KAPITEL 12

YOUNES

TAG 10: DI, 10: 45 UHR,
ZWISCHEN TORONTO UND OTTAWA, KANADA

»Das hätte unser beider Tod sein können«, murrte Ma’an.

Die Ignis schwirrten um Younes herum wie ein Schwarm Leuchtkäfer. »Ich danke euch«, sagte er schwer atmend, woraufhin die kleinen Wesen davonflogen und eine nahe gelegene Baumkrone eroberten.

Younes sah ihnen nach und beobachtete, wie sie die Äste und Blätter umschwirrten. Eine Weile sah er ihnen zu, während sich seine Gedanken um das drehten, was gerade geschehen war.

»Du hattest mich fast so weit gehabt«, sagte er.

»So weit wofür?«, hakte Ma’an nach.

»Beinahe hätte ich dir meinen Körper überlassen und du wärst damit doch mit Sicherheit sofort von hier verschwunden.«

»Kannst du es mir verdenken? Terra will dich lebend wissen und ich bin dazu gezwungen, untätig dabei zuzusehen, wie du dich von einem waghalsigen Abenteuer ins nächste stürzt.«

Schon mehrmals hatte der Meliad behauptet, dass Terra Mater nicht seinen Tod wollte. Aber wie konnte er sich dabei so sicher sein, wo er die Pläne der Erdmutter doch nicht kannte? Und wieso hatte er gesagt, er würde ihn nicht noch einmal sterben lassen? Irgendetwas verschwieg er ihm und Younes konnte regelrecht spüren, wie sich der Meliad bei diesen Gedanken zurückzog und versuchte, sein Geheimnis für sich zu behalten.

Zweifel darüber, ob er sich wirklich für die richtige Seite entschieden hatte, überkamen ihn. Wie konnte er behaupten, die Kontrolle zu haben, wenn der Meliad Dinge vor ihm geheim hielt? Younes konnte nicht einmal sagen, wie viel von dem Hass auf sich selbst und die Menschen sein eigener war und ob es nicht am Ende Ma’an war, der ihn in den Wahnsinn trieb. Das musste ein Ende haben!

»Was ist es?«, verlangte er zu erfahren.

Er hatte nicht vor weiterzugehen, bevor er es nicht wusste, und musste sich im selben Moment fragen, ob es nicht genau das war, was Ma’an wollte.

Eine innere Unruhe ergriff ihn und sein Blick wanderte zurück zum Rand des Tals. War es wirklich die richtige Entscheidung gewesen? Hatte er Chloes Behauptungen zu schnell abgetan? Er wusste es einfach nicht und das brachte ihn zur Verzweiflung.

»Steh auf«, verlangte Ma’an.

»Du hast mir nichts zu befehlen.« Younes’ Finger schraubten sich fester um das Geäst, auf dem er saß.

»Du vergisst, dass es hier um unser beider Leben geht«, erinnerte ihn der Meliad. »Schau mal nach unten.«

Younes tat, was er von ihm wollte, und riss die Augen auf, als er mehrere dieser Riesenwelse direkt unter sich schwimmen sah. Dadurch, dass ihre Schuppen teils leuchteten, konnte er sie auch im trüben Wasser gut erkennen.

Sofort war Younes auf den Beinen.

»Geht doch«, sagte Ma’an.

Die Überheblichkeit des Naturgeistes ging Younes gewaltig gegen den Strich. Wut regte sich in ihm.

»Was willst du von mir? Soll ich einfach aufhören zu denken? Mich komplett zurückziehen und dich eine Dummheit nach der nächsten begehen lassen?«

»Ich will, dass du mir sagst, was du die ganze Zeit verschwiegen hast!«, verlangte Younes.

»Du willst nur, dass ich alle Schuld auf mich nehme«, widersprach Ma’an. »Gib es doch zu. Es wäre so viel leichter für dich, wenn du ein braver Junge wärst und ich das Böse in dir. Dabei weißt du doch, dass ich nur bin, was du aus mir machst. Akzeptier das und dann lass uns von hier verschwinden.«

Younes sah sich um. Die Fische schienen ihn bemerkt zu haben. Sie schwammen in Kreisen um den Steg und Younes hatte ja bereits beobachten können, dass sie in der Lage waren, die Wasseroberfläche zu durchbrechen, um an ihre Beute zu gelangen.

