KAPITEL 30
LIAM
TAG 11: MI, 10: 45 UHR,
SOUTHERN HIGHLANDS VULKAN, AUSTRALIEN
Liam konnte sich nicht erklären, was geschehen war. Das Rauschen der vielen Gedanken und Gefühle anderer war immer lauter geworden. Er hatte versucht, sich auf Addy und die anderen zu konzentrieren, weiter ihre Hände zu halten und seine eigenen Erinnerungen wachzurufen. Doch je mehr er an seine Familie und Freunde dachte, desto größer war dieser Sog geworden, der an ihm gezerrt hatte.
Es musste ihn aus Terra Maters Welt gerissen und zurück in seine befördert haben, denn er riss mit einem Mal den Oberkörper hoch und hockte wieder auf der Wiese des seichten Hangs. Neben ihm lag der Blechbecher, aus dem er den bitter schmeckenden Kräutertee getrunken hatte, das Lagerfeuer war niedergebrannt, und anstatt dass ihm Jack gegenübersaß, sah er bloß die Küste, gegen die sich die rauschenden Wellen des Meeres schlugen.
Viel Zeit konnte nicht vergangen sein. Dennoch schienen die Pflanzen auf der neu entstandenen Insel noch viel ungezügelter und wilder zu wuchern als zuvor. Hatten sich die Sphären endgültig zu einer einzigen verbunden? Wenn dem so war und sie versagt hatten, dann gab es keine Menschen mehr. Dann … Gehetzt, mit wild pochendem Herzen, sah er sich nach den anderen um, als sich Grace auch schon auf ihn stürzte und ihn wieder zu Boden riss.
Er wusste nicht, ob sie ihn umarmen oder angreifen wollte. Rücklings landete er im Gras und schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Stein. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie er auf. Grace stemmte sich hoch, sah ihn fragend an und verdunkelte mit ihrem Körper die Sonne.
»Alles okay bei dir?«, fragte sie. Offenbar hatte ihr Angriff tatsächlich eine Umarmung sein sollen.
Ob alles okay war, beschrieb nicht ansatzweise, wie es ihm ging. Bis auf die Kopfschmerzen, die er nicht nur ihr verdankte, sondern auch Jacks Kräutermischung, war er außer sich vor Freude. Ihr Plan schien aufgegangen zu sein. Die Menschen waren nicht von der Erdoberfläche getilgt worden und hatten damit eine Zukunft und eine echte Chance, es diesmal besser zu machen.
Liam hätte Luftsprünge machen können! Allerdings lag Grace halb auf ihm und drückte ihn nieder. Wahrscheinlich war das auch gut so, denn andernfalls hätte er sich dank seinem Übermut nur wieder vor ihr zum Narren gemacht.
Er versuchte, cool zu bleiben, ächzte jedoch, weil ihm der Schädel dröhnte und sich ihr Ellbogen in seine Rippen gebohrt hatte.
»Ja, alles super«, sagte er wie beiläufig.
Grace ergriff seine Hand und zog ihn hoch. Liam rieb sich die Schläfen.
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, meinte Jones und klopfte ihm auf den Rücken.
Eigentlich wollte Liam gelassen bleiben, aber er konnte nicht anders, als von einem Ohr zum anderen zu grinsen. Es war ihm egal, dass sie mitten im Nirgendwo waren und ihm jeder Knochen im Leib wehtat. Sie waren am Leben. Das war alles, was zählte.
Jack nahm den Blechbecher und drehte ihn um. Nur ein paar Tropfen fanden ihren Weg auf die Wiese. Mit angehobener Braue sah er Liam an, der daraufhin unschuldig die Schultern hob. »Was denn? Beim letzten Mal hat die volle Dröhnung auch ihren Zweck erfüllt.«
»Ein paar Schluck hätten dennoch gereicht«, erwiderte Jack.
»Dein Herz hat ausgesetzt«, meinte Grace. »Du bist umgekippt und wir dachten, wir hätten dich verloren.«
Liam fasste sich an die Brust. »Das erklärt diesen seltsamen Schmerz.« Die Enge, die er unter den Rippen spürte, hatte er also doch nicht Graces Ellbogen zu verdanken.
»Grace hat dich wiederbelebt«, erklärte Jones.
Liam rieb sich die Rippen. Es kam ihm vor, als hätte sie ihm mindestens ein halbes Dutzend davon gebrochen. Dennoch musste er schmunzeln. »Mit Mund-zu-Mund-Beatmung und allem Drum und Dran?«, fragte er, an Grace gerichtet.
»Ähm …« Jones rieb sich verlegen am Hinterkopf und Liam spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen schoss. Jones hatte doch nicht etwa …?
Liam sprang so hastig auf, dass er Grace dabei zur Seite stieß. Er stolperte von den dreien weg. »Lassen wir das Thema!«, sagte er mit erhobenen Händen und sich überschlagender Stimme. »Wie … wie lange war ich weg?«
»Es waren vielleicht 15 Minuten«, meinte Jack und stand auf. Auch Jones und Grace erhoben sich.
»Was hast du gesehen?«, fragte Grace.
Liam ließ seinen Blick über die Gegend schweifen. Man sollte meinen, in 15 Minuten konnte nicht viel geschehen sein, aber dem war nicht so. Wenn in 10 Tagen eine Welt enden konnte, wie viel Zeit brauchte es dann wohl für den Beginn einer neuen?
»Nichts, was vergleichbar wäre mit dem hier«, sagte er und deutete auf die Insel.
»Der Hammer, oder?« Jones trat einen Schritt näher an die Küste heran.
»Dort wuchert es immer wilder«, meinte Grace.
»Aber das war alles?«, wollte Liam wissen. Ein ungutes Gefühl kam in ihm auf. Was, wenn die Membran zwischen den Welten doch noch existierte? Wenn die Umwandlung noch gar nicht beendet war und Grace, Jones und Jack jeden Moment einfach verschwinden würden?
Liam fühlte sich jedenfalls nicht anders, solange er nicht direkt in Richtung Sydney blickte. Es war nicht so, wie Addy es beschrieben hatte. Da war kein Gefühl von Daheim. Die Rastlosigkeit, die er seit jeher in sich trug, war noch immer da.
»Was meinst du damit?« Jack sah ihn verwundert an. »Was soll in einer Viertelstunde schon passiert sein?«
»Woah!«, stieß Jones plötzlich aus.
Liam wirbelte herum, folgte seinem Blick und sah ein gleißendes Licht unmittelbar hinter der Insel. »Es passiert«, hauchte er mit tonloser Stimme. Also hatte er recht. Die Membran war gerade erst dabei zusammenzustürzen.
»Was passiert da?«, fragte Grace besorgt. »Was geht hier vor sich?«
Liam sah sich um. Überall um sie herum riss die Membran auf, die Ebenen verschmolzen und er konnte nichts dagegen tun.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Grace erneut.
Liam war drauf und dran zu rufen, dass sie fliehen mussten, aber wohin? Die Risse entstanden überall um sie herum. Die Natur explodierte geradezu, das Gras schoss in die Höhe, die Erde regte sich unter den wuchernden Wurzeln und das grelle Licht – als würde die Welt aufreißen und eine weiße, unbefleckte Leinwand käme darunter zum Vorschein – breitete sich rasend schnell aus. Es war so hell, dass Liam kaum noch etwas erkennen konnte.
»Liam!«, schrie Grace.
Er streckte die Hand nach ihr aus, versuchte, sie zu greifen, konnte sie aber nicht mehr richtig sehen. Es war, als würde sie sich auflösen. Sie