KAPITEL 19
ADDY
ZU EINER UNBESTIMMTEN ZEIT,
IN DER SPHÄRE DER TRÄUME
Addy zog sich ans Ufer, hustete und spuckte Wasser. Sie hatte kaum die Kraft, sich hochzustemmen, versuchte es aber dennoch.
Neben ihr sank Casimir in den Sand. Er starrte auf seine Hände, als wären es nicht seine eigenen, bemerkte Addys Blick und wandte sich ihr zu.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf. Das Steinmonster war ein ganzes Stück von ihnen entfernt, suchte das Meer ab und würde sie sicher bald finden.
»Was ist mit dir?« Sie sah zu seinen Händen und wieder zu ihm auf.
»Nichts, nur …« Er ballte seine Fäuste und spreizte die Finger wieder. »Ich hatte erwartet, in dieser Welt wieder ich selbst zu sein. Ich hatte es sogar gehofft. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich bin …«
»Menschlich?«, fragte sie.
Er nickte still und Addy konnte ihm ansehen, wie sehr ihn das quälte. Es musste ihm wie eine Strafe vorkommen und war wahrscheinlich sogar der Grund dafür, dass er sich in einen Belial verwandelt hatte. Als Meliad wären ihm keine Gefühle inne gewesen, die das Schattenwesen hätten anlocken können. Aber wieso tat Terra Mater ihm das an?
»Ich kann jedenfalls meine Kräfte nicht nutzen …«
»Es wird auch ohne gehen«, versicherte sie.
Ein lautes Krachen in ihrem Rücken ließ Addy zusammenzucken. Sie wirbelte herum und sah, wie der Gigant sich im Wasser drehte. Gesteinsbrocken brachen von ihm ab und seine Bewegungen lösten Wellen aus, die sich bedrohlich schnell auf das Ufer zubewegten. Seine glühenden Augen wanderten über das Meer, bis sein Blick an Casimir und Addy hängen blieb.
Casimir war sofort auf den Beinen. »Schnell weiter!«
Die Insel, auf die sie sich gerettet hatten, war Addy von Weitem wie ein karger Fels vorgekommen, doch jeder Schritt, den sie taten, schien sie wachsen zu lassen. Hügel um Hügel grünes Land erhob sich am Horizont, Pflanzen schlängelten sich unter ihren Schritten über den sandigen Grund und Bäume schienen wie aus dem Nichts zu wachsen.
Über die Schulter sah Addy, wie der Gigant seinen riesigen Mund öffnete. Ein tornadogleicher Schrei fegte über das Meer hinweg. Wellen wurden auseinandergetrieben, eine tiefe Furche schoss über den Sandstrand, Bäume wurden entwurzelt und Addy riss Casimir gerade noch rechtzeitig zu Boden, als die heftige Windböe schon über sie hinwegfegte.
Erst nachdem es wieder ruhig geworden war, richteten sie sich vorsichtig auf.
»Weiter!«, drängte Casimir und rappelte sich auf.
Addy befreite sich vom Sand und sie liefen los.
»Wir müssen die anderen finden!«, rief Addy Casimir zu, während der gerade dabei war, den Stamm eines entwurzelten Baumes zu überwinden.
»Wen?«, fragte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Addy packte seinen Arm und zog sich auf den Stamm. »Die anderen. Die aus meiner Vision, die so sind wie ich.«
»Wieso glaubst du, dass sie hier sind?«
Sie sprang vom Baum und beide duckten sie sich hinter den Stamm, als der Gigant erneut schrie.
»Ich war wieder zurück und habe mit ihnen gesprochen!«, rief Addy über den Lärm des Windes hinweg. »Solange wir am Leben sind, kann Terra Mater ungestört wüten. Wir haben entschieden, etwas dagegen zu tun.«
Casimir schüttelte ungläubig den Kopf. »Wir wissen doch gar nicht, welche Folgen es hat, wenn ihr aufeinandertrefft!«, rief er. »Du hast gehört, was Terra Mater gesagt hat. Ihr seid wie Wirbelstürme und wer weiß, was passiert, wenn sich vier davon vereinen.« Er schien regelrecht wütend zu sein und offenbar auch von ihr enttäuscht.
