KAPITEL 20
ADDY
ZU EINER UNBESTIMMTEN ZEIT,
IN DER SPHÄRE DER TRÄUME
Addy verlangsamte ihr Tempo, als der Gigant außer Sicht war und die Landschaft sich änderte. Es wurde zunehmend heißer, die Pflanzen waren verdorrt und das Gras hatte eine gelbe Färbung angenommen. Sie musste die Hand vor Mund und Nase legen, weil ein beißender Geruch Übelkeit in ihr auslöste. Es stank nach faulen Eiern.
Aufmerksam sah Casimir sich um. »Wo sind wir hier?«
Es war zwar so, dass ihre Ängste für all das verantwortlich waren, was Terra Mater ihr bisher gezeigt hatte. Aber das hier? Eine Dürre konnte sie unmöglich ausgelöst haben. Es war auch kein Teil ihrer Erinnerung. Dahinter steckte etwas anderes.
Plötzlich schoss ein Schwall heißen Dampfes direkt vor ihr aus dem Boden und sie stolperte erschrocken zurück. Der Geruch nach faulen Eiern wurde intensiver und das Bild vor Addys Augen verschwamm.
»Alles in Ordnung?«, fragte Casimir besorgt.
»Ich denke schon«, brachte sie mit rauer Stimme hervor. Ihr war so übel, dass sie befürchtete, sich übergeben zu müssen.
»Wir sollten schnell weiter«, schlug er vor und sah sich um. »Dort hinten sieht das Land etwas grüner aus.«
»Nein«, widersprach sie. »Wenn dieser Teil von Terra Maters Welt weder aus deiner noch aus meiner Vorstellung stammt, dann muss es der Traum eines anderen sein.«
»Du meinst, wir nähern uns jemandem aus deinen Visionen?«
Sie nickte. Es war mehr als nur eine Vermutung. Es war ein Gefühl, tief in ihrem Inneren. Dass Younes, Ayumi, Liam und sie miteinander verbunden waren wie verwandte Seelen, hatte sich schon darin gezeigt, dass sie einander am Rande der Lichtsäule, über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg, hatten sehen können. Die Ignis hatten das verstanden und sie zueinander geführt und nun war ihr, als wäre da ein Ziehen in ihrer Brust. Wie ein unsichtbares Band, das unter Spannung geraten war. Sie wusste, dass mindestens einer von ihnen in ihrer Nähe sein musste.
»Hier entlang«, sagte sie und folgte eben diesem Gefühl.
Aus dem verdorrten Land wurde einige Zeit später eine felsige Lavalandschaft. Immer mehr Fontänen aus heißem Dampf brachen aus der schwarz verkohlten Erde, durch die sich rötlich glimmende Risse zogen und alle Pflanzen waren tot und von Asche bedeckt.
Um sie herum hoben sich riesige Felsen und am Horizont zeichnete sich ein Vulkan ab, dem sie dieses trostlose Bild zu verdanken hatten. Eine dichte Rauchwolke stieg von ihm auf und verdunkelte den Himmel. Das Atmen fiel Addy zunehmend schwerer und auch Casimir hatte zu kämpfen.
»Dort vorne!« Er deutete zwischen zwei Felsen hindurch.
Die Hitze war so unerträglich, dass das Bild vor Addys Augen flimmerte und sie nicht klar erkennen konnte, was sich dort nahe dem Boden bewegte. Aber Casimir hatte recht. Irgendetwas war zu sehen. Das erste Lebenszeichen in diesem von Zerstörung gezeichneten Landstrich.
Addy lief voraus. Sie passierten den schmalen Durchgang zwischen den Felsen und waren noch nicht auf der anderen Seite angekommen, als die Erde zu beben begann. Steine rieselten auf Addy herab. Sie hob schützend die Arme über den Kopf, rannte weiter und gelangte strauchelnd ins Freie.
»Alles okay?«, fragte Casimir in ihrem Rücken.
