KAPITEL 13

ADDY

TAG 10: DI, 19: 00 UHR,
SÜDWESTLICH VON OXFORD, ENGLAND

Sie behandelten Addy, als wäre sie geisteskrank. Man hatte ihr die Hände auf den Rücken gebunden, sie in eine kleine Kammer gesperrt und zwei Soldaten im Raum statt vor der Tür postiert.

Als würden die beiden Männer dafür trainieren, vor dem Buckingham Palace als Wachen eingesetzt zu werden, starrten sie bloß reglos ins Leere.

Addy war so unglaublich wütend. Keiner wollte ihr zuhören und keiner verstand, was gerade mit der Welt geschah. Sie hatte es auf alle möglichen Arten versucht, hatte es ruhig und sachlich erklärt, es geschrien, an die Vernunft der Leute appelliert, sie angefleht. Aber es war ihnen egal.

Seit einer gefühlten Ewigkeit hielt man sie fest, gab ihr in regelmäßigen Abständen zu essen, ließ sie aber nicht einmal alleine, wenn sie auf Toilette musste.

Sie war müde, ausgezehrt. Vielleicht würde sie wenigstens in ihren Träumen von den Horrorszenarien verschont werden, die sich ihr Kopf im wachen Zustand ausmalte. Sie schloss die Augen, doch gerade, als ihr Körper schwer wurde und sie das Gefühl hatte, wegzudösen, hörte sie, wie die Türklinke nach unten gedrückt wurde. Sofort saß sie aufrecht.

Ein weiterer Soldat betrat den Raum. Addy seufzte enttäuscht, weil sie von einer Wachablöse ausging, aber dann sah sie, wie ihm Sarah und Jared folgten. Ihr Herz machte einen Satz. Endlich ließ man die beiden zu ihr! Sie rappelte sich auf, Erleichterung überkam sie, doch als sie sich Sarah näherte, wurde sie von einem der Soldaten aufgehalten.

»Geht es dir gut?«, fragte Sarah mit überschlagender Stimme.

»Lassen Sie mich!«, verlangte Addy, riss sich los und fiel ihrer Freundin in die Arme.

»Sorry, sie wollten uns nicht früher zu dir lassen«, erklärte Jared und wandte sich dann an die Soldaten. »Können wir jetzt mit ihr reden oder was?«

Die Männer wechselten nur schweigende Blicke, während Addy Sarah fest an sich gedrückt hielt. Sie war so dankbar, ihre Freunde wiederzusehen.

»Kommt schon!«, stöhnte Jared genervt. »Ihr habt hier doch bestimmt alles verwanzt. Wir werden sicher keine geheimen Spionageinfos austauschen oder so.«

Einer der Männer nickte schließlich. »Aber keine Dummheiten anstellen!«, ermahnte er sie, gab den anderen ein Zeichen und sie verließen den Raum.

Addy löste sich wieder von Sarah.

»Hey«, sagte Sarah einfühlsam und fing Addys Blick auf. »Weinst du?«

Addy schüttelte den Kopf, auch wenn ihre Tränen sie Lügen straften.

»Setz dich«, forderte Jared sie auf und deutete auf den Boden. »Wir lösen dir erst einmal die Fesseln.«

»Bloß nicht!«, widersprach Sarah. »Die haben hier wahrscheinlich Kameras und stürmen den Raum, wenn wir was Falsches machen.«

»Da hast du wahrscheinlich recht …«

»Schon gut«, meinte Addy und sank auf die Knie.

Sarah und Jared setzten sich ihr gegenüber.

»Sie haben uns die letzten zwei Tage einem Dauerverhör unterzogen«, begann Jared zu erzählen.

»Dabei bist du wahrscheinlich die Einzige, die wirklich versteht, was gerade geschieht, oder?«, fragte Sarah. »Es heißt, der Kontakt zu vielen Ländern sei nun endgültig abgebrochen. Seit die Kraftwerke abgeschaltet wurden, ist es nur noch schlimmer geworden! Sie wollen jetzt alle wieder anschalten.«

»Das macht auch keinen Unterschied mehr«, murmelte Addy. Sie starrte auf den Boden, weil sie es nicht übers Herz brachte, ihren Freunden in die Augen zu blicken.

»Wie meinst du das?«, fragte Jared.

