KAPITEL 23

ADDY

ZU EINER UNBESTIMMTEN ZEIT,
IN DER SPHÄRE DER TRÄUME

Nachdem Younes seinen Albtraum durchbrochen hatte, war es ihnen problemlos gelungen, das Haus zu verlassen. Der Sturm hatte sich gelegt, die Sonne schien und vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiges Feld mit sanften Hügeln.

Addy erklomm einen dieser Hügel und ließ ihren Blick über die Gegend schweifen. Das Haus war verschwunden und überall um sie herum lag weites, unberührtes Land. Es gab kein Anzeichen von Zivilisation oder sonstigem Leben. Nur hier und dort reckte sich ein kahler Baum aus dem kniehohen Gras, der Wind wiegte die sattgrünen Halme in sanften Wellenbewegungen und über ihnen lag ein wolkenloser, endlos scheinender Himmel.

Irgendwo musste Ayumi sein. Addy war sich darin absolut sicher. Sie alle waren miteinander verbunden und sie verstand mittlerweile, dass sich ihre Wege in dieser Welt unweigerlich kreuzen mussten. Selbst Terra Mater konnte das nicht verhindern. Aber wo in dieser grenzenlosen Weite war Ayumi zu finden? Welche ihrer Ängste hatte diese Umgebung geschaffen?

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

»Alles okay bei dir?«, fragte Younes, der zu ihr aufgeschlossen hatte.

Addy wandte sich ihm zu und strich sich das Haar hinters Ohr. Der Wind zupfte daran und ließ es wild flattern.

»Das sollte ich dich fragen«, entgegnete sie.

Ein trübes Lächeln huschte ihm über die Lippen. »Wieso sollte es mir nicht gut gehen? Schließlich habe ich gerade meine schlimmsten Ängste überwunden. So ist es doch, oder? So funktioniert diese Welt. Wie ein Traum, der davon bestimmt wird, was in einem selbst vor sich geht. Es kann ein Paradies sein oder die Hölle … Wie war es bei dir?«

Addy warf einen Blick zurück zu Casimir. Sie erinnerte sich noch sehr genau daran, wie es sich angefühlt hatte, ihn in dieser Welt in der Gestalt eines Menschen vor sich zu sehen. Sie erinnerte sich an das Glücksgefühl und wie ihr Herz höhergeschlagen hatte.

Wenn sie ihn jetzt ansah, verkrampfte sich ihr Magen. Wie hätte sie sich länger über etwas freuen können, unter dem er so litt? Aber so war das Leben. Das begriff sie allmählich. Nie geschah jemals etwas, das nur Gutes zum Vorschein brachte. Leid und Glück gingen immer Hand und Hand. Wo jemand eine Blume pflückte, starb eine Pflanze, wo jemand ein Gedicht zu Papier brachte, hatte ein Baum dafür sein Leben lassen müssen. Alles, was man tat, jeder Schritt, den man ging, jeder Atemzug, den man nahm, hinterließ seine Spuren. Niemand war nur für sich selbst verantwortlich. Alles hing zusammen. Von der kleinsten Pflanze bis hin zu den größten Tieren und dem Menschen selbst.

»Addy?«, hakte Younes nach und riss sie damit aus den Gedanken.

»Schuld«, sagte sie etwas übereilt.

Er legte die Stirn in Falten.

»Meine größte Angst war es, Mitschuld an allem zu tragen. Ich habe gesehen, wie viel Leid ein einzelner Mensch in seinem Leben verursacht. Aber ich verstehe jetzt, dass es sich gar nicht vermeiden lässt. Niemand kann sich aus der Rechnung streichen. Jeder von uns trägt einen kleinen Teil bei.«

»Wir wären allerdings nicht hier, hätte die Menschheit nicht übertrieben«, meinte Younes.

»Genau. Und woran liegt das? Haben wir tatsächlich vergessen, dass wir Teil des Ganzen sind und dass alles, was wir tun, Auswirkungen auf den Rest der Welt hat? Und anstatt dass wir andere für das bewundern, was sie Gutes tun, reiten wir auf den Dingen herum, die sie nicht getan haben. Statt jemanden zu respektieren, weil er einem hungernden Tier etwas zu essen gibt, kritisieren wir, dass er nicht mehr Tiere retten konnte. Statt jemanden dafür zu bewundern, dass er für eine sauberere Welt auf die Straße geht, machen wir ihm Vorwürfe, dass er ja Mitschuld an ihrer Verschmutzung trägt.«

»So sind wir nun mal …« Younes hob die Schultern und sein Blick glitt in die Ferne. »Das ist es, was uns Menschen ausmacht und was uns zu diesem Punkt geführt hat. Wir wollen nur das Schlechte sehen. Wir können gar nicht anders.«

»Aber wir können uns ändern«, sagte Addy mit fester Überzeugung. »Deswegen sind wir doch hier, oder? Um für eine zweite Chance zu kämpfen. Damit die Menschen es beim nächsten Mal besser machen, sich den guten Dingen zuwenden und versuchen, so viele wie möglich davon zu tun, bevor es zu Ende geht.«

Younes presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Sah er es denn nicht so? Glaubte er nicht daran, dass sie diese Chance verdient hatten? Warum war er dann hier?