Addy konnte nicht antworten. Zu gebannt war sie von dem Anblick des Vulkans. Von ihm ging das Beben aus.
Ähnlich einem wilden Tier, das aus dem Tiefschlaf gerissen worden war, rumorte er bedrohlich. Krachend weiteten sich die Risse im Boden zu tiefen Spalten. Die Erde bebte erneut, Addy breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht halten zu können, und plötzlich schoss aus dem Gipfel des Vulkans eine riesige Fontäne aus Lava, Rauch und Asche.
Ihr Herz begann zu rasen. Sie durften keine Zeit verlieren! Bald wäre alles in der Umgebung von geschmolzenem Gestein bedeckt.
»Hallo?«, rief sie und stolperte voran.
Überall waren nur kahle Felsen, verbrannte Erde und die Asche zu sehen, die auf sie hinunterregnete.
Addy fing sich an einem Felsen, schrie erschrocken auf, weil sie sich die Hand daran verbrannte, und zog sie an ihren Körper. Der Schmerz pulsierte ihr in den Fingern.
»Geht es?«, fragte Casimir und wollte nach ihrer Hand greifen. Er stockte, bevor er sie erreicht hatte, und Addy sah ihm an, was in diesem Moment in ihm vorging.
Er hatte vorgehabt, sie zu heilen, ohne daran zu denken, dass er das in dieser Welt nicht konnte.
»Schon gut«, versicherte sie. »Es ist nichts Schlimmes.«
Er wollte etwas erwidern, als sie in seinem Rücken einen Hut auf dem Boden liegen sah. Ein Stetson mit angesengter Krempe.
Casimir folgte ihrem Blick und Addy verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um durch den Ascheregen mehr erkennen zu können.
Nicht weit vom Hut entfernt saß jemand am Boden, stemmte die Füße gegen den Fels und schien an etwas zu ziehen.
»Liam?«, fragte sie und lief an Casimir vorbei auf ihn zu.
Liam riss den Kopf zu ihr herum. Schiere Panik war ihm ins Gesicht geschrieben. »Hilf mir, verdammt! Addy, hilf mir!«
Sie rannte sofort zu ihm, stürzte neben ihm auf den Boden und ihr Herz machte einen Satz, als sie erkannte, was er da tat. Er hielt die Zügel eines Pferdes in den Händen und zerrte verzweifelt daran.
Das Tier, so unwirklich das auch war, steckte in einem Lavafluss fest und lebte noch. Als wäre es Treibsand und keine kochende Brühe, kämpfte es gegen das Versinken an, hatte die Augen weit aufgerissen und versuchte verzweifelt, die Beine freizubekommen.
»Casimir!«, rief Addy und griff nach den Zügeln.
Gemeinsam zogen sie mit aller Kraft daran, doch das Pferd rührte sich nicht.
»Wir müssen es schaffen!«, presste Liam durch zusammengebissene Zähne hervor. Tränen standen ihm in den Augen. »Ich darf ihn kein zweites Mal verlieren.«
Casimir trat neben sie. Sein Schatten legte sich über Addy, aber warum packte er nicht mit an? Fragend sah sie zu ihm auf.
Sein Blick haftete am Vulkan. Dass der weiter rumorte und die Erde bebte, hatte Addy mitbekommen, doch erst, als sie Casimirs weit aufgerissene Augen sah, schaute sie hoch und stellte mit Schrecken fest, dass der Berg in der Mitte aufgebrochen war und sich etwas Mächtiges aus dem aufsteigenden Rauch kämpfte. Ein weiterer Gigant. Terra Mater.
»Was?« Liam folgte ihrem Blick. »Verdammte Scheiße.«
Finger aus glühendem Gestein umschlossen den Gipfel des zweigeteilten Vulkans mit festem Griff, leuchtende Augen stachen durch den dichten Rauch und eine Bestie aus Lava und Stein, die in ihrer Größe den Berg bei Weitem übertraf, erhob sich allmählich.