»Sie hat bereits erreicht, was sie erreichen wollte. Die Membran zwischen den Sphären ist durch die vielen Kraftwerke, die sie zerstört hat, schon geschwächt genug, und weitere Meliad zu töten, wird die Menschheit nicht retten. Wahrscheinlich ist Terras Macht über die Natur mittlerweile so stark, dass sie alle übrigen Kraftwerke mit nur einem Schlag ausradieren könnte, wenn man sie wieder anschaltet.« Addy sah nun doch zu den beiden auf. Mit großen Augen starrten sie sie an. Die Angst, die sie darin lesen konnte, schnürte ihr die Kehle zu und ihre Stimme war rau und erstickt, als sie weitersprach. »Terra Mater wird eine neue Welt erschaffen. Eine Welt, in der es für die Menschen keinen Platz mehr gibt. Das war von Anfang an ihr Plan und alles, was wir getan haben, war wie eine Rebellion von Ameisen gegen einen Flächenbrand.«

»Aber …«, begann Sarah und schüttelte benommen den Kopf.

»Dann hat sie die Kraftwerke nicht zerstört, um die Meliad zu retten?«, fragte Jared.

»Nein, sie wollte die Membran zwischen den Welten schwächen. Die Menschen haben schon zu viel Schaden angerichtet, also wird sie erst uns vernichten und dann eine ganz neue Weltordnung erschaffen – eine, in der es keine Grenzen mehr zwischen den Existenzebenen gibt.«

Jared verengte den Blick. »Und das hast du alles erfahren …?«

»Als ich tot war«, ergänzte Addy. »Und das hätte ich auch bleiben sollen.«

»Sag doch so etwas nicht!«, bat Sarah, beugte sich vor und strich ihr über den Arm.

Addy atmete tief durch. Es führte kein Weg drum herum. Sie musste ihren Freunden sagen, wer sie wirklich war. Aber wo sollte sie anfangen?

Sie sah Sarah an. »Dein Vater hatte eine Vision, als er vor fast 18 Jahren das erste Tor in die Sphäre der Energie aufgestoßen hat«, begann sie. »Er wusste nicht, dass er dadurch einen Riss durch alle fünf Ebenen verursachen würde und was daraufhin geschah. Er konnte es nicht wissen.«

»Und was war das?«, drängte Jared. »Was ist damals passiert?«

Addy sah ihn lange an, ohne die Kraft zu finden, seine Frage zu beantworten. Ihr Inneres war ein Scherbenhaufen und jeder Gedanke an Casimir und die Wahrheit, die Terra Mater ihr offenbart hatte, fühlte sich an, als würde jemand in diesen Scherben wühlen. Es tat weh und nichts konnte ihr diesen Schmerz nehmen.

Sie erzählte, was sie erlebt hatte, und senkte den Blick, um nicht in ihren Gesichtern zu sehen, was sie von ihr dachten, sobald sie fertig war. Mit monotoner, leiser Stimme klärte sie ihre Freunde darüber auf, dass die Erschütterung durch die Ebenen Wesen erschaffen hatte, die zu gleichen Teilen in alle fünf Sphären gehörten und deren bloße Existenz Terra Mater erlaubte, ihre Kräfte auf die Menschenwelt auszuweiten.

Gerade als Addy an dem Punkt der Erzählung angelangt war, an dem sie und Casimir in die Fluten gestürzt waren und ihr Herz wieder zu schlagen begonnen hatte, riss einer der Wachen die Tür auf.

Die Soldaten stürmten den Raum, packten Addy und die anderen und zerrten sie auf die Füße.

»Was soll das?!«, verlangte Sarah zu erfahren.

Jared versuchte vergebens freizukommen. »Wir haben nichts getan!«

»Mitkommen!«, verlangten die Männer und bugsierten sie nach draußen.

»Sie haben kein Recht, uns so zu behandeln!«, schrie Addy. Sie wehrte sich, war aber nicht stark genug, um sich losreißen zu können.

Ob sie tatsächlich belauscht worden waren? Ob man ihr endlich glaubte? Vielleicht würde O’Reilly das einzig Richtige tun und Addy erschießen lassen, um all dem ein Ende zu setzen.

Obwohl das für Erleichterung bei ihr hätte sorgen sollen, stieg Panik in ihr auf. Sie wollte nicht die Schuld am Untergang der Menschheit tragen. Sie wusste, dass ihre Gegenwart nur noch mehr Schaden anrichtete, aber der Gedanke, sterben zu müssen, machte ihr unsägliche Angst.

Ohne Erklärung drängte man sie in Richtung Ausgang und erst, als sie dort angekommen waren, begriff Addy, was wirklich vor sich ging.