Obwohl er das sah und sein Puls zu rasen begann, als sie ihre Kreise enger zogen, rührte er sich nicht.

»Sag schon!«, zischte er.

»Das hältst du nicht durch«, behauptete Ma’an.

Younes’ ganzer Körper stand unter Anspannung. Sein Atem ging schneller und alles in ihm drängte darauf davonzulaufen. Durch das Geäst konnte er sehen, wie sich einer der Fische direkt auf ihn zubewegte. Er schoss regelrecht in die Höhe und es blieb nicht viel Zeit, bis er den Holzsteg einfach durchbrechen und Younes verschlingen würde.

Er wusste nicht, was es war, das ihn wie angeklebt an Ort und Stelle hielt. War es Sturheit oder Verzweiflung? War es die nicht greifbare Angst, die Kontrolle über seine Gedanken, seine Entscheidungen und sein Handeln zu verlieren? Eine Angst, die viel größer schien, als die vor dem Tod selbst.

Was es auch war, er rührte sich kein Stück.

»Jetzt mach schon!«, schrie Ma’an in seinem Inneren. Er tobte regelrecht.

Younes konnte spüren, wie er versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Wie er mit allem, was er war, um sich schlug und in blanke Panik ausbrach.

»Sag es!«, wiederholte er.

Nur Sekunden blieben. Der Fisch hatte die Wasseroberfläche schon beinahe erreicht und Younes spürte, wie sein Überlebensinstinkt sich regte. Er wollte rennen, aber er musste sich diese Sache beweisen – selbst wenn es ihn alles kosten würde.

»Du kannst sowieso nicht sterben!«, schrie Ma’an panisch. »Ich aber sehr wohl.«

Das reichte ihm als Antwort. Er zog die Arme mit einem Ruck zusammen, und die Äste, durchströmt von Ma’ans Kräften, folgten seiner Bewegung, bündelten sich zu einem festen Strang und beinahe im selben Moment knallte der Fisch mit voller Wucht von unten gegen den Steg.

Knarzend bäumte sich das Gehölz auf, Younes verlor das Gleichgewicht und fiel auf ein Knie. Er klammerte sich an die Äste und wartete, bis sich das Wasser wieder beruhigt hatte. Erst dann wagte er es zu atmen.

Adrenalin schoss ihm durch die Adern. Ein Hochgefühl überkam ihn und er musste grinsen, obwohl er gerade ganz knapp dem Tod entronnen war. Zumindest glaubte er das. Was er Ma’an entlockt hatte, ergab noch nicht sehr viel Sinn.

»Was grinst du so?«, murrte der Meliad. »Du hast den Verstand verloren und vielleicht wäre es jetzt langsam mal an der Zeit, von hier zu verschwinden. Bewiesen hast du ja jetzt, dass du die Kontrolle hast. Selbst wenn du drauf und dran bist, Selbstmord zu begehen, kann ich dich nicht davon abhalten. Wozu also noch weiter durch diese gefährliche Gegend streifen?«

»Du kennst die Antwort doch«, erwiderte Younes. Er stand auf und lief weiter. Die Fische schienen ihre Lektion gelernt zu haben und ließen ihn ziehen. »Wir wäre es, wenn du jetzt alle Karten auf den Tisch legst?«

Der Naturgeist schwieg. Dass er gekränkt war, stand außer Frage. Younes hatte ihm eine gemeine Falle gestellt. Er hätte gerne behauptet, nur geblufft zu haben, aber dem war nicht so. Der Gedanke, auf diesem Steg zu sterben, war nicht so erschreckend für ihn gewesen, wie er geglaubt hatte. Die Todesangst war da gewesen, aber die anderen Ängste waren einfach größer. Er wollte keine Marionette sein.