Die Felsen bröckelten unter den Pranken des Giganten, er öffnete sein Maul und statt Zähnen kam darin Lava zum Vorschein, die ihm wie zäher Honig zwischen den Kiefern klebte. Als er sich weiter aufrichtete, knackste die Erde, der Vulkan brach endgültig entzwei und der Riss weitete sich bis über die Erde. Er steuerte direkt auf den Lavafluss zu, in dem das Pferd gefangen war.
»Casimir, hilf uns!«, forderte Addy ihn erneut auf und riss ihn damit aus seiner Erstarrung.
Er ging neben ihr auf ein Knie und packte mit an, doch auch zu dritt erreichten sie nichts.
Die Bestie hob einen Arm aus dem Vulkan, schlug die Felsen weg, die ihr im Weg waren, und rammte ihre Klauen tief in die Erde. Das Beben, das davon ausgelöst wurde, sorgte dafür, dass Addy den Halt verlor und gefährlich nah an den Lavafluss rutschte. Sie schrie, warf sich mit aller Kraft gegen die Zügel und zerrte, so fest sie nur konnte, daran.
»Es hat keinen Zweck!«, schrie Casimir.
Liam ließ plötzlich los und stand auf. »Er hat recht«, sagte er und knöpfte sein Hemd auf.
»Was hast du vor, verdammt noch mal?« Völlig entgeistert starrte Addy ihn an.
»Was wohl?! Ich springe da rein und helfe ihm«, knurrte er fest entschlossen.
Addy glaubte nicht, was sie da hörte. »Du willst in glühende Lava springen? Hast du den Verstand verloren?«
»Ich habe das schon einmal getan und überlebt. Fällt dir was Besseres ein?« Dass er mit den Nerven am Ende war, konnte man ihm ansehen.
»Genau das will sie doch«, sagte Casimir und stand ebenfalls auf. »Sie will, dass du in dieser Welt stirbst. So kann sie dich zurückschicken.«
»Er stirbt, wenn ich es nicht tue!«, brüllte Liam und deutete auf das Pferd.
Ein Ruck zog sich durch den Boden, als der Gigant einen Fuß auf festen Grund setzte. Ein großer Teil des Vulkans brach dabei zur Seite weg und Lava ergoss sich über die Umgebung. Addys Puls raste bei diesem Anblick und es fiel ihr schwer, noch einen klaren Gedanken zu fassen.
»Wir müssen gehen«, drängte Casimir.
Liam wischte sich Tränen aus dem Gesicht und raufte sich durchs Haar. Er wusste offenbar weder ein noch aus.
»Verdammte Scheiße!«, stieß er aus und packte erneut die Zügel. »Dann geh doch, wenn du aufgeben willst!«
Casimir schüttelte den Kopf und Addy ergriff Liams Hand.
In dem Moment, als sie sich berührten, ging ein Ruck durch ihren ganzen Körper – gefühlt ging er durch die ganze Welt. Für einen Moment schien alles zu erstarren, selbst ihr Puls raste nicht mehr, und sie sah Liam an, dass er ebenfalls spürte, was gerade zwischen ihnen vor sich ging. Sie musste an das denken, was Casimir gesagt hatte. Was passiert, wenn sich zwei Wirbelstürme zu einem vereinen?
Nur eine Sekunde, dann strömte die Wirklichkeit wieder auf sie ein. Doch das hatte ausgereicht, um Addy zu erlauben, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Das hier ist die Welt der Träume. Deine Welt, die du dir selbst erschaffst. Hier ist alles möglich.« Sie sah flüchtig zu Casimir, und als der nicht widersprach, wandte sie sich wieder Liam zu. »Wenn man fest genug daran glaubt, kann man alles erreichen. Glaubst du, dass dein Pferd freikommen kann?«
Liam starrte sie völlig entgeistert an. »Nein, ich …«
Sie hatte auch nicht daran geglaubt, den Eisbären retten zu können. Sie hatte nicht geglaubt, dass der Wal überleben würde. Im Grunde ihres Herzens, sosehr sie es auch gehofft hatte, war ihr klar gewesen, dass sie sterben würden. Den Fehler durfte Liam nicht begehen.
