KAPITEL 16

ADDY

TAG 10: DI, 21: 50 UHR,
SÜDWESTLICH VON OXFORD, ENGLAND

Addy riss die Augen auf. Ihr Atem ging stoßartig, als hätte sie gerade einen Marathon hinter sich gebracht, und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn.

Fragend sah sie sich um und blickte in verwirrte Gesichter. Wie viel Zeit war vergangen, während sie mit dem Ignis in Verbindung gestanden hatte? Sie warf einen Blick aus dem Wagen. Das gleißende Licht, das der Verschmelzung der Sphären vorausging, verschwand allmählich hinter einem Hügel, der Sturm tobte unerbittlich und der Konvoi bretterte in hohem Tempo über eine abgelegene Straße.

»Wo ist er hin?«, wollte einer der Soldaten wissen.

»Wer?«, fragte Addy.

»Tu nicht so!«, raunzte er sie grob an. »Wo ist die Lichtkugel hin verschwunden? Was hast du mit ihr gemacht?«

»Was soll sie denn getan haben?«, mischte sich Sarah mit bissigem Ton ein. »Das Ding ist einfach verglüht. Vielleicht war es ja eine alte Leuchtkugel, die an Altersschwäche gestorben ist, oder diese Wesen vertragen blödes Menschengeschwätz einfach nicht.«

»Jetzt werd ja nicht frech!«, warnte sie der Mann mit erhobenem Zeigefinger.

»Reden Sie nicht so mit meiner Tochter!«, verlangte Mrs Bennet.

»Das genügt«, unterbrach ein zweiter Soldat den Streit in herrischem Ton. Er war älter als der andere Mann und die Abzeichen an seinem Tarnanzug ließen Addy vermuten, dass er im Rang höher stand.

Seine klare Ansage brachte alle zum Schweigen. Er musterte noch einmal jeden Einzelnen von ihnen, wohl um sicherzugehen, dass niemand vorhatte zu widersprechen, dann stand er auf, lief gebückt an ihnen vorbei und warf einen Blick nach draußen. Lieutenant Smith, las Addy auf seinem Namensschild, als er nahe genug war.

Er hob sein Funkgerät an. »Bravo Tango 9 an alle Fahrzeuge. Wie wäre es mal mit etwas mehr Tempo? Hier hinten wird es langsam ungemütlich. Over.«

Obwohl Smith versuchte, sich keine Gefühlsregung anmerken zu lassen, konnte Addy nicht übersehen, wie nervös er war. Er wandte sich wieder dem Laderaum zu und bemerkte dabei ihren Blick.

»Was schaust du so?«, fragte er gereizt.

Bevor sie etwas sagen konnte, bekam er eine verrauschte Antwort auf seinen Funkspruch und beschäftigte sich damit statt mit ihr, während er zurück zu seinem Sitzplatz stolperte.

Addy sah ihm nach. Die Soldaten konnten noch so abklärt tun, sie hatten doch alle Angst. Und das zu Recht. Wie lange würden sie denn fliehen können? Bald schon gab es keine Grenzen mehr zwischen den Sphären. Nirgendwo. Keinen Ort, an dem sie sicher waren.

»Geht es dir gut?«, fragte Jared leise.

Sie warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu und nickte. Ihr ging es alles andere als gut, aber das musste sie ihm nicht sagen. Das wusste er auch selbst.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Stadt erreicht hatten. Addy war sie noch gut von ihrem Besuch in Terra Maters Welt in Erinnerung. Im wahren Leben bestand sie allerdings nicht aus einer riesigen Müllhalde. Sie fuhren über die holprige Straße an einst beschaulichen Reihenhäusern vorbei. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge wanderten über rote Backsteinfassaden, die von Pflanzen überwuchert worden waren, einige Gebäude lagen in Trümmern, viele Dächer waren eingestürzt und die Glasscherben der gesprungenen Fenster säumten die Wege. Es sah nicht so schlimm aus wie in Orsett oder Birmingham, wo Elekreen-Kraftwerke gestanden hatten, war aber dennoch erschreckend anzusehen. Es erinnerte Addy an Bilder aus Kriegsgebieten. Und in einem Krieg befanden sie sich ja auch. Ein Krieg Mensch gegen Natur.