»Das bist du aber«, sagte Ma’an. Younes verengte den Blick. Worauf wollte der Naturgeist hinaus? »Du erinnerst dich an die Schussverletzung?«

»Wie könnte ich das vergessen?«

»Du bist an diesem Tag gestorben«, erklärte Ma’an. »Sie hat dich zurückgeholt.«

»Sie?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Du meinst, Terra Mater hat mich zurückgeschickt? Sie hat mich nicht sterben lassen?«

»Gestorben bist du schon, aber du warst höchstens ein paar Sekunden weg.«

Wieso Terra Mater ihn lebend wissen wollte, verstand er nicht. Warum hatte sie ausgerechnet ihm eine zweite Chance gegeben, während sie alle anderen Menschen gnadenlos tötete?

»Wieso erfahre ich das erst jetzt?«

»Warum wohl? Du hältst nichts von Terra Maters Plänen und willst unbedingt die Kontrolle haben. Wie fühlt es sich an zu wissen, dass du ein Teil dieser Pläne und nicht meine, sondern ihre Marionette bist?«

Wie sollte sich das schon anfühlen? Er war wütend, voller Frust und aufgestautem Hass auf Dinge, die er nicht beeinflussen konnte. Zu wissen, dass alles, was er tat, ein Teil von dem sein könnte, was Terra Mater von ihm wollte, brachte ihn zur Verzweiflung. Aber Ma’an hatte nicht das Recht zu entscheiden, welche Dinge er erfuhr und welche nicht.

»Es war das letzte Mal«, schwor Ma’an. »Keine Geheimnisse mehr.«

Younes wusste nicht, ob er ihm das glauben konnte. Er wusste gar nichts mehr.

»Spürst du das?«, fragte der Naturgeist.

Younes ließ vorsichtig seine Kräfte in die Umgebung fließen. Er wagte es nicht, sich zu weit voranzutasten, glaubte aber Leben wahrzunehmen.

Ob es tatsächlich Menschen waren, konnte er nicht sagen.

Er ließ den Steg zwischen den dichten Bäumen hindurch in die Richtung wachsen, die er ausgemacht hatte, und folgte ihm.

Der Anblick, als sich die Baumreihen lichteten, verschlug ihm den Atem. Vor ihm erhob sich ein Berg aus dem Wasser, an dem halb von Schlick verdeckte Gebäude wie Fliegen an einer Honigfalle klebten.

Gebannt starrte Younes auf dieses unwirkliche Bild. Von seiner Perspektive sah es aus, als würde er über die Dächer dieses Dorfes fliegen. Er konnte Wohnhäuser, eine Tankstelle und mehrere Geschäfte erkennen. Abgerutschte Autos lagen auf den Hauswänden, Straßen schienen einfach in den Himmel zu führen und fast alles, was nicht im Boden verankert gewesen war, lag in einem riesigen Haufen aus Schrott am Fuße des Berges.

»Dort vorne«, sagte Ma’an.

Younes konnte es sehen. Im Schrottberg bewegte sich etwas. Noch war er zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu können, aber es musste sich um Menschen handeln, die diese Katastrophe irgendwie überlebt hatten.

»Eines muss man euch lassen. Ihr seid zäh«, meinte Ma’an anerkennend.

Younes lief weiter und sah, dass ein paar kahle Felsen aus dem Schrott ragten. Wellen brachen sich daran und schlugen den ganzen Unrat immer wieder gegen den steilen Bergkamm. Scheinbar hatten sich die Überlebenden dort zusammengerottet und saßen nun fest. Der Berg war zu steil, um hinaufzuklettern und die Fluten zu aufgewühlt, um die Felsen verlassen zu können.

»Es wird kaum etwas nutzen, aber ich erinnere dich daran, dass wir von den anderen Menschen weg sind, um zu vermeiden, enttarnt zu werden. Willst du das wirklich tun, nur um etwas zu beweisen?«

Younes antwortete nicht. Wie viele Überlebende konnten das sein? Ein paar Dutzend vielleicht? Er könnte versuchen, ihnen den Berg hinaufzuhelfen. Dort wären sie zumindest vorübergehend sicher. Selbst wenn er nur ein paar Menschen vor Terra Mater retten konnte, war es das Risiko wert.

