KAPITEL 18
AYUMI
TAG 11: MI, 09: 10 UHR, TOKIO, JAPAN
»Ich hasse das Meer«, murrte Taro.
Der Kater saß am Rand der Tür, auf der sie im Wasser trieben, und starrte wie hypnotisiert ins blaue Nass. Taro hob die Pfote, als wolle er nach einem Fisch schlagen, ließ es dann aber bleiben. Kein Wunder, wo es um sie herum doch mehr Plastiktüten und anderen schwimmenden Müll gab, als sie tatsächlich Fische zu Gesicht bekamen.
Ayumi legte das Straßenschild beiseite, mit dessen Hilfe sie durch die Hochhäuser paddelte, und fischte eine Plastikflasche aus dem Wasser. Zu ihrer Enttäuschung war sie leer. Immer wieder sammelte sie etwas aus dem Meer, stieß aber selten auf Verwertbares. Am Tag zuvor hatte sie das letzte Mal etwas getrunken und ihr Mund war bereits völlig ausgetrocknet.
Sie warf die Flasche zurück und schaute zu den beiden Katzen. Yuri schlief friedlich eingerollt, während Taro weiter das Wasser beobachtete. Die beiden benahmen sich schon beinahe wie ganz normale Katzen, was Ayumi ein Lächeln entlockte.
»Katzen können ja auch nicht schwimmen«, meinte sie.
»Was?« Taro riss den Kopf zu ihr herum.
Obwohl er nicht wirklich sprach, sondern nur seine Gedanken mit Ayumi teilte, wurde Yuri davon wach. Er gähnte, streckte sich ausführlich und begann, sich zu putzen.
»Warum erfahre ich das erst jetzt?«, beschwerte sich Taro.
Yuri spuckte Fell aus. »Was tue ich da eigentlich?«, fragte er missmutig.
»Ich glaube zumindest, dass sie nicht schwimmen können«, meinte Ayumi nachdenklich. »Mein Wissen darüber beruht auch nur auf Kinderanimes.«
»Wie lange ist es schon hell?«, fragte Yuri und sah sich um.
Ayumi sank in den Schneidersitz. »Eine Stunde vielleicht oder zwei? Wir müssen etwas zu essen finden und vor allem Trinkwasser. Spürt ihr etwas in der Nähe?« Sie wusste, dass die Naturgeister ihre Kräfte in die Umgebung fließen lassen konnten, um mehr wahrzunehmen, als man mit bloßem Auge erkennen konnte.
Taro schüttelte den Kopf.
»Land ist auch keines in Sicht gekommen, während ich geschlafen habe?«, fragte Yuri weiter.
Ayumi senkte nur den Blick. Sie musste an die Vision von letzter Nacht denken. Dass sie und die anderen drei der Grund für das sein sollten, was mit der Welt geschah, wollte sie nicht wirklich wahrhaben. Sie fühlte sich schuldig, obwohl sie sich das alles nicht ausgesucht hatte. Nichts davon.
Eine Pfote legte sich auf ihr Knie. »Mach dir keine Sorgen«, bat Yuri. »Wir finden Land. Wenn Gebäude über das Wasser ragen, kann unmöglich ganz Japan überflutet worden sein. Sobald wir etwas spüren, sagen wir es dir.«
»Ich weißt, es ist nur …« Sie brach ab und sah sich um. Es war erschreckend zu sehen, was von den Menschen blieb, wenn ihre Häuser, Geschäfte und Straßen zerstört worden waren. Es schnürte Ayumi die Kehle zu. Von dem bunten, hektischen Chaos, das Tokio noch vor wenigen Tagen beherrscht hatte, waren nur Trümmer geblieben, die still auf dem Wasser trieben. Müll, so weit das Auge reichte. Und dazwischen aufgequollene Leichen, bei deren Anblick Ayumi die Tränen in die Augen getrieben wurden.
Die einzige Überlebende in einer Stadt voller Toter zu sein, nahm ihr jede Hoffnung auf Rettung. Und zu wissen, dass sie nur überlebt hatte, um Terra Mater als Waffe zu dienen, machte es nicht besser. Im Gegenteil.
»Es ist nur was?«, hakte Yuri nach.