Ohne anzuhalten, durchquerte der Konvoi die kleine Stadt. Addy sah, dass die Anwohner trotz der späten Uhrzeit aus ihren Häusern gestürzt kamen und ihnen nachliefen.

»Halten wir nicht an?«, fragte sie und sah von einem Soldaten zum anderen. Keiner von ihnen antwortete oder würdigte sie auch nur eines Blickes.

Sie wandte sich wieder zu den Menschen um. Die Angst und Verzweiflung war ihnen deutlich anzusehen. Addy schraubte es die Kehle zu und sie verstand nicht, warum das Militär die Leute einfach im Stich ließ. War es nicht ihre Pflicht, den Bürgern zu helfen? Niemand hatte diesen Leuten gesagt, was um sie herum geschah, und nun, wo ein Sturm tobte, der mächtig genug war, alles in der Umgebung dem Erdboden gleichzumachen, floh das Militär und ließ sie schutzlos zurück.

»Wir müssen doch etwas tun!«, drängte Addy.

»Was denn?«, fragte Lieutenant Smith.

»Wir …« Addy wusste es selbst nicht.

Sie sah Frauen, die ihre weinenden Kinder hielten, verzweifelte Menschen, die dem Konvoi flehend nachriefen und immer wieder schlugen Hände gegen die Fahrzeugseiten. Manche versuchten sich sogar an der Heckklappe festzuhalten und kamen Addy dadurch zum Greifen nahe.

Doch sie wurden nicht langsamer und die ersten ihrer Verfolger gaben auf. Nach und nach fielen sie zurück.

»Wo fahren wir denn hin?«, fragte Sarah. »Es muss doch einen Notfallplan geben. Einen Ort, an dem wir sicher sind. Warum nehmen wir nicht wenigstens ein paar dieser Leute mit? Zumindest die Kinder.«

Wieder schwiegen die Soldaten. Addys Blick driftete zurück nach draußen und fiel auf einen Mann, der gerade eine Seitengasse verließ. Mit regloser Miene sah er ihnen nach und im Dämmerlicht war gut zu erkennen, wie es in seinen Augen golden aufblitzte.

Addys Herz machte einen Satz. Sie musste sofort an Casimir denken, wusste aber im selben Moment, dass es nicht er war, den sie dort sah. Es war ein anderer Meliad. Einer der wenigen, denen es gelungen war, einen Körper zu finden, bevor sich ihre Lebensenergie in der Menschenwelt verlieren konnte.

Am Horizont hinter der Stadt breitete sich die klaffende Wunde der Membran weiter aus. Es wirkte, als hätte sich die Welt dort in eine weiße Leere aufgelöst. Die Umwandlung und Verschmelzung der Sphären kam unaufhaltsam näher und bald wäre dieser Meliad der einzige Überlebende der kleinen Stadt.

Addy fand nicht mehr die Kraft, nach draußen zu sehen. Sie riss sich vom Anblick der verzweifelten Menschen los und sah zu Boden, während der Konvoi die Stadt hinter sich brachte und weiter der Straße folgte.

Was hätte es denn genutzt, diesen Leuten zu helfen, wo es doch keinen Ort gab, an dem sie sicher waren? Selbst wenn sie vorhatten, in einem Bunker Schutz zu suchen, würde sie die neue Welt irgendwann erreichen und jeden einzelnen Menschen das Leben kosten.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

»Geht es dir wirklich gut?«, fragte Jared.

Sie nickte, dabei war ihr speiübel, ihre Brust fühlte sich an, als hätte man ihr das Herz herausgerissen, und das Gefühl der Machtlosigkeit erdrückte sie regelrecht. Sie musste einen Weg finden, zurück in Terra Maters Welt zu gelangen und all dem ein Ende zu setzen. Dabei wusste sie nicht einmal, ob es den anderen gelungen war und wie sie das mit gefesselten Händen, von bewaffneten Soldaten umzingelt, schaffen sollte.