Es hatte nichts mit ihr zu tun. Es war Terra Mater, die den gesamten Militärstützpunkt in hellen Aufruhr versetzte. Wind fegte zwischen den Gebäuden hindurch und in der Ferne sah man am vom Sonnenuntergang rötlich gefärbten Himmel mächtige Sturmwolken, die sich wie ein Strudel um die ganze Gegend zogen – wie ein mächtiger Sturm und Addy war sein Zentrum.

Sarah und sie wechselten vielsagende Blicke.

»Die evakuieren alles!«, schrie Jared gegen den Lärm an.

Aber wohin? Es gab keinen Ort, an dem sie sicher waren.

Der Wind peitschte zu heftig, als dass Addy aufrecht stehen konnte, lose Gegenstände flogen durch die Luft und wurden in den aufkommenden Sturm gehoben.

Im Augenwinkel sah Addy eine Art Wabern, als würde dort Gas austreten. Sie wandte sich um und riss vor Schreck die Augen auf, als sie sah, dass mitten auf dem freien Platz ein verschwommener Fleck in der Luft schwebte. Niemand schien ihn zu bemerken.

Das war sicher kein Gas, das war ein klaffendes Loch in der Membran der Welt. Feine Risse wie Fäden zogen sich von ihm in alle Richtungen weg, und als ein Soldat einfach durch ihn hindurchrannte, verschwand er.

Er war weg, als hätte es den Mann nie gegeben. Panisch sah sich Addy um, doch niemand reagierte darauf. War sie die Einzige, die das gesehen hatte? Das konnte doch unmöglich sein!

Sie wollte alle warnen, doch in dem Moment schoss gut eine halbe Meile vom Stützpunkt entfernt ein greller Blitz vom Himmel. Die gesamte Gegend wurde in gleißendes Licht getaucht, die Erde bebte und alle warteten auf den Donner, der nicht folgte. Stattdessen erhoben sich Flammen, wo der Blitz eingeschlagen hatte, wurden vom Wind angefacht und samt dichten schwarzen Rauchwolken in den Himmel gesogen. Rasend schnell breitete sich ein Flächenbrand aus, der direkt auf den Stützpunkt zusteuerte.

Die Soldaten führten sie zu einem der Laster, wo Sarahs Mum bereits auf sie wartete.

»Beeilt euch!«, rief sie ihnen zu.

Aus einem anderen Gebäude wurde Ben ins Freie und zu einem Laster begleitet. Er blieb stehen, als er Addy sah. Der Blick, den er ihr zuwarf, war voller Mitgefühl. Sie erinnerte sich gut, wie hasserfüllt er Casimir angesehen hatte, bevor der tödliche Schuss gefallen war. Ob er sie genauso ansehen würde? Ob er ebenfalls, ohne zu zögern, abdrücken und sie töten würde, wenn er wüsste, dass in Wirklichkeit sie die Schuldige war?

Einer der Soldaten legte Ben die Hand in den Rücken und führte ihn zur Ladefläche des Lasters. Er stieg ein und Addy wandte sich wieder den anderen zu. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. Sie wollte nicht die Waffe sein, die der Menschheit an der Schläfe lag. Aber sie war machtlos und das nahm ihr die Luft zum Atmen.

Mrs Bennet half gerade Sarah auf den Laster und sah dann, dass Addy gefesselt war. »Machen Sie sie los!«, verlangte sie von einem der Soldaten.

»Einsteigen!«, befahl der und drängte Mrs Bennet zum Wagen. Widerwillig gehorchte sie und nahm auf der Bank neben ihrer Tochter Platz.

Addy sah noch einmal zu dem Riss zwischen den Sphären. Er schien weiter gewachsen zu sein.

»Sehen Sie das?«, fragte Addy den Soldaten neben sich.

»Hoch mit dir!«, forderte er und schob sie zum Laster.

»Können Sie das wirklich nicht sehen?«

Jemand packte sie, zog sie auf die Ladefläche und man zwang sie, sich hinzusetzen.

»Habt ihr das gesehen?«, fragte Addy die anderen. Hinter ihr war Jared eingestiegen und die Soldaten schlossen die Heckklappe. Er und Sarah sahen sie fragend an.

»Was meinst du?«, fragte Sarah.

»Den Riss«, erklärte Addy und deutete mit dem Kinn nach draußen.

»Ein Riss?« Jared sah sie verwirrt an.

»Ja, es …« Der Konvoi aus Militärfahrzeugen setzte sich in Bewegung und der plötzliche Ruck unterbrach Addy.

