KAPITEL 25

ADDY

ZU EINER UNBESTIMMTEN ZEIT,
IN DER SPHÄRE DER TRÄUME

Addy saß mit angezogenen Beinen an die Felswand gelehnt und war ganz in sich versunken. Die Tränen auf ihren Wangen waren getrocknet, ihr Blick hing in der Leere und ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

Sie hatte es gewusst. Im Grunde war es ihr in dem Moment klar gewesen, als Ben geschossen hatte. In dieser Sekunde war Casimir verloren gewesen. Und ihn im Reich der Toten wiederzufinden und ihren Weg durch diese Welt an seiner Seite zu gehen, hatte nichts daran geändert.

Nur wahrhaben wollte sie es nicht. Sie hatte geglaubt, es würde irgendeinen Weg geben, ihn zurückzuholen. Irgendein Wunder würde geschehen. Aber Wunder gab es nicht. Nicht wirklich. Oder zumindest nicht für sie und ihn.

»Keine Ahnung, wie wir da wieder hochkommen sollen«, meinte Liam, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und die steile Felswand hinaufblickte.

»Selbst wenn, was bringt es?«, fragte Ayumi. »Wir können doch nicht für den Rest der Ewigkeit vor Terra Mater wegrennen. Das war doch nicht der Grund, aus dem wir hierhergekommen sind, oder? Wir wollten die Menschheit retten und nicht ihren Untergang hinauszögern. Außerdem könnte in unserer Welt bloß eine Sekunde vergangen sein. Wir könnten tausend Jahre lang vor Terra fliehen, bis sie uns zurückschickt, und das alles wäre umsonst gewesen.«

»Sie hat recht«, stimmte Younes zu. »Zeit zu schinden bringt nichts, wenn sie nicht für uns spielt.«

»Nein, zum Weglaufen sind wir wirklich nicht hier«, meinte Liam. »Wir sind gekommen, um diese Welt aus den Angeln zu heben.«

Addy sah auf. »Und genau das haben wir eben getan«, sagte sie nachdenklich. Die anderen schauten sie erwartungsvoll an. »Ihr habt es doch auch gefühlt, oder?«

Liam verengte den Blick. »Das könnte klappen.«

»Was könnte klappen?«, hakte Younes nach.

»Na, überleg mal. Wenn wir gemeinsam wie ein Wirbelsturm in dieser Welt fungieren, wenn wir sie entzweireißen könnten und wenn sie aus Zeit und Träumen besteht, was spricht dann dagegen, genau das zu beeinflussen?«

»Haben wir das eben getan?«, fragte Ayumi. »Haben wir die Zeit angehalten?«

»Ich denke schon«, meinte Liam.

Younes überlegte. »Ich habe die anderen Sphären gesehen.«

»Klar, weil unsere Seelen ja quasi in allen gleichzeitig existieren«, erklärte Liam. »Deswegen reißen wir ja Löcher durch sie hindurch.«

»Wir drehen die Zeit zurück«, sagte Addy mit tonloser Stimme.

Alle Blicke waren mit einem Mal auf sie gerichtet.

»Das können wir?« Ayumi wirkte unsicher.

»Wir können es zumindest versuchen.« Liam streckte Ayumi die Hand entgegen.

»Euch ist klar, dass wir keine Ahnung haben, was wir da tun und ob wir überhaupt dazu in der Lage sind?«, fragte Younes.

Ayumi lächelte zaghaft. »Na ja, das hier ist nicht nur die Sphäre der Zeit, nicht wahr? Es ist auch die der Träume.« Sie hob die Hand und legte sie auf Liams. »In unseren Träumen ist schließlich alles möglich.«

Addy zögerte. Sie glaubte nicht, dass es so einfach war. Nichts von dem, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, war je einfach gewesen und ihre Träume, Hoffnungen und Wünsche, hatten nicht verhindern können, dass ihr alles genommen worden war.

Aber die anderen schienen zuversichtlich zu sein. Sie waren bereit zu kämpfen – es zumindest zu versuchen.

Und sie? Sie wollte nicht aufgeben. Sie schuldete es Casimir und all denen, die so viel geopfert hatten, bis hin zu ihrem eigenen Leben.

Terra Mater wollte die Menschheit für ihre Verbrechen vernichten. Dabei vergaß sie völlig, dass es ihr unbändiger Wille zu überleben war, der sie so weit gebracht hatte. Der Drang, sich zu messen, sich zu verbessern, immer wieder zu übertreffen und dabei zu wachsen und stärker zu werden. Das alles brachte viel Schlechtes hervor. Kriege, Eitelkeit, rücksichtsloses Handeln, aber ebenso auch Gutes. Denn ohne den Drang zu forschen, zu entdecken und immer besser zu werden, hätte die Menschheit sich schon längst selbst vernichtet. Ohne das alles wären Krankheiten nicht besiegt, Arten nicht gerettet und Leben nicht verlängert worden. Für jedes Verbrechen gegen die Erde gab es auch Menschen, die Wege suchten und fanden, Fehler zu korrigieren. All das schlummerte auch in Addy und den anderen. All das machte den Teil in ihnen aus, der menschlich war – ein Teil, der auf Abwege geraten konnte, ihnen aber auch die Fähigkeit verlieh, über sich hinauszuwachsen. Und genau das mussten sie jetzt. Sie mussten mehr werden als die Summe ihrer Teile.

Entschlossen ergriff sie Liams Hand.

»Wie weit drehen wir die Zeit zurück?«, fragte sie.

»10 Tage?«, schlug Younes vor und nahm Ayumis Hand. »Zurück zu dem Tag, an dem alles begann.«

»Es begann schon viel früher«, widersprach Addy. Wie sehr sie sich doch wünschte, sie könnten zurück zu diesem Tag, an dem sie verschlafen hatte und der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee in der Luft hing. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Sie würde auf die Schule pfeifen, mit ihrer Mum frühstücken und ihr alles erzählen, was sie wissen wollte. Jede Sekunde mit ihr würde sie genießen. Aber so einfach war es nicht.

»Es begann mit unserer Geburt«, erklärte sie. »Das ist es, was wir ändern müssen. Wir müssen verhindern, dass Elekreen je ein Loch in die Sphäre der Meliad schlägt. Dadurch werden wir nie geboren. Und wenn wir uns selbst aus der Zeit radiert haben, wird Terra Mater keine Möglichkeit haben, ihre Kräfte auf unsere Sphäre auszuweiten. Nur so können wir es aufhalten.«

Sie blickte von einem zum anderen. Man konnte ihnen ansehen, wie ihre Gedanken rasten. Nachdem Addy gerade Casimir verloren hatte, fiel es ihr erstaunlich leicht, ihr Schicksal zu akzeptieren. Sie wusste aber, dass es in jedem anderen Moment nicht so gewesen wäre, und konnte gut nachvollziehen, wie es den anderen gerade ging.

»Wir hören einfach auf zu existieren?« Liam blickte sie verstört an. »Ist das dein Ernst?«

»Haben wir eine andere Wahl?«, fragte Addy bitter.

Keiner sagte ein Wort. Aber sie alle wussten es im Grunde doch. Durch ihre bloße Existenz hatte Terra Mater die Macht erlangt, ihre Kräfte auf die Menschenwelt auszuweiten. Wenn sie den Untergang der Menschheit verhindern wollten, dann mussten sie dafür Sorge tragen, dass Elekreen nie ein Tor in die Sphäre der Meliad öffnete.

»Also gut«, sagte Younes leise. Ein müdes Lächeln huschte ihm über die Lippen. »Statt dass wir mit unseren gespaltenen Seelen geboren werden, wird es andere Versionen von uns geben, nicht wahr? Vielleicht sogar bessere. Wer weiß …«

Was er sagte, konnte durchaus stimmen. Geboren werden würden sie wohl dennoch, aber mit anderen Seelen. Eine andere Addy, die sich in der Menschenwelt nicht so verloren fühlen würde und nie auf Tabletten angewiesen wäre, um sich in ihr zurechtzufinden.

Dieser Gedanke ließ sie zögern, als ihr Younes die Hand reichte. Dennoch nahm Addy sie. Gerade als sie der Schauer erneut ergriff, spürte sie etwas Kaltes, das ihre Füße umschloss.

Sie schaute nach unten, wo sich unbemerkt Wasserpfützen gebildet hatten. Sie quollen einfach zwischen den Steinen hervor und wuchsen schnell an.

Kaum dass Addy das erkannt hatte und noch bevor sie etwas sagen konnte, schoss eine Fontäne zwischen ihnen zum Himmel und ließ sie auseinanderstieben. Addy stürzte und verlor Younes’ und Liams Hände.

Das Wasser sprudelte bis weit über ihre Köpfe, begann, sich zu formen, und Addy glaubte, eine Figur in seinem Inneren zu erkennen.

»Terra«, begriff sie.

Das Wasser stieg schnell und plätscherte auch von oben auf sie herab. Addy und die anderen rappelten sich auf. Die Gestalt im Wasser wurde deutlicher, hob ihren Arm und deutete auf Addy.

»Vorsicht!«, schrie Younes, packte sie am Arm und zog sie weg.

Dort, wo Addy eben noch gestanden hatte, schoss ein Wasserstrahl aus der Fontäne, schlug gegen die Felswand und ließ den Stein zerspringen.

»Du kannst uns nicht aufhalten!«, schrie Liam.

Terra Mater riss ihren anderen Arm hoch. Auch der verwandelte sich in einen Wasserstrahl, dem Liam versuchte auszuweichen. Er traf ihn jedoch an der Schulter und schleuderte ihn gegen die Steilwand.

»Nein!«, schrie Addy und wollte nach vorne stürzen, aber Younes hielt sie davon ab.

Ayumi war sofort bei Liam und half ihm auf. Er hielt sich die schmerzende Schulter und konnte kaum aufrecht stehen. Terra hob erneut die Arme, richtete sie auf ihn und er und Ayumi rissen entsetzt die Augen auf.

»Du wirst uns nicht davon abhalten können, die Zeit zurückzudrehen!«, schrie Addy. Das Wasser war bereits bis zu ihren Waden angestiegen, ergoss sich in Strömen in die Schlucht und plätscherte dabei so ohrenbetäubend laut, dass sie sich kaum selbst verstehen konnte. »Wir werden nicht zulassen, dass du die Welt vernichtest.«

Terra senkte die Arme und wandte sich ihr zu.

»Aber das tue ich nicht«, widersprach sie. Ihre Stimme war das Plätschern des Wassers selbst und hallte von den Wänden wider.

Ehrfürchtig schaute sich Addy um.

»Und wie nennst du das, was du in den letzten Tagen getan hast? Du willst uns alle vernichten! Jeden Einzelnen von uns«, warf Liam ihr vor.

»Die Menschen selbst und nur sie allein steuern auf ihren Untergang zu. Ich beende es nur, bevor alles endet. Bevor sie alles mit sich in den Abgrund ziehen können. Während wir hier sprechen, entsteht eine neue Welt und ihr werdet einen Platz darin finden.«

»Aber alle anderen sind dann tot!«, schrie Ayumi unter Tränen. »Du tötest nicht nur uns. Auch die Meliad, die Ignis. Du tötest alles Leben. Was nutzt eine neue Welt, wenn so viele Opfer gebracht werden müssen, um sie entstehen zu lassen?«

»Nicht alle von ihnen mussten sterben und jedes einzelne Leben wurde Teil der neuen Welt. Nur nicht in seiner alten Form. Nichts davon ist verloren.«

»Wir werden die Zeit zurückdrehen«, sagte Younes mit fester Stimme. Er ergriff Addys Hand und streckte seine andere nach Ayumi aus. »Wir werden verhindern, dass Elekreen die Kraftwerke errichtet, sodass du keinen Weg in unsere Sphäre finden kannst. Du kannst uns nicht aufhalten.«

»Nein«, sagte Terra. »Ihr seid diejenigen, die es nicht aufhalten können. Es schreitet voran, während wir hier sprechen.«

Liam und Addy wechselten kurze Blicke. Wie konnte der Zusammensturz der Sphären denn weitergehen, während sie nicht mehr da waren? Sie waren doch der Ursprung dessen und in Terra Maters Welt übergetreten, um genau das zu stoppen. War diese Behauptung nur ein Versuch von Terra Mater, sie zu täuschen? Das konnte sich Addy nicht vorstellen. Aber wie passte das alles dann zusammen?

Noch bevor sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, riss die Erdmutter die Arme wieder hoch. Das Wasser schoss zu allen Seiten von ihr weg und schleuderte die vier gegen die Felsen.

Als Addy schmerzhaft aufschlug, schwappten ihr die Wassermassen bis über den Kopf. Sie bäumte sich auf, schnappte nach Luft und sah sich gehetzt nach den anderen um.

»Wir müssen irgendwie fliehen«, sagte Younes, der neben ihr gelandet war, sich wieder auf die Füße kämpfte und nach einem Fluchtweg suchte.

Addy nickte. Terra würde verhindern, dass sie einander berührten. Die einzige Chance, die sie hatten, war, davonzulaufen und zu hoffen, nicht getrennt zu werden.

»Ihr werdet nicht fliehen!«, widersprach Terra laut.

Sie hob ihre Arme zum Himmel, die Fluten folgten ihrer Bewegung, schäumten weit in die Höhe und Addy riss vor Entsetzen die Augen auf, als sie sah, wie sich Eiskristalle über die aufgewühlte Wasseroberfläche zogen.

Knisternd und klirrend gefroren die Fluten. Von Terra ausgehend raste das Eis auf Addy und die anderen zu, ließ das Wasser erstarren, und ehe sie auch nur die Chance hatten zu realisieren, was gerade geschah, waren sie schon gefangen.

Addy riss vergebens an ihren Beinen. Bis zu den Knien steckte sie in den erfrorenen Wellen fest. Die Kälte kroch ihr durch den Körper, schmerzte höllisch und ließ sie zittern.

Während sie versuchten freizukommen, weitete sich das Eis auch über Terra Mater aus. Die Frau aus Wasser gefror binnen Sekunden zu einer glitzernden Kristallgestalt.

Addys Atem ging stoßartig und zeichnete sich neblig vor ihr ab. Irgendwie musste es ihnen gelingen zu fliehen. Terra Mater durfte sie nicht zurück in ihre Körper schicken. Eine zweite Chance, die Menschheit vor der Auslöschung zu bewahren, würde sich ihnen nicht bieten. Gehetzt sah sie sich um, wusste aber weder ein noch aus.

Die Erdmutter wandte sich erneut Liam zu. Das Eis klirrte beinahe melodisch bei ihren Bewegungen, formte sich immer wieder um und bildete neue glitzernde Strukturen.

Panisch versuchte Liam, sich aus seinem Eisgefängnis zu befreien. Nicht nur seine Beine waren bis zu den Knien gefangen. Auch sein rechter Arm hing in einer erstarrten Welle fest und seine Hand war bereits blau angelaufen.

»Nein!«, schrie Addy mit überschlagender Stimme, als Terra den Arm hob. Neben ihr brüllte Younes aufgebracht, zerrte an seinen Beinen, das Eis knackste unter seiner Bewegung, doch er kam nicht frei.

»Aufhören!«, schrie Ayumi.

Liam hatte die Augen weit aufgerissen. Terra stand direkt vor ihm, doch statt ihn zu töten, strich sie mit den Fingern über seine Wange. Zarte Kristalle übermalten seine blass gewordene Haut und verschwanden gleich darauf wieder.

Was hatte sie vor? Warum schickte sie ihn nicht zurück in seinen Körper? Vielleicht weil sie keinen Grund zur Eile hatte? Sie waren ihre Gefangenen und Terra Mater die Herrin über die Zeit.

Wortlos wandte sich die Erdmutter Ayumi und dann Younes zu. Es schien, als würde sie jeden von ihnen studieren wollen. Sie musterte ihre Mimik und jede kleinste ihrer Bewegungen. Schließlich ging sie auf Addy zu.

Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Das Eis wich seiner Königin aus und umschlang zugleich ihren kristallenen Körper, als wären es die wallenden Stoffe ihres Gewandes. Addy merkte, wie sich die gefrorenen Fluten um ihre bereits taub gewordenen Beine lockerten, versuchte, erneut freizukommen, scheiterte aber.

Terra kam ihr so nah, dass Addy ihr eigenes Spiegelbild in den glitzernden Kristallaugen erkennen konnte.

»Alles beginnt von vorne«, sagte Terra Mater.

Fragend sah Addy sie an, und während sie darauf hoffte, die Erdmutter würde sich erklären, begann das Eis um sie herum zu schmelzen.

Überall plätscherte es leise, doch Addy konnte ihren Blick nicht von Terra Mater lösen. Ein einzelner Tropfen rann wie eine Träne von ihrem linken Auge über ihre Wange und fiel auf die gefrorenen Wellen.

Er löste eine Kaskade aus, das Eis verwandelte sich binnen Sekunden zurück in Wasser, ließ Addy frei und ihre Knie brachen ihr weg.

Terra Mater war wieder zu einem wabernden Wasserwesen geworden. Sie blickte auf Addy hinab, wollte etwas sagen, doch da stob ihre Gestalt plötzlich auseinander, platschte formlos in die Fluten und Liam kam hinter ihr zum Vorschein.

Er hatte sich mit einem Eiszapfen bewaffnet und Terra damit in zwei Teile zerschlagen.

»Komm!«, forderte er Addy auf und streckte ihr die Hand entgegen. Mit einem Ruck zog er sie auf die Füße.

Addy war von Kopf bis Fuß durchnässt und zitterte am ganzen Leib. Und den anderen ging es nicht besser. Ayumi und Younes kamen zu ihnen gelaufen und Younes streckte Addy die Hand entgegen. »Schnell jetzt.«