»Sie sieht wirklich nicht gut aus«, meinte Mrs Bennet besorgt.

Die Soldaten schien das nicht zu interessieren. Wieso auch? Sie hatten größere Sorgen als ein blasses Mädchen, dem Tränen in die Augen stiegen.

Was aber, wenn es ihr schlechter gehen würde? Wenn man wegen ihr anhalten müsste? Vielleicht war das die Lösung. Vielleicht hatte sie gerade einen Weg gefunden, sich aus ihrer Lage zu befreien. Zumindest musste sie es versuchen.

Sie begann, schneller zu atmen und merkte, wie ihr schwindelig wurde.

»Hey, sitzen bleiben!«, verlangte der Soldat ihr gegenüber, als sie von der Bank auf die Knie rutschte.

»Sehen Sie denn nicht, dass etwas mit ihr nicht stimmt?«, warf Sarah ihm vor und sank neben Addy auf den Boden. »Was ist mit dir? Bekommst du keine Luft?«

Addy schüttelte den Kopf, nahm tiefe, schnelle Atemzüge und spürte, wie ihre Glieder zu kribbeln begannen. Sie ließ sich vornüberkippen und verdrehte die Augen.

»Tun Sie doch etwas!«, rief Jared.

Lieutenant Smith kam zu ihnen und fühlte ihren Puls. »Vielleicht eine Panikattacke. Haben wir eine Tüte, in die sie atmen kann?«

Ein anderer Soldat klopfte an die Fahrerkabine. »Anhalten, wir haben hier ein Problem!«, rief er.

»Nein, wir fahren weiter!«, widersprach Smith unwirsch.

»Aber …«, brachte der Soldat kleinlaut hervor, klopfte dann aber wieder gegen die Kabine. »Ihr habt es gehört. Weiterfahren.«

Addy hätte schreien können. Wieso funktionierte das nicht? Wieso hielten sie nicht an? Sie waren lediglich etwas langsamer geworden und nahmen schon wieder an Fahrt auf.

»Machen Sie ihre Hände los!«, verlangte Jared.

»Du musst dich beruhigen, Mädchen«, riet Lieutenant Smith ihr wenig einfühlsam.

Irgendjemand hatte eine Papiertüte organisiert, Smith befreite Addys Hände, half ihr, sich aufzurichten, und hielt ihr die Tüte vor den Mund.

»Atme ganz ruhig ein und aus«, sagte er.

Plötzlich warf sich Jared auf Smith, riss ihn zu Boden und entwaffnete den Soldaten. Fassungslos sah Addy zu ihm auf. Mit zittriger Hand zielte er auf den Mann.

»Sie geben sofort den Befehl anzuhalten!«, verlangte er, dann warf er Addy ein gezwungen wirkendes Grinsen zu. »Das wolltest du doch, oder?«

»Ganz ruhig, Kleiner«, ermahnte ihn Smith und hob verteidigend die Hände. »Das willst du doch nicht wirklich.«

Addy rappelte sich auf und stellte sich neben Jared. Sarah warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Tun Sie schon, was er verlangt«, sagte Addy.

»Keiner tut hier irgendetwas«, widersprach Smith und wollte aufstehen.

»Keine Bewegung!«, schrie Jared völlig aufgebracht und entsicherte die Waffe. Seine Hand zitterte immer mehr und Addy war drauf und dran, ihm die Waffe selbst wegzunehmen. »Hier hat niemand was zu verlieren, verstanden? Die ganze beschissene Welt geht gerade unter! Uns bleiben vielleicht noch Minuten und was machen wir? Einen Ausflug ins Grüne? Addy ist die Einzige, die kapiert, was hier abgeht, also tun wir, was sie sagt.«

Ein Schlagloch rüttelte den Wagen durch, Jared verlor beinahe die Waffe, schwenkte sie einmal quer durch die Ladefläche und die Männer duckten sich erschrocken weg.