Taro kam näher. »Es ist nur, dass sie nicht weiß, was sie jetzt tun soll. Ist doch so, oder? Du hattest diese Vision, deine Freunde haben sich entschieden, zu versuchen eure Welt zu retten, und du bist dir nicht sicher, ob du das auch willst.«
Ayumi nickte stumm. Sie schämte sich dafür, mit dem Gedanken zu spielen, Addy und die anderen im Stich zu lassen. Aber wozu etwas retten, das ohnehin schon in Trümmern lag?
Sollten sie wirklich Terra Mater aufhalten, damit das, was Ayumi gerade um sich herum sah, weiter bestehen konnte? Eine Müllhalde voller unnützem Plunder und toter Menschen? In anderen Gegenden sah es doch bestimmt nicht besser aus. Und bevor das alles passiert war, was hatten die meisten Menschen denn gemacht? Sie hatten sich in Traumwelten geflüchtet, um nicht in der Realität sein zu müssen. Eine Realität, die sie nun retten sollte. Vielleicht war das, was Terra Mater erschuf, ein Ort, an dem es nicht nötig war, nach Fluchtwegen zu suchen. Einer, der alles vereinte, was Ayumi an ihren Geschichten, Bildern und Träumen so liebte.
Sie glaubte selbst kaum, dass sie sich traute, so zu denken. Keiner der Helden ihrer Lieblingsmanga hätte es je gewagt, die Menschheit infrage zu stellen.
Aber sie erinnerte sich auch nicht, dass einer von ihnen je gesehen hätte, was sie sah, und gefühlt hätte, was sie fühlte. Da war dieses Ziehen in ihrer Brust, dieses unbändige Gefühl, dem Ort nahe zu sein, nach dem sie sich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte. Ein Zuhause, von dem sie bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es existierte. Sie fühlte das immer dann, wenn sie zu lange auf einen Riss der Membran zwischen den Sphären schaute. Dann kam es ihr vor, als hätte sie bisher nur einen Bruchteil der wahren Welt gesehen.
Und auch wenn Ayumi wusste, dass es nicht richtig war, so zu denken, konnte sie es doch nicht abstellen.
Was war sie denn für ein Monster, mit dem Gedanken zu spielen, alle anderen Menschen zu opfern, nur um endlich dort zu sein, wo sie hingehörte? Was lief falsch mit ihr? Vielleicht waren es der Hunger und die Müdigkeit, vielleicht auch die Angst davor, die letzte Überlebende in ganz Japan zu sein.
»Du musst das nicht tun«, sagte Taro. »Niemand kann dich zwingen.«
Plötzlich aufkommender Wellengang ließ die Tür stark schwanken. Ayumi verlor das Gleichgewicht, fing sich mit den Händen ab und sah mit Schrecken, dass ihr Ruder wegrutschte.
»Pass auf!«, warnte sie Taro.
Ayumi warf sich voran und griff nach dem Schild. Es glitt ihr durch die Finger und versank im Wasser. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihm nach.
Das durfte nicht sein! Sie brauchte ein Ruder, um nicht zwischen dem ganzen Treibgut festzusitzen.
»Halt dich fest!«, rief Yuri.
Der Wellengang nahm noch einmal zu. Ayumi klammerte sich an die Tür, die mit einem Mal in die Höhe gerissen wurde. Sie schrie panisch und ihr Puls raste, als das Brett fast senkrecht stand und drohte nach hinten wegzukippen. In letzter Sekunde überwand die Tür die sich aufbäumende Welle und rauschte auf der anderen Seite in die Tiefe, wo sie in die Fluten eintauchte. Ayumi schraubte ihre Hände, so fest sie konnte, um das Holz. Ihre Arme fühlten sich an, als würden sie zerreißen, und sie konnte nur noch schäumende Gischt und umherwirbelnden Plastikmüll sehen.
Sie kniff die Augen fest zusammen und betete, dass es vorbeiging. Weitere Wellen folgten, doch die Tür stellte sich nicht noch einmal senkrecht. Das Meer wurde allmählich ruhiger und sie wurden gestoppt, als sie gegen etwas Festes prallten.
Ayumis Atem hetzte. Sie brauchte lange, um sich zu überwinden, die Augen wieder aufzuschlagen.
Das Wasser hatte sie komplett überspült. Sie war von oben bis unten durchnässt und zitterte am ganzen Leib. Vor sich sah sie noch die letzten Wellen, die von einer Art Lichtexplosion auszugehen schienen. Dabei hatte es gar keinen Knall gegeben. Dennoch konnte Ayumi in der Ferne einen Ballon aus gleißend hellem Licht sehen. Es war, als wäre die Welt dort einfach entzweigerissen worden.