Dennoch stand er wie gelähmt da und tat nichts. Vielleicht stimmte es ja und er war in Wirklichkeit gar nicht auf der Suche nach Überlebenden, sondern nach etwas Menschlichkeit. Und die Angst davor, sie nicht zu finden, hinderte ihn am Weitergehen.

»Noch können wir umkehren.«

Das war das Letzte, was er wollte.

Er trat einen weiteren Schritt vor, breitete die Arme aus und die Äste wucherten wie ein Spinnennetz über das Wasser, auf die Überlebenden zu.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihn bemerkten und sich alle in seine Richtung gewandt hatten.

»Bleib weg!«, schrie ihm ein Mann schon von Weitem zu.

»Ich hab es ja gesagt«, murrte Ma’an.

Younes hatte die Strecke bis zu den Felsen noch nicht ganz hinter sich gebracht. Nahe dem Berg war das Wasser aufgewühlter und brachte die Äste unter ihm ins Schwanken, sodass er breitbeinig dastehen musste, um das Gleichgewicht halten zu können.

Verteidigend hob er die Hände. »Ich will nur helfen!«

Der Mann, circa Mitte fünfzig, mit Vollbart, in Jeans und Flanellhemd gekleidet, richtete einen Stock auf Younes. Er hatte sich schützend vor ein paar Kindern aufgebaut.

Younes ließ seinen Blick über die Gruppe Überlebender schweifen. Es waren viele Frauen und Kinder unter ihnen. Einige hatten offensichtliche Verletzungen davongetragen, alle waren sie durchnässt und zitterten. Verzweiflung und Angst zeichnete ihre Gesichter.

»Keinen Schritt weiter!«, drohte der Mann.

»Du hast ihn gehört«, schloss sich ihm ein zweiter an. Wenn sich Younes nicht täuschte, trug er die Kleidung eines Soldaten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

»Sie sterben lieber, als sich von dir helfen zu lassen. Es sind nun mal Menschen, was hast du erwartet?«

Younes ignorierte ihn. Wohin es führte, vor den Augen anderer mit sich selbst zu sprechen, hatte er bereits zur Genüge erfahren dürfen.

»Früher oder später wirst du mich nicht mehr ignorieren können und dann zeigen sie ihr wahres Ich.«

»Ich bin ein Mensch, wie ihr«, versprach Younes.

»Gute Idee. Behaupte einer von ihnen zu sein. Das macht es so viel leichter, dir selbst zu beweisen, dass sie keine Angst vor Fremden haben.«

»Menschen lassen keine Äste über Wasser wachsen!«, widersprach der bärtige Mann.

»Ihr habt uns alles genommen!«, schrie eine Frau unter Tränen. »Lasst uns wenigstens unser Leben.«

»Geh einfach!«, verlangte der Soldat. »Geh und lass diese Leute in Frieden.«

»Du hast ihn gehört«, sagte Ma’an. »Du wolltest es versuchen, sie wollen keine Hilfe. Lass uns abhauen, bevor sie anfangen, mit Steinen nach uns zu werfen.«

Der Naturgeist sagte das nicht nur so. Auch Younes hatte bemerkt, dass einige der Leute begannen, sich zu bewaffnen.

»Ich heiße Younes«, sagte er. »Ich bin siebzehn Jahre alt und komme aus Toronto. Ich will nur helfen. Bitte.«

»Verschwinde!«, schrie der Soldat, zog eine Waffe und zielte auf ihn.

Younes’ Herz machte vor Schreck einen Satz. Er wich einen Schritt zurück und hob die Hände weiter an.

»Abi«, stellte sich eine Frau vor und richtete sich auf.

»Oliver«, sagte der Mann mit Bart und senkte allmählich den Stock, mit dem er sich bewaffnet hatte.

Scheinbar waren sie bereit, ihm zu glauben.

Plötzlich traf Younes etwas an der Schulter, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er stürzte. Die eisigen Fluten schlugen über ihm zusammen, bevor er auch nur begreifen konnte, was geschehen war.