»Das Ding kann losgehen, verdammt!«, schrie Smith. »Du bringst am Ende noch einen deiner Freunde um.«

»Ihr seid es, die uns alle umbringen werdet!«, entgegnete Addy. »Anhalten. Sofort!«

Der Lieutenant reagierte nicht direkt. Er musterte Addy ausgiebig, als müsse er erst sicher sein, dass es ihr völlig ernst war, dann nickte er schließlich.

»Also gut«, stimmte er widerwillig zu.

Einer der Soldaten klopfte an die Fahrerkabine. »Wir halten an«, befahl er.

Kurz darauf kam der Wagen zum Stehen.

»Was jetzt?«, fragte Jared nervös.

»Jetzt beruhigen wir uns alle erst einmal«, meinte Smith.

»Gib mir die Waffe«, bat Addy.

Sarah sah sie nervös an. »Was hast du vor?«

Smith versuchte aufzustehen, aber Jared zielte sofort auf ihn. »Nicht bewegen, verdammt!«, schrie er geradezu hysterisch.

Auch Addy war unheimlich nervös. Ihr Puls raste und ihr Körper kribbelte noch immer vom Sauerstoffmangel durch die fingierte Panikattacke. Vorsichtig legte sie ihre Hand über Jareds Hände. Sie spürte, wie stark er zitterte.

»Gib sie mir«, bat sie.

General O’Reilly tauchte in Addys Rücken auf. »Was geht hier vor?«, verlangte er zu erfahren.

Smith sprang auf, stürzte sich auf Jared und Addy riss ihm die Waffe aus der Hand, bevor der Lieutenant sie ihm wegnehmen konnte. Jared schrie, als Smith ihm den Arm auf den Rücken verdrehte und ihn mit dem Gesicht auf den Boden drückte. Erst dann bemerkte er, dass Addy die Waffe hatte.

»Es ist vorbei«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Addy sah flüchtig zu O’Reilly, der die Lage schnell analysiert hatte, zurücktrat und nach seiner Waffe griff. Auch die anderen Soldaten machten sich bereit, ihre Pistolen zu ziehen.

Addy zögerte nicht, zielte auf den General und sprang über die Heckklappe von der Ladefläche, als der die Hände hob und beiseitetrat.

»Addy, was hast du vor?«, rief Sarah ihr nach.

Die Soldaten stießen sie grob beiseite und sprangen ebenfalls vom Wagen.

Addy wirbelte herum und zielte nacheinander auf jeden Einzelnen von ihnen. Ihr Puls raste, ihr Atem ging immer noch schnell und sie konnte nicht klar sehen. Es würde nicht lange dauern, bis man sie eingekesselt und entwaffnet hatte. Immerhin war sie nur ein Mädchen mit zittrigen Händen und keiner Ahnung, was sie da eigentlich tat. Und ihr gegenüber standen ausgebildete Soldaten.

Rückwärts lief sie von ihnen weg. Es war dunkel, der Sturm tobte noch heftiger als zuvor, peitschte Regenschauer über die Wiesen und Hügel und die dichten Wolken über ihnen schirmten sie vom Sternenhimmel ab.

»Addy!«, rief Ben über die Sturmböen hinweg.

Sie wirbelte zu ihm herum. Er näherte sich ihr mit ausgestreckten Händen und so vorsichtig, als hätte er es mit einem wilden Tier zu tun.

»Ms Maxwell, überlegen Sie sich gut, was Sie da tun!«, rief O’Reilly ihr zu.

»Wir werden alle sterben!«, schrie sie.

»Das werden wir nicht«, versicherte der General. »Was glaubst du, wohin wir unterwegs sind? Wir werden dich und deine Freunde in Sicherheit bringen und …«

»Nein!«, fiel sie ihm ins Wort. »Es gibt keinen sicheren Ort.«

Sie wusste selbst, wie verrückt das in den Ohren des Generals klingen musste. Aber es war die Wahrheit.

