss. Seine Fühler reichten beinahe an ihn heran, der Fisch war blau wie die Nacht und von groben Schuppen übersäht, als wären es Muscheln, die sich darauf festgesetzt hatten – Muscheln, von denen einige leuchteten.

Der Fisch riss die Leiche mit sich, als er sich in die Höhe warf, drehte sich in der Luft und schlug mit der Breitseite wieder auf dem Wasser auf. Er versank so schnell, wie er gekommen war, in den Fluten und Younes riss den Arm hoch, als das Wasser bis zu ihm spritzte.

Er wusste nicht, ob er fasziniert oder ängstlich sein sollte. Irgendwie war er beides. Wie lange würde es dauern, bis ihm eines der mutierten Tiere gefährlich wurde?

Mit zittriger Hand stieß er sich vom Baum ab und lief weiter.

»Wir müssen das nicht tun«, erinnerte ihn Ma’an. »Es steht nicht mal fest, ob es Überlebende gibt.«

Younes hatte nicht vor umzukehren. Aber er konnte auch nicht leugnen, dass seine Hoffnung schwand. Ma’ans Energien zu nutzen, um so nach Überlebenden zu suchen, wagte er nicht. Er wusste zu wenig darüber, was geschehen würde, kämen sie mit einem Bruch zwischen den Welten in Berührung. Womöglich würde dann auch er mutieren.

Vor einem dieser Risse blieb er stehen. Die Äste, die er mithilfe von Ma’ans Kräften zu einem dichten Geflecht über der Wasseroberfläche geformt hatte, waren dort, wo sie ihn berührten, welk und morsch. Ihre Rinde war grau und ihre Blätter, trotz des Wassers, auf dem sie lagen, ausgetrocknet. Es war die Sphäre der Belial, die an dieser Stelle in die Menschenwelt vordrang.

Unmittelbar hinter dem Riss waren die Äste und Blätter wieder saftig und grün.

Younes ging in die Hocke und streckte unwillkürlich seine Hand nach vorne.

»Sei vorsichtig! Mit der Sphäre der Dunkelheit ist nicht zu spaßen.«

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich fasse es nicht an.«

Er konnte nicht leugnen, dass die siechende Dunkelheit eine schwer zu greifende Anziehungskraft auf ihn ausübte. Etwas, ganz tief in ihm, verlangte danach, sie zu berühren. Aber der Drang war nicht stark genug, um Younes wirklich zu verführen.

»Warum tut sie das?«, fragte er. Wut kam in ihm auf. Die Belial starben doch genauso wie die Ignis und die Meliad, wenn sie zu lange mit der Welt der Materie in Berührung kamen. Warum war Terra Mater bereit, so große Opfer zu bringen? Hätte sie nicht alle Kraftwerke zerstört, wäre es nie so weit gekommen.

»Sie wird ihre Gründe haben. Sie hat für alles ihre Gründe.«

»Ach, Schwachsinn!«, knurrte er. Diese Ausreden konnte er sich nicht mehr anhören. »Sie ist ein fieses Miststück, weiter nichts!« Sein Hass auf Terra Mater nahm überhand. Er überwältigte ihn regelrecht und plötzlich weitete sich der Riss vor ihm.

Erschrocken zog Younes die Hand zurück und wich nach hinten aus. Wabernde schwarze Schatten krochen über die Äste, die daraufhin ergrauten und zerbröselten, als wären sie zu Asche verbrannt.

»Das hast du jetzt von deiner ganzen Wut!«, fuhr Ma’an ihn an.

»Jetzt gib nicht mir die Schuld daran.« Er wich weiter zurück und richtete sich auf.

Es war Terra Mater und ihr grausames Werk, was ihn so wütend machte, und ihre Schuld, dass es die Risse zwischen den Welten überhaupt gab.

Younes warf einen Blick zurück. Umkehren kam für ihn nicht infrage. Der Riss, auch wenn er sich geweitet hatte, lag dicht über der Wasseroberfläche, war sehr schmal und hinter ihm führte der Steg unbeeinflusst weiter.

»Du hast doch nicht etwa vor, zu tun, was ich denke?«, fragte M’an.

»Genau das!«, sagte er entschlossen und rannte los.

Mit einem Satz überwand er den Riss, verlor auf der anderen Seite den Halt und stürzte auf das Holzgeflecht.

Eisiges Wasser schwappte ihm über die Arme, er stemmte sich hoch, wollte aufstehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht.

Sofort stieg Panik in ihm auf. Er drehte sich um, wo sich die verkohlten grauen Äste wie Ranken um seine Füße gewunden hatten. Schatten strömten von ihnen aus und krochen ihm die Beine hinauf.

»Fuck, fuck, fuck!«, stieß er aus, zerrte an seinen Beinen, kam aber nicht frei.

»Tu etwas«, verlangte Ma’an.

»Ich versuch’s, verdammt!«

Die Ranken hatten bereits seine Knie erreicht und zogen sich immer enger um seinen Körper.

Er griff nach vorne, bekam ein paar dünne Äste zu greifen und ließ Ma’ans Kräfte in sie fließen. Sie umwickelten seine Handgelenke und zerrten an ihm.

»Das reicht nicht.«

Anstatt dass Younes freikam, umschlangen ihn die Schatten nur noch fester. Er schrie vor Schmerz, umklammerte die Äste mit beiden Händen, musste aber hilflos mit ansehen, wie einer nach dem anderen Stück für Stück auffaserte und schließlich zerriss.

»Was … was soll ich tun?«, presste Younes hervor. Wie auf der Streckbank lag er da und hatte das Gefühl, in zwei Hälften zerteilt zu werden. Ihm wurde schwindelig vor Schmerzen.

»Lass los«, verlangte Ma’an. »Überlass die Kontrolle mir. Noch einmal lasse ich dich nicht sterben. Versprochen.«

Um Younes herum wurde alles in ein waberndes Licht gehüllt. Verlor er das Bewusstsein? Ehe das geschah, musste er tun, was Ma’an vorschlug. Sonst wäre das ihr beider Ende.

Doch noch bevor er die Kontrolle dem Meliad überlassen konnte, erkannte er Bewegung im Leuchten. Ignis.

Sie steuerten von allen Seiten auf ihn zu, legten sich wie sanfter Schneefall auf die Schatten und vertrieben sie.

Kraftlos sackte Younes in sich zusammen. Der Schmerz pulsierte noch in seinem Körper, verlor sich aber nach und nach im kühlen Glanz der Lichtwesen.