»Schwimm, verdammt, schwimm!«, schrie ihn Ma’an an.

Er schnappte instinktiv nach Luft, atmete Wasser ein und spürte, wie ihn seine Kleidung nach unten zerrte. Panik rauschte ihm in den Ohren, seine Lunge brannte und er schlug wild um sich. Er versuchte, irgendwie nach oben zu kommen, wusste aber nicht mehr, wo das war. Um sich herum sah er nur Luftblasen und ein Wirrwarr aus Ästen, in denen er sich verheddert hatte.

Etwas schoss direkt neben ihm durchs Wasser. Er wollte davor wegkommen, erkannte dann aber eine Hand, die ihn packte und nach oben zerrte.

Er durchbrach die Wasseroberfläche und schnappte gierig nach Luft. Alles um ihn herum war verschwommen und Geräusche drangen nur dumpf zu ihm vor.

»Ich habe es gesagt!«, schrie Ma’an wutentbrannt. »Ich habe es doch gesagt.«

Die Hand, die ihn gepackt hatte, zog ihn durch das Wasser.

»Helft mir!«, rief jemand.

Weitere Hände griffen nach ihm, zerrten ihn an Land und über ihm tauchte ein verschwommenes Gesicht auf.

»Atmet er?«, fragte eine Frau.

Younes blinzelte, konnte dadurch aber nicht besser sehen. Sein Körper fühlte sich taub an und er brauchte all seine verbliebene Kraft, um zu atmen.

»Alles gut. Er lebt«, erklärte die Person, die sich über ihn gebeugt hatte.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, schrie eine Frau.

Es wurde laut um ihn herum. Direkt neben seinem Kopf trampelten Füße, ein Handgemenge schien ausgebrochen zu sein und die Menschen warfen sich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf. Es waren zu viele Stimmen, die durcheinanderriefen, als dass Younes etwas verstehen konnte.

Noch einmal versuchte er, sich zu bewegen, und diesmal gelang es ihm. Er stemmte sich hoch, kippte zur Seite weg und spuckte Wasser aus.

Jemand klopfte ihm auf den Rücken.

»Es reicht jetzt!«, schrie derjenige. So langsam ließ das Rauschen in Younes’ Ohren nach und er erkannte die Stimme wieder. Es war dieser Oliver, der ihn aus dem Wasser gezogen hatte und jetzt triefend nass neben ihm saß.

Younes sah auf. Die Menschen gingen noch immer aufeinander los. Einer dieser Leute hatte wohl einen Stein nach ihm geworfen und ihn damit ins Wasser befördert.

»Aufhören«, stieß er kraftlos aus.

Alles, was er gewollt hatte, war, zu helfen und nicht die Ursache für Hass und Anfeindungen zu sein.

»Er wird uns alle umbringen!«, schrie eine Frau.

Oliver half Younes aufzustehen. Zwei Männer hielten die Frau in Schach. Sie versuchte mit aller Macht, sich zu befreien, hatte aber keine Chance. Younes suchte nach dem Soldaten mit der Waffe, konnte ihn auf die Schnelle jedoch nicht finden.

»Du hast versucht, ihn umzubringen, nicht umgekehrt!«, fuhr Abi sie an. »Er ist noch ein Kind!« Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf Younes. Ihn als Kind zu bezeichnen, kam ihm übertrieben vor. Aber wenigstens versuchten sie nicht alle, ihn umzubringen.

»Er ist ein Monster!«, widersprach die Frau unter Tränen.

»Wir wissen nicht, was er ist«, sagte Oliver. »Wir wissen auch nicht, was hier passiert. Alles verändert sich. Wieso also nicht auch wir Menschen? Er sagt vielleicht die Wahrheit und will uns nur helfen. Und wir können diese Hilfe wahrlich gebrauchen.« Er wandte sich ihm zu. »Younes, richtig?«

Younes nickte.