Eine Explosion grellen Lichts hinter dem Hügel links von ihnen, ließ alle zusammenzucken. Addy riss die Augen auf. Ein weiterer Riss der Membran war aufgebrochen und die Erde bebte unter den massiven Umwälzungen, die die Verschmelzung der Sphären mit sich brachte. Nun näherte sich ihnen die neue Welt bereits von zwei Seiten. Die Zeit lief ihnen davon.

»Wir müssen hier weg«, drängte O’Reilly.

Addy zögerte nicht länger, hob die Waffe an und legte sie sich an die Schläfe. Jetzt musste sie nur noch abdrücken, um allem ein Ende zu setzen.

Jeder Muskel in ihrem Arm bis hin zu ihren Fingerspitzen, spannte sich an. Sie hörte ihr eigenes Blut rauschen und kämpfte gegen ihren kaum zu bändigen Überlebenswillen an. Er schien stärker als die Vernunft und doch krümmte sie ihren Finger um den Abzug. Sie musste es tun. Es gab keinen anderen Weg.

Sie hörte das Gebrüll der anderen, hörte Sarah verzweifelt schreien, sah im Augenwinkel, dass Ben losgestürzt war, konzentrierte sich aber nur auf den Abzug der Waffe.

Nichts geschah. Es war, als wäre sie gelähmt. Wieso gelang es ihr nicht, all dem ein Ende zu setzen? Wieso, wenn daran das Schicksal der Menschheit hing? Ihr Leben war doch nichts im Vergleich zu denen, die sie retten konnte. Doch so klar ihr das auch war, weigerte sich ihr Körper dennoch, zu gehorchen. Sie konnte sich einfach nicht überwinden. Aber sie musste! Sie musste es unbedingt.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie völlig außer sich und riss die Waffe runter. Wie feige war sie denn? Wie schwach und unnütz! Alles hing an ihr und sie war dabei zu versagen.

Ben erreichte sie, wollte nach der Pistole greifen, doch sie wich ihm aus, wirbelte herum und rannte über einen Hügel, direkt auf den Sturm zu.

»Hinterher!«, hörte sie O’Reilly rufen. »Schnappt sie euch und dann nichts wie weg hier!«

Ben folgte ihr, packte sie am Arm, kaum dass sie den Kamm des Hügels erreicht hatte, und zog sie mit einem Ruck zu sich.

»Was ist bloß in dich gefahren?!«, fuhr er sie an, schraubte seine Finger fest um ihre Oberarme und schüttelte sie.

»Du verstehst das nicht!«, schrie sie.

Ben schnaubte vor Wut, riss ihr die Waffe aus der Hand und warf sie von sich. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Addy auf die Pistole. Das durfte nicht sein! Sie musste es doch tun. Sie brauchte diese Waffe.

»Hängst du so sehr an diesem bescheuerten Meliad, dass du dich echt umbringen willst? Weißt du, wie verrückt das ist?«

»Es geht nicht um ihn!«, fuhr sie ihn an.

Ben zog sie ein Stück weit vom Gipfel weg, Addy warf einen flüchtigen Blick zur Seite und erkannte erst jetzt, dass sie auf eine Schlucht zugelaufen war. Im Dunkel hatte sie das nicht gesehen. Ihr wurde schwindelig, als sie in die Tiefe blickte.

»Es geht nicht um ihn«, wiederholte sie so leise, dass nicht mal sie sich hören könnte.

Sie hasste sich dafür, dass sie zu feige gewesen war abzudrücken. So viele Menschen hatten ihr geholfen, sie hatten so viel erreicht und erfahren. Wo es keine Hoffnung gegeben hatte, war es ihnen gelungen, einen Ausweg zu finden, und jetzt hing alles davon ab, dass Addy in Terra Maters Welt zurückkehrte. Aber sie hatte es nicht geschafft, ihren Finger zu krümmen, als sie es noch konnte.

»Komm zu dir, Addy!«, verlangte Ben. »Er ist es nicht wert!«

Addy sah zu ihm auf. Er kämpfte so verzweifelt darum, zu ihr durchzudringen, und war dabei doch nicht bereit, ihr wirklich zuzuhören.

