KAPITEL 29
YOUNES
TAG 11: DI, 09: 00 UHR,
ZWISCHEN TORONTO UND OTTAWA, KANADA
Younes brauchte weitaus länger für den Weg zurück als für den Hinweg. Obwohl seine Verletzungen versorgt worden waren und er eine Nacht geschlafen hatte, fühlte er sich entkräftet. Er spürte die Anzeichen von Müdigkeit, Hunger und Durst viel stärker als noch vor einem Tag mit Ma’an in seinem Körper. Aber der Naturgeist war weg. Endgültig. Younes hatte lange gebraucht, das zu akzeptieren.
Erschöpft zog er einen Fuß vor den anderen und schleppte sich einen Hügel hinauf, dessen Gipfel einfach nicht näher kommen wollte.
Nachdem er Zeit gehabt hatte, seine Gedanken zu ordnen, waren die Erinnerungen von Ma’ans Erlebnissen klarer geworden. Er wusste nun, dass der Meliad sich zeitgleich verteidigt und Younes’ Körper geheilt hatte, um ihm die Rückkehr zu ermöglichen. Er hätte auch gehen, sich den Körper eines anderen Menschen nehmen und ihn sterben lassen können, falls Terra Mater das denn zugelassen hätte. Doch er war bis zum Schluss geblieben. Bis er sich so sehr verausgabt hatte, dass er einfach aufhörte zu existieren. Ma’an war gestorben. Für ihn.
Dieses Wissen hinterließ mehr als nur ein bitteres Gefühl in Younes. Es hinterließ eine klaffende Wunde und er fragte sich, ob die Kräfte, die er noch immer hatte, nur ein Nachklang von denen des Meliad waren – eine letzte Erinnerung, die allmählich verblassen würde.
Er wandte sich um und sein Blick wanderte über die kleine Gruppe, die sich ebenso müde wie er den Hügel hinaufschleppte.
Fast alle der Überlebenden waren ihm gefolgt, obwohl er sich bei den starken Veränderungen der Natur nicht sicher sein konnte, den Weg zurück zu den Obstplantagen zu finden. Er wusste ja nicht einmal, ob es das Lager zwischen den Bäumen noch gab. Aber er war froh, das nicht allein herausfinden zu müssen.
Er war allgemein froh, nicht alleine zu sein. Denn obwohl es durch die Menschen um ihn herum laut war, ihm immer wieder Fragen gestellt wurden und er das Gefühl hatte, kaum eine Sekunde für sich zu haben, blieb es in ihm drinnen still. Manchmal so sehr, dass er dagegen ankämpfen musste zu schreien, um diese Stille zu vertreiben. Sein Geist war leer, der Druck hinter den Schläfen war verschwunden und das fühlte sich beinahe so an, als fehlte etwas, das ihn zusammengehalten hatte. Ohne die Menschen hätte er die erste Zeit allein in seinem Körper kaum ertragen.
Es war erschreckend, wie einsam er sich ohne den fremden Geist in seinem Kopf fühlte. Und das, obwohl Ma’an ihm Schlimmes angetan hatte. Er schien regelrecht abhängig von ihm geworden zu sein. Wie von einer Droge, von der man wusste, wie zerstörerisch sie war, und trotzdem nicht davon loskam.
»Alles gut?«, fragte Oliver, der ihn eingeholt hatte.
Der Mann klopfte ihm aufbauend auf die Schulter.
Younes nickte, wandte sich wieder nach vorn und setzte seinen Weg fort. Wenn sie in die richtige Richtung liefen, konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie die Plantage erreichten.
»Nimm«, forderte ihn eine Frau auf und reichte ihm eine verbeulte PET-Flasche mit dreckigem Wasser.
Younes nahm sie dankend an, setzte sie an den Mund und spürte, wie ihm das Plastik auf den Lippen zerkrümelte. Angewidert senkte er die Flasche wieder.
»Ich weiß«, seufzte die Frau. »Keine Ahnung, ob es am Wasser liegt, aber die Flaschen lösen sich alle auf.«
»Hoffentlich passiert das nicht auch mit unseren Mägen«, brummte Lucas nicht weit entfernt von ihnen. »Du hast nicht zufällig auch eine Erklärung dafür? Ist Wasser jetzt giftig?«
»Ich weiß es ehrlich nicht«, erwiderte Younes.
Er trank einen Schluck, weil ihnen ja nichts anderes blieb, als das Risiko einzugehen. Das Wasser schmeckte normal, wenn auch etwas sandig, und die Frau nahm die Flasche zurück, um sie in ihrer Tasche zu verstauen.
»Terra Mater hätte uns wohl kaum am Leben gelassen, wenn sie vorgehabt hätte, das Wasser zu vergiften«, mutmaßte Abi.
»Wahrscheinlich nicht«, stimmte jemand anderes zu.
Sie erreichten den Gipfel, Younes schaute sich um und stellte fest, dass er schon einmal genau dort gestanden hatte. Sofort schlug sein Herz schneller. An diesem Ort hatten sich Chloe und er zerstritten. Hier waren sie auseinandergegangen und vor ihm lag die Obstplantage, als wäre er nie fort gewesen.