Panik ergriff Ayumi, als sie an Taro und Yuri dachte. Sie schaute sich gehetzt um und entdeckte den pitschnassen Yuri neben sich, wie er gerade seine Krallen aus dem Holz zog und sich schüttelte. Aber wo war Taro?
Ihr Herz schlug ihr mit einem Mal bis zum Hals. Sie richtete sich auf, ließ ihren Blick über die aufgewühlte Wasseroberfläche fliegen, als es plötzlich vor ihr platschte. Sie schaute nach unten, wo Taro seinen Katzenkörper mühsam aus dem Wasser zog.
»Katzen können schwimmen«, murrte er.
Erleichtert atmete Ayumi durch, rutschte etwas beiseite und griff Taro ins Genick, um ihm zu helfen.
Erst jetzt sah sie, dass es der Pfeiler eines Hochhausgerippes war, gegen den die Wellen sie getrieben hatten. Ihr Blick fiel auf Yuri, der wie gebannt auf das Lichtphänomen starrte.
»Was ist da passiert?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
Ein weiteres grelles Licht brach neben ihnen aus dem Nichts, wühlte das Meer erneut auf und Ayumi klammerte sich an den Stützpfeiler, um kein weiteres Mal weggetrieben zu werden.
»Die Risse brechen auf«, erklärte Taro, ebenfalls von dem Anblick hypnotisiert.
Ayumi blinzelte, um im grellen Weiß etwas erkennen zu können, und nun sah sie es auch. Wie eine Druckwelle in Zeitlupe rollte das Licht über die Umgebung und ließ alles mutieren, womit es in Berührung kam. Felsen wuchsen aus dem Nichts, die Pflanzen, die die Hochhäuser umschlungen hatten, wucherten mit einem Mal, sprudelten geradezu über die Ruinen, und wo zuvor noch das Gerippe eines Gebäudes gestanden hatte, sah Ayumi kurze Zeit später einen grün erblühten Berg aus dem Meer ragen, von dessen Gipfel Wasserfälle in die Tiefe sprudelten und Regenbögen über die Landschaft ragten.
Der Anblick war atemberaubend und Tränen der Rührung sammelten sich in Ayumis Augen. Sie richtete sich auf und war so ergriffen, dass es ihr schwerfiel zu atmen. Was da geschah, was vor ihren Augen entstand, war wunderschön.
Ihre Hand glitt vom Stützpfeiler ab und sie trieb auf der Tür allmählich in die Mitte Hochhauses. Zeitgleich erreichte sie die Welle des Lichts. Was davon berührt wurde, veränderte sich, und als es an einer leblos im Wasser treibenden Leiche angelangt war, löste die sich einfach auf, als hätte sie nie existiert.
Sprachlos starrte Ayumi auf die Stelle, wo eben noch der Tote gewesen war. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Was war da gerade geschehen?
»Uns passiert nichts«, versprach Yuri.
Ayumi wusste, dass er damit recht hatte. Die Welt, die um sie herum entstand, war ihre. Sie war die Verschmelzung aller Sphären und damit auch das Zuhause der Meliad. Sie würden die Körper der Katzen verlassen können und wieder sie selbst sein dürfen. Die Einzigen, die in Terra Maters neuer Weltordnung nicht willkommen waren, das waren die Menschen selbst. Und offenbar nicht einmal ihre Leichen.
Die Stützpfeiler des Hochhauses wurden von einer Art Grünspan überwuchert, als das Licht sie berührte. Das Metall mutierte in rasender Geschwindigkeit zu einer weichen, pilzartigen Oberfläche.
Ayumi legte den Kopf in den Nacken und sah, wie sich die Veränderung allmählich in die Höhe zog. Pfeiler um Pfeiler mutierte, Abertausende kleine Pilze sprossen, die sich miteinander zu einem einzigen riesigen Gewächs verbanden. Dann begann sich das Gerippe zu verbiegen. Es knarzte und ächzte überall um Ayumi herum, aus dem Metallgestänge waren die Fasern eines übermächtigen Pilzstammes geworden, die sich allmählich umeinanderwanden und immer enger zusammenzogen.
Es wurde dunkel um sie herum und Ayumi bekam es mit der Angst zu tun. Sie drehte sich in die Richtung, in die ihr Floß trieb, sah, dass nach und nach alle Öffnungen zuwucherten, und suchte verzweifelt nach etwas, mit dem sie paddeln konnte.