Sie riss sich von ihm los. Ein weiteres Mal würde sie nicht versagen. Rückwärts stolperte sie auf den Abhang zu, schloss die Augen, atmete tief durch und ließ sich einfach fallen.

Für einen Moment fühlte es sich an, als würde sie fliegen. Sie wollte an diesem Gefühl festhalten, wollte nichts als die Freiheit spüren und alles vergessen, was um sie herum geschah. Doch das konnte sie nicht.

Sich das Leben zu nehmen, hatte nichts Romantisches oder Heroisches an sich. Es tat einfach nur höllisch weh und sie bereute es trotz allem mit jeder Faser ihres Seins.

Sie riss die Augen wieder auf, sah Bens Silhouette am Rand der Klippe, wie er ihr die Hand entgegenstreckte und schrie, doch der Wind war zu laut, als dass sie ihn hören konnte. Die heftigen Böen zerrten an ihr, trieben ihr die Luft aus den Lungen, dass sie das Gefühl hatte zu ersticken und ein Schmerz, als bohrte ihr jemand durch beide Ohren in den Schädel, raubte ihr beinahe die Sinne.

Zu wissen, dass unter ihr der Boden rasend schnell näher kam, ließ die Panik in ihr pulsieren und ihr Herz so heftig pochen, dass es wehtat. Sie spürte, wie ihr Körper sich allmählich drehte, wusste, dass es nur Bruchteile von Sekunden dauern konnte, bis sie aufschlagen würde. Und zog unwillkürlich die Hände vors Gesicht.

Noch bevor sie sich ganz gedreht und den Boden der Schlucht gesehen hatte, durchzuckte ein heftiger Schmerz ihren ganzen Körper und Eiseskälte umfasste sie. Beinahe im selben Augenblick schraubten sich Arme fest um ihren Körper, zogen sie hoch und sie durchbrach mit dem Kopf eine aufgewühlte Wasseroberfläche.

Sie schnappte gierig nach Luft, drehte sich um und Casimir umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Alles gut?«, fragte er. »Ich halte dich.«

Mit weit aufgerissenen Augen, noch immer nach Luft ringend, starrte sie ihn an.

»Ich weiß«, sagte sie tonlos.

Sie war zurück.

Tränen mischten sich unter das salzige Wasser auf ihrer Haut, ihre Lippe zitterte und sie hob die Hand, um nach ihm zu greifen – als müsse sie Casimir berühren, um sich ganz sicher zu sein, dass er es wirklich war.

Ein ohrenbetäubender Lärm, gefolgt von starkem Wellengang, unterbrach sie. In Terra Maters Welt schien kaum eine Sekunde vergangen zu sein, um sie herum stürzten Gesteinsbrocken ins Wasser und wühlten das Meer auf. Die Wellen schlugen über ihnen zusammen und Addy wurde nach unten gezogen. Sie strampelte mit den Beinen und schaffte es nur mit Mühe zurück an die Oberfläche.

Der Steingigant hatte sich aus den Fluten erhoben. Er schien überall um sie herum zu sein und ließ seine glühenden Augen auf der Suche nach ihnen über das aufgewühlte Meer wandern.

Die Strömung schlug gegen sie wie das Meer gegen eine Steilküste und drängte sie in Richtung des Riesen.

Addy sah sich gehetzt um. Überall um sie herum war Wasser, so weit das Auge reichte. Es schien keinen Ort zu geben, an dem sie sicher waren.

»Dort!«, stieß Casimir aus und deutete geradeaus. Tatsächlich erhob sich nahe dem Horizont eine kleine Insel aus dem Meer.

»Das schaffen wir nie!«, stieß Addy aus.

»Wir müssen.« Casimir sah sie voller Zuversicht an. Obwohl die Insel meilenweit entfernt war, schien er keine Zweifel zu haben. Und warum auch? Sie waren in der Welt der Träume – ein Ort, an dem alles möglich war. Sie nickte und begann zu schwimmen.