»Terra Mater ist dabei, alle Menschen zu töten, und wenn ich die drei nicht finde, wird sie einen nach dem anderen wieder zurückschicken. Dann war alles umsonst gewesen!«
»Du meinst, dein Tod?«, fragte er bitter.
»Ich hatte keine Wahl …« Ihre Stimme war brüchig geworden und kam kaum gegen den Lärm an.
Casimir warf einen flüchtigen Blick über den Baumstamm und sie fragte sich, was gerade in ihm vorging. Terra Mater war ihnen dicht auf den Fersen und verfolgte nur ein Ziel: Addy zurück ins Leben zu schicken. Ihnen blieb keine Zeit zu zögern. Doch genau das tat er gerade.
Spielte er etwa mit dem Gedanken, das zuzulassen?
»Ich gehe nicht zurück!«, sagte sie entschlossen. »Nicht ohne dich.«
Beinahe flehend sah er sie an. »Es geht hier nicht um mich.«
»Ich weiß … Es geht um Milliarden Leben. Vielleicht sind es auch nur noch Millionen, vielleicht nur Tausende. Ich weiß nicht, wie viele Menschen die letzten Tage überstanden haben. Aber wir werden alles daran setzen, sie zu retten. Koste es, was es wolle. Auch wenn du nicht verstehen kannst, warum wir das tun.«
Casimirs Blick durchforstete sie. Hätte er denn für sein Volk nicht dasselbe getan?
»Natürlich verstehe ich das«, sagte er. »Warum glaubst du, ich würde das nicht?«
»Weil …« Die Stimme brach ihr weg. »Weil alles, was passiert ist, allein unsere Schuld ist. Weil du bestimmt glaubst, dass die Menschheit es verdient hat, vernichtet zu werden. Und weil … weil du damit vielleicht recht hast.«
Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Es war dieses eine, warme, alles erhellende Lächeln, das so viel intensiver war, nun, da er wirklich er selbst war und nicht nur seine menschliche Hülle.
Er hob die Hand, legte sie an ihre Wange und ihr Herz machte einen Satz. Sie sah zu ihm auf und ertrank im warmen Glanz seiner honigfarbenen Augen.
»Trotz all der Fehler, die ihr begangen habt, was glaubst du, wird mir von eurer Welt im Gedächtnis bleiben? Ich sage es dir: der Tag am Lagerfeuer, als deine Freunde und du beschlossen habt, gegen Elekreen vorzugehen. Du, die du ins Kraftwerk eingebrochen bist, um mich zu retten, die Menschen im Wald, die uns geholfen haben. Deine Freundin, Sarah, die uns zu dir geführt hat, Jared, der sich für uns opfern wollte, und auch Ben, der dich nur vor mir beschützen wollte. Der einzelne Mensch ist zu Großem fähig, Addy. Das habe ich gelernt. All diese kleinen Dinge sind die Samen, aus denen Gutes wächst. Daraus entsteht Mut und Opferbereitschaft.«
Während Casimir gesprochen hatte, war es still geworden. Der Wind hatte sich gelegt, doch ihr blieb kaum die Zeit, über seine Worte nachzudenken, denn plötzlich bebte die Erde und große Gesteinsbrocken fielen um sie herum vom Himmel.
Addys Puls begann augenblicklich zu rasen, sie duckten sich, Casimir griff nach ihrer Hand und zog sie weiter ins Landesinnere.
»Terra Mater wird alles daransetzen, um euch voneinander fernzuhalten und zurückzuschicken!«, rief Casimir ihr zu. »Und du weißt, dass diese Welt riesig ist und Zeit keine Rolle spielt.«
»Ich finde sie«, sagte Addy mit fester Überzeugung. »Schließlich habe ich auch dich gefunden.«
Seine Hand schloss sich fester um ihre. »Ja, das hast du.«