»Wenn du uns noch immer helfen willst, sind wir dir dankbar. Keiner von uns kann Äste über Wasser wachsen lassen. Wir sitzen hier fest.«

Bevor er antworten konnte, tauchte direkt vor ihm ein anderes Gesicht auf und Younes wich unweigerlich zurück. Skeptisch sah ihn der Mann an. Er war etwas jünger als Oliver, mit breitem Mund und kurz geschorenem Haar.

Statt wieder zu verlangen, dass Younes verschwand, bot ihm der Soldat diesmal die Hand an.

Zögerlich griff er zu.

»Sorry, Kleiner. Das mit dem Wasserbad ist scheiße gelaufen. Geht’s wieder?«

»Es geht«, bestätige Younes, wusste aber nicht recht, was er von diesem Kerl halten sollte. Er wirkte nicht sehr vertrauenerweckend auf ihn. Die ganze Situation ließ nicht zu, dass er sich entspannte. Sein Puls raste noch immer und er rechnete damit, sich jederzeit wieder verteidigen zu müssen.

»Da hast du vollkommen recht«, zischte Ma’an. »Du solltest ihm nicht vertrauen. Weder ihm noch den anderen.«

»Lucas«, stellte sich der Soldat vor. »Noch mal, es tut uns leid. Die Nerven liegen bei uns allen blank. Wir sitzen schon eine ganze Weile hier fest.«

»Ihr vertraut ihm doch jetzt nicht so einfach?!«, fragte die Frau, die von den anderen zurückgehalten wurde. Panik und Verzweiflung lag in ihrem Blick. Ungläubig sah sie sich zwischen den Umstehenden um. »Er kann die Natur kontrollieren und die ist es doch, die gerade verrücktspielt. Bestimmt haben wir ihm das alles zu verdanken!«

»Dann hätte er uns auch gleich töten können«, konterte Abi. Sie war eine hübsche junge Frau mit blondem Haar und blasser Haut. Eine Platzwunde klaffte an ihrer Stirn und dunkle Augenringe zeichneten ihr Gesicht.

All diese Menschen sahen mitgenommen aus, und dass sie Panik hatten und von ihrer Angst beherrscht wurden, war völlig normal. Aber am Ende hatten sie ihm geholfen. Sie hatten Menschlichkeit gezeigt.

»Das beweist nichts. Sie haben dich doch nur gerettet, weil sie deine Hilfe brauchen. Doch selbst wenn es so etwas wie Menschlichkeit war, ändert das nichts. Die Menschen können noch so viel Gutes in sich tragen. Am Ende reicht einer, der den Stein wirft. Wenn ihr alle von Grund auf böse wärt, hätte euch Terra Mater schon viel früher vernichtet. Aber das seid ihr nicht. Euer Fehler ist, dass die Dummen, die Ängstlichen und die Wütenden immer lauter schreien als die Klugen unter euch. Das Böse wird immer gewinnen, weil ihr es gewinnen lasst. Diesmal hattest du Glück, aber was ist beim nächsten Mal? Die Menschen haben nie gelernt, für das zu kämpfen, was ihnen wirklich wichtig ist, sondern immer nur gegen das, was ihnen Angst macht. Und früher oder später werden sich diese Leute hier gegen dich stellen. Du wirst schon sehen.«

Younes erwiderte nichts darauf. Was hätte er auch sagen können? Im Grunde wusste er ja, dass Ma’an die Wahrheit sagte. Und die Tatsache, dass er sich unter diesen Menschen, trotz der Freundlichkeit, die die meisten von ihnen ihm entgegenbrachten, wie ein Kaninchen unter Wölfen fühlte, bestätigte das nur.

Sosehr er es auch wollte, er vertraute keinem von ihnen.

Was war bloß mit ihm passiert? Er hatte geglaubt, dass es die Umstände gewesen waren, die ihn von Chloe und Ella weggetrieben hatten, und war fest davon überzeugt gewesen, dass es anders wäre, wenn die Menschen seine Fähigkeiten sahen und akzeptierten. Aber jetzt musste er sich fragen, ob es überhaupt noch einen Unterschied machte, wem er begegnete. Vielleicht würde er sich nie mehr wie einer von ihnen und unter Menschen sicher fühlen können.