»Dann versuch es«, forderte sie ihn auf. »Versuch, daran zu glauben. Glaub an dich. Ich tue es auch.«
Zögerlich zog sie ihre Hände zurück, nicht wissend, ob sie das Richtige tat. Sie trat einen Schritt zurück, sodass sie neben Casimir stand. Ihn hatte sie gefunden, weil sie fest davon überzeugt gewesen war, dass sie es schaffen würde. Nun lag es an Liam, seinen Albtraum selbst zu lenken.
»Also gut«, sagte Liam und wandte sich wieder nach vorne.
Addys Herz pochte hektisch, ihr ganzer Körper zitterte trotz erdrückender Hitze und sie biss sich fest auf die Lippe, als sie sah, wie das arme Tier weiter versank. Hatte sie einen Fehler gemacht? Sie wollte gerade nach vorne stürzen, da ergriff Casimir ihre Hand.
Wortlos, ohne den Blick von dem Pferd zu lösen, verschränkte er seine Finger mit ihren und schenkte ihr dadurch neue Kraft. Während alles um sie herum zusammenbrach, hielt er sie und ließ nicht zu, dass sie abstürzte.
Liam zerrte nicht, wie sie erwartet hätte, an den Zügeln. Er atmete tief durch, ging vor seinem Pferd in die Hocke und hielt sie ganz locker.
»Komm, mein Guter, es ist nicht weit«, forderte er das Tier mit ruhiger, aber dennoch zitternder Stimme auf. »Du schaffst das, ich weiß es!«
Das Pferd wieherte, riss den Kopf hoch, wurde aber ruhiger, als Liam die Hand nach ihm ausstreckte. »Schhhh«, säuselte er, stand auf und trat vorsichtig einen Schritt zurück.
Tatsächlich beruhigte sich das Tier, kämpfte sich langsam voran und schaffte es, ein Vorderbein aufs Ufer zu heben. Mit einem weiteren Satz entkam es dem Lavafluss und das geschmolzene Gestein tropfte von ihm ab, als wäre es nichts weiter als zähflüssiger Teig.
»Du hast es geschafft!«, stieß Liam aus. Er strich dem Pferd über den Kopf und legte seine Stirn auf die seine. »Jetzt wird alles gut.« Tränen rannen ihm über die Wangen.
Seine Freude griff auf Addy über. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen und spürte eine Erleichterung wie schon lange nicht mehr.
»Wir müssen weiter«, erinnerte sie Casimir.
Liam sah zu dem Monstrum auf, das sich mittlerweile ganz aus dem Vulkan gekämpft hatte. »Was zur Hölle ist das?«
»Das ist sie«, sagte Addy.
»Terra Mater?« Er warf Addy einen flüchtigen Blick zu. »Und wie, glaubst du, sollen wir so etwas besiegen?«
»Jedenfalls nicht, indem wir hier rumstehen und nichts tun«, sagte Casimir ungeduldig.
Wie um seine Worte zu untermalen, bebte die Erde erneut. Das Pferd wurde unruhig und riss den Kopf hoch, aber Liam hatte es gut im Griff.
»Komm«, forderte Addy ihn auf und folgte Casimir in die einzige Richtung, in die sie laufen konnten. Weg von dem gigantischen Lavamonster.
Addy wirbelte erschrocken zu ihm um.
»Mein Hut«, sagte er, schnappte sich seinen Stetson vom Boden und setzte ihn schief auf, sodass darunter nur sein breites Grinsen zu sehen war. Er hob das Kinn, funkelte Addy durch abenteuerlustige Augen an und griff sich an die Krempe. »Los geht’s!«