»Hey!« Liam erklomm ebenfalls den Hügel und nickte ihnen zu. »Führt ihr hier oben Grundsatzdiskussionen oder warum die Trauermienen? Sollten wir nicht nach Ayumi suchen?«

»Addy!«, rief Casimir, ehe sie Liam antworten konnte. Er war auf die Knie gegangen und hatte das Gras beiseitegekämmt. Scheinbar war ihm etwas aufgefallen.

Addy stieg an Liam vorbei zurück ins Tal und lief zu ihm.

»Schau dir das an.« Er deutete auf den Boden.

Vor ihm blieb sie stehen, blickte nach unten und ein Schauer überkam sie.

Liam holte sie ein. »Verdammte Scheiße«, stieß er aus.

Auch Younes schloss zu ihnen auf und erstarrte bei dem Anblick.

Casimir hatte das Gras beiseitegebogen und darunter war keine Erde zum Vorschein gekommen, sondern unzählige Knochen.

Addy lief es kalt den Rücken runter. Zu ihren Füßen türmten sich die Gebeine von Toten. Die Wurzeln der Gräser wanden sich durch Schädel, um Hände, durch Hüftknochen, umschlangen Arme und Beine. Dieses ganze endlos scheinende, ausgestorbene Land, war auf Leichen errichtet. Und erst nachdem Addy das begriffen hatte, ihre Knie weich wurden und sie einen Schritt zurücktaumelte, knirschten diese Skelette unter ihren Füßen. Wo sie zuvor noch fest davon überzeugt gewesen war, weiche Erde zu spüren, knacksten mit einem Mal brechende Knochen.

»Das war doch eben noch nicht da!«, stieß Liam fassungslos aus und sah sich um.

»Dagegen ist meine Hölle nichts gewesen«, meinte Younes. »Was geht bloß in diesem Mädchen vor?«

»Sollen wir uns aufteilen?«, fragte Casimir. »Jeder geht in eine andere Richtung. Vielleicht finden wir sie dadurch schneller.«

»Nein«, widersprach Addy. »Wer weiß, ob Terra Mater dann nicht verhindert, dass wir einander wiederfinden.«

»Es ist auch nicht nötig«, meinte Younes. »Wir werden sie finden, egal in welche Richtung wir laufen. Unsere Leben sind miteinander verknüpft. Auch über den Tod hinaus. So ist es doch, oder?«

»So fühlt es sich zumindest an«, stimmte Liam zu.

Addy nickte. Sie hob die Hand, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen, und schaute sich um.

Es gab keine Wege, keine Orientierungspunkte. Nur sanft im Wind wiegendes Gras und eine Stille, die Addy anfangs friedlich vorgekommen war, nun aber bedrohlich wirkte. Wie die Ruhe auf einem Friedhof. Und nichts anderes war dieser Ort ja.

»Hier entlang«, meinte Younes und wandte sich in eine scheinbar wahllose Richtung.

Er lief voraus, dicht gefolgt von Liam, der sich schwer darin tat, über die Gebeine zu laufen. »Wir trampeln hier echt auf Toten rum«, murrte er, machte große Schritte und balancierte sich mit den Armen aus.

Addy wandte sich Casimir zu. »Kommst du?«

Er stand auf, nickte zustimmend und ein warmes, wenn auch flüchtiges Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er sie ansah. Es brachte Addys Herz dazu, schneller zu schlagen, und steckte sie an.

Wenn es nur ein Lächeln brauchte, um für den Bruchteil einer Sekunde alles zu vergessen, was Schlimmes geschehen war, um jeden Schmerz und jede Trauer, jeden Zweifel und all ihre Ängste für einen kurzen Moment von ihrer Seele zu waschen, wie konnte es da sein, dass die Menschen keine zweite Chance verdient hatten? Wie, wenn sie zu so etwas fähig waren? Zu solch kleinen Wundern, denen sie zwar vergessen hatten, Beachtung zu schenken, die deswegen aber noch lange nicht ausgestorben waren.

Casimir senkte den Blick und trat an ihr vorbei.

»Warte«, bat Addy. Er wandte sich ihr nicht gleich zu, hielt aber inne.

Seit sie beschlossen hatten, in Terra Maters Welt zu wechseln, war so viel passiert, aber nie war Gelegenheit gewesen, über das zu sprechen, was auf dem Hügel nahe dem Stützpunkt zwischen ihnen vorgefallen war. Sie wusste nicht, was noch auf sie zukommen würde, aber im Moment waren sie unter sich und niemand bedrohte sie, also nahm sie all ihren Mut zusammen. »Ich wollte ihn nicht küssen«, erklärte sie.

»Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr.« Noch immer hatte er ihr den Rücken zugekehrt und so konnte sie nicht sehen, ob seine Mimik etwas über seine Gefühle verriet. Nur dass sich die Muskeln seiner Arme anspannten, gab ihr einen Hinweis darauf, dass es ihn noch immer verletzte, darüber zu reden.

Addy atmete tief durch. »Aber es hat dir wehgetan und das wollte ich nicht. Nicht absichtlich.«

Er schwieg.

»Casimir?«, fragte sie vorsichtig, hob die Hand, um ihn zu berühren, wagte es aber nicht. Sie senkte den Blick. »Er hat mich überrumpelt. Ich wusste nicht, wie mir geschah, und ich kann dir auch nicht sagen, warum ich mich nicht gleich gewehrt habe. Vielleicht war es einfach nur Angst. Angst vor dem, was zwischen dir und mir entstanden ist und was nicht hätte sein dürfen. Zumindest dachte ich das, weil ich glaubte, du könntest als Meliad nicht so fühlen wie ich. Du hast es mir ja nie gezeigt und unterbewusst dachte ich wahrscheinlich, Ben könnte so etwas wie ein Ausweg sein. Es war dumm, das ist mir jetzt klar. Aber weißt du …« Sie sah auf und ihr Herz machte einen Satz, als sie direkt in seine Augen blickte. Er hatte sich ihr zugewandt, ohne dass sie es bemerkt hatte.

»Was soll ich wissen?«, fragte er leise.

Addy fühlte sich wie betäubt. Seine Nähe lähmte ihre Gedanken, ihren ganzen Körper und alles, was sie noch wahrnahm, war ihr hektisch pochendes Herz. »Da ist noch mehr«, flüsterte sie.

Fragend sah er sie an. »Mehr?«

Sie nickte, weil ihr die Worte im Hals stecken geblieben waren. Hätte sie sich dieses Gespräch doch nur vorher zurechtgelegt. Nun wusste sie nicht, was sie sagen wollte, und musste nach der Antwort suchen. »Ich weiß, dass du kein Mensch sein willst und dass es wahrscheinlich dein Albtraum ist, einer geworden zu sein. Aber der Schmerz, von dem du mir erzählt hast, der kommt nicht vom Menschsein allein. Der kommt …« Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Hand noch immer erhoben hielt. Sie schaute sie einen Moment an, als wäre es nicht ihre, dann wusste sie, was sie ihm sagen wollte, und legte sie auf seine Brust. Sie spürte seine tiefen Atemzüge und die Hitze seiner Haut. »… von dort. Von Gefühlen, guten Gefühlen, die verletzt wurden – die ich verletzt habe. Und das tut mir so unendlich leid.«

Casimirs Hand legte sich auf ihre. Er kam ihr noch näher, sodass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen.

»Du redest von den vielen kleinen Dingen, nicht wahr?«, fragte er. Nun war sie es, die nicht folgen konnte. »Damals, in Orsett«, erklärte er. »Erinnerst du dich? Du sagtest, dass es ganz viele kleine Dinge gibt, die euer Leben lebenswert machen.«

Seine Finger umschlossen ihre und mit der freien Hand strich er über ihre Wange.

»Nein«, sagte sie. »Ich glaube, es ist das Größte von allen Dingen.«

Er beugte sich vor, schloss die Augen und sie tat es ihm gleich. Seine Lippen berührten ihre und mit einem Mal fühlte es sich an, als würde die Zeit in Tausend Farben explodieren. Es gab keine Welt mehr um sie herum, keine Körper, die sie voneinander trennten, keine Grenzen zwischen Addys Gefühlen und seinen. Er küsste sie und für den Bruchteil dieses Augenblicks war alles vergessen. Jeder Schmerz und jeder Zweifel.

Als er sich schließlich wieder von ihr löste, hing seine Wärme noch einen Moment lang auf ihren Lippen. Sie hielt die Augen noch geschlossen, um sich an dem festzuhalten, was zwischen ihnen war, und erst, als seine Wärme verblasste, schlug sie sie wieder auf.

»Ich verstehe …«, flüsterte er.

Ein sanftes, warmes Lächeln umspielte seine Mundwinkel und das sagte mehr, als jedes weitere Wort es gekonnt hätte.

Tränen füllten Addys Augen und sie wusste gar nicht, wieso. Sie hatten sich gefunden. Nach allem, was passiert war und was zwischen ihnen hätte stehen sollen – und auch, wenn sie ins Leben nach dem Tod hatten gehen müssen, um an diesen Punkt zu gelangen. Er fühlte, was sie fühlte. Sie liebten einander und das war stärker als alles andere. Stärker als der Tod selbst.

»Kommt ihr?«, rief Liam ihnen zu.