»Festhalten!«, warnte Yuri. Die wachsenden Pilzfasern lösten durch ihre Bewegung Wellen aus und Ayumi klammerte sich ans Holz, als die Tür mitgerissen wurde. Sie schwappten durch eine Öffnung und gelangten zurück aufs offene Wasser.
Ayumi wirbelte sofort wieder herum. Von dem Gebäude war nichts mehr zu erkennen, die Fasern des Pilzes verschmolzen miteinander, schlossen sich zu einem einzelnen Stamm und weit über ihr, wo kurz zuvor noch das Dach eines Hochhauses den Himmel berührt hatte, fächerte sich der mächtige Hut des Pilzes auf.
Er warf seinen Schatten über Ayumi und sie konnte sehen, dass seine Lamellen in bunten Farben glitzerten, wie von Abertausenden winzigen Edelsteinen besetzt. Zwischen ihnen leuchtete es zaghaft und plötzlich löste sich ein Schwarm Ignis von den Lamellen ab und schwirrte um den Stamm.
Ayumi fühlte sich wie in einem Traum. Überall um sie herum entstand diese neue, wundersame Welt. Sie sah das alles und konnte es doch nicht glauben. Die Luft schwirrte von einer Energie, die sie bis ins tiefste Innere erfüllte. Als würde sie mit jedem Atemzug die Freiheit in sich aufnehmen können, die die neue Welt verhieß.
»Ayumi, dort!«, hallte Taros Stimme in ihrem Kopf.
Sie drehte sich wieder um und sah, nicht weit von ihnen entfernt, Land. Während hinter ihr neue Inselteile aus den Fluten wuchsen und das Meer in Seen teilte, steuerten sie direkt auf das Festland zu.
Es stimmte also. Nicht ganz Japan war überflutet worden und Ayumi sah mit Entsetzen und Unglauben zugleich, dass dort Menschen waren. Überlebende.
Bei diesem Anblick überschlug sich ihr Herz beinahe. Sie war also tatsächlich nicht der letzte Mensch in diesem Teil der Welt. Andere hatten sich vor dem Erdbeben und den Fluten in Sicherheit bringen können und nun standen sie dort auf einem Hügel und starrten voller Ehrfurcht auf das, was gerade mit den Überresten ihrer Heimat geschah.
Ein plötzlicher Anflug von Panik ließ Ayumi schwanken. Sie hatte gesehen, was mit den Leichen passierte, und sie wusste, das Terra Mater die Menschen nicht in ihrer neuen Welt haben wollte. Sie würden verschwinden, sobald sie mit dem Licht in Berührung kamen. Die letzten Überlebenden der Menschheit würden einfach aufhören zu existieren. Das durfte nicht passieren! Ayumi konnte einfach nicht untätig dabei zusehen.
»Das …«, stammelte sie. »Das muss aufhören!«
Die beiden Katzen sahen verwirrt zu ihr auf und Ayumi fiel vor ihnen auf die Knie. »Yuri, bitte, bring mein Herz zum Stehen. Nur für einen kurzen Augenblick. Nur lange genug, damit ich in Terras Sphäre reisen kann. Bitte.«
»Aber …«, mischte sich Taro ein.
»Bitte!«, drängte sie.
In ihren Ohren rauschte es und sie wagte es nicht, über das, was sie gerade verlangte, nachzudenken. Das durfte sie nicht, weil ihre Angst sonst überwiegen würde. Er musste es einfach tun, solange sie noch fest davon überzeugt war, die richtige Entscheidung zu treffen.
Flehend sah sie der Kater an. Wie hätte sie mit der Schuld leben sollen, nichts getan zu haben, während sich die neu entstehende Welt unaufhaltsam auf diese Menschen zubewegte? Wie hätte sie es ertragen können, nicht zu wissen, ob ihre Eltern unter ihnen gewesen waren?
Yuri kam näher. »Also gut«, sagte er.
Bevor sie es sich doch noch anders überlegen konnte, streckte sie ihm die Hand entgegen, er legte seine Pfote darauf und ein heftiger Schmerz durchzuckte Ayumi mit einem Mal. Alles um sie herum wurde schwarz, die Geräusche verschwanden, das Gefühl für ihren Körper verlor sich im Nichts und was blieb, war Dunkelheit.