»Wo bringt man uns hin?«, fragte Jared.

»Wahrscheinlich gibt es einen Bunker, in dem wir sicherer sind«, mutmaßte Mrs Bennet.

Dadurch, dass nur die Hecklappe und nicht die Plane des Lasters geschlossen worden war, konnte Addy sehen, was hinter ihnen vor sich ging. Sie verließen den Stützpunkt. In der Ferne beschrieben die Flammen den Horizont und Addy konnte das Feuer bereits riechen. Sie beobachtete, wie es vom Wind zerfetzt und hinauf in die Wolken gehoben wurde. Dort glomm es weiter, sodass der Himmel aussah wie glühende Kohlen. Addy konnte kaum fassen, dass das wirklich geschah. Der Himmel brannte.

Als sie den Hügel hinaufgelangt waren, schlugen plötzlich brennende Feuertornados wie Schüsse aus einer Maschinenpistole gen Boden und zerpflückten alles, was sie im Stützpunkt trafen. Mitsamt der letzten Wagen. Addys Herz schlug ihr mit einem Mal bis zum Hals und alles, was sie noch hören konnte, war das Rauschen in ihren Ohren.

Sie konnte sehen, wie Trümmer, Fahrzeuge, Zaunteile und Bruchstücke ganzer Gebäude in die Höhe gehoben wurden. Explosionen ließen die Erde erzittern und plötzlich blendete sie ein grelles Licht. Sie blinzelte und sah, dass die klaffende Wunde zwischen den Sphären endgültig aufgerissen war und den gesamten Stützpunkt verschlungen hatte. Mit eigenen Augen beobachtete Addy, wie eine neue Welt entstand.

Fäden aus Licht, Energie und Dunkelheit wanden sich umeinander, bildeten Ranken, die aus der Erde hervorquollen, zu allen Seiten wuchsen und die gesamte Umgebung niederwalzten. Pflanzen sprossen aus dem Nichts, riesige Pilze, Bäume, Dornengewächs. Das alles breitete sich wie eine Druckwelle aus, die in Zeitlupe über die Umgebung rollte. Addy konnte beobachten, dass Ignis um die Pflanzen schwirrten und Schatten zwischen den Bäumen huschten. Es war, als würde die Welt dort, wo der Stützpunkt gewesen war, vor neuem, fremdartigem Leben überquellen.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte Jared ihr gegenüber. Auch wenn den Riss niemand außer Addy gesehen zu haben schien, entging ihm offenbar nicht, was gerade geschah.

Da entstand ein Paradies. Grün und voller Leben. Und sie war sich sicher, dass jeder Mensch, der sich zu diesem Zeitpunkt noch dort befunden hatte, einfach ausradiert worden war, wie sie es bei dem Soldaten mit ansehen musste.

Addy schämte sich, weil sie das sah und es trotz allem wunderschön fand. Es war, als würde sie gerufen werden. Als hätte sie endlich ihr Zuhause gefunden. Tränen liefen ihr die Wangen runter. Nicht weil sie um die Menschheit trauerte, wie sie es tun sollte, sondern aus tief empfundener Rührung.

Und mit einem Mal hatte sie keine Zweifel mehr. Sie war genau das, was Terra gesagt hatte. Sie hatte nie in die Menschenwelt gehört, sondern genau dorthin – In eine Welt, in der alle Sphären zugleich existierten. Eine Welt, die unweigerlich entstehen musste, um ungeschehen zu machen, was die Menschheit angerichtet hatte.

Sie schaute zu Sarah und ihrer Mum, dann zu Jared. Egal welche Verbrechen die Menschheit auch an der Erde begangen hatten, keiner von ihnen hatte es verdient, dafür zu sterben.

»Schaut mal!«, sagte Sarah und deutete nach vorne.

Ein Ignis hatte sich auf die Ladefläche des Lasters verirrt und huschte zwischen den Sitzbänken umher.

»Scheucht ihn weg!«, befahl ein Soldat.

»Was? Nein!«, stieß Addy aus.

»Verschwinde!«, knurrte einer der Männer, schlug nach dem Ignis und das kleine Lichtwesen schwirrte aufgebracht herum. Addy wollte sich auf die Füße ziehen, um dem Ignis helfen zu können, doch da flog er bereits auf sie zu, berührte ihre Stirn und mit einem Mal wurde sein Leuchten so hell, dass Addy nur noch strahlendes Weiß um sich herum sehen konnte.