»Wir sind da«, sagte er und schlitterte den Hügel hinab, ohne auf die anderen zu warten. Alles in ihm drängte darauf, so schnell wie möglich dort hinzukommen. Es musste einfach allen gut gehen und Younes hielt die Ungewissheit keine Sekunde länger aus.
Er stürzte die Wiese nach unten, rannte zwischen den Bäumen hindurch und sah mehrere Menschen, die dort Obst aufsammelten und ihm verwundert nachschauten.
»Ella!«, rief er und drehte sich im Kreis. »Chloe!«
Er erreichte den Zaun und stürzte durch das offene Tor ins Innere.
»Hey!«, rief ihm jemand nach. »Du bist doch …«
Younes achtete nicht auf den Mann. Er suchte weiter nach Chloe und seiner kleinen Schwester. Sein Herz überschlug sich beinahe und die Panik pochte ihm hinter den Schläfen. Immer wieder rief er ihre Namen. Was, wenn ihnen etwas passiert war? Wenn einer der Risse zwischen den Welten sie verschluckt hatte?
Die Angst davor fraß ihn regelrecht auf. Sein Atem hetzte, er stolperte tiefer in das Lager hinein und stellte dabei fest, dass man damit begonnen hatte die Zelte durch einfache Holzbauten zu ersetzen.
»Youn!«, hörte er Ella rufen. Er wirbelte herum und entdeckte sie ein kleines Stück weit entfernt zwischen zwei Hütten. Ihr Anblick war wie ein Traum, der zu unwirklich wirkte, um wahr sein zu können.
Die Knie brachen ihm weg. Es war, als hätte ihm jemand seine letzte Kraft aus den Beinen gesogen. Er stürzte zu Boden, obwohl er doch zu seiner Schwester rennen wollte. Tränen füllten seine Augen.
Ella rannte auf ihn zu, fiel ihm in die Arme und er drückte sie, so fest er konnte, an sich.
Alles, was er erlebt hatte, schien mit einem Mal vergessen. All der Hass der Menschen, das vergossene Blut, die vielen Opfer und die Stille in ihm. Nichts davon konnte ihm mehr etwas anhaben. Nicht in diesem Augenblick, an den er sich, so fest er konnte, klammerte.
»Ich hab dich sooo vermisst!«, sagte Ella.
Younes schlang seine Arme noch fester um sie. »Ich dich auch«, flüsterte er voller Erleichterung. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen, weil er befürchtete, wirklich nur zu träumen und jeden Moment aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Ein Schatten legte sich über ihn, und als er aufsah, stand ihm Chloe gegenüber. Betreten rieb sie sich den Arm und wagte es scheinbar nicht näher zu kommen.
Ella löste sich vom ihrem großen Bruder. »Schau mal, Chloe, er ist zurück!«, stieß sie freudig aus.
»Ich sehe es«, sagte Chloe leise und trat einen Schritt näher.
Younes stand auf. Seine Knie fühlten sich noch immer weich an und er spürte, wie entkräftet er war. Ein paar der Umstehenden beobachteten sie, doch die meisten waren Richtung Tor gelaufen. Wohl um einen Blick auf die anderen Neuankömmlinge zu werfen.
In Chloes Augen glitzerten Tränen und sie mied es, ihn direkt anzusehen. »Ist er …?«, fragte sie zögerlich.
»Nicht mehr da«, fiel ihr Younes ins Wort und ging auf sie zu. »Es tut mir so leid.«
Er bereute einiges von dem, was er damals zu ihr gesagt hatte, und wusste nicht, wieso sie ihm verzeihen sollte. Doch dann fiel sie ihm in die Arme und alles, was zwischen ihnen vorgefallen war, schien wie weggewischt.
Erleichtert erwiderte er ihre Umarmung, sie sah zu ihm auf, lächelte und er konnte nicht anders, als sich vorzubeugen und sie zu küssen.
Der Schmerz, die Mündigkeit und der Hunger waren vergessen und sein Herz schlug schneller, als er ihre Nähe spürte, sie den Kuss erwiderte und sich ihre Finger fest in den Stoff seines Shirts gruben.
Es war, als hätte er den Bleimantel, den er nach seiner Rückkehr aus Terra Maters Welt gespürt hatte, die ganze Zeit schon unbemerkt mit sich geschleppt. Und nun streifte er ihn ab. Einfach so.
Als sich Chloe wieder von ihm löste, legte sie ihren Kopf an seine Brust. »Mir tut es auch leid«, flüsterte sie.
Ella kam näher und Younes zog sie an sich heran. Obwohl er bereute, sie alleingelassen zu haben, verstand er mittlerweile, warum er hatte gehen müssen. Nicht etwa, um Überlebende oder die wahre Natur des Menschen zu finden, sondern sich selbst. Und irgendwie schien ihm das gelungen zu sein, denn am Ende war er genau dort angekommen, wo er hingehörte. Bei den Menschen, die er liebte. Und er hoffte für Addy, Ayumi und Liam, dass es ihnen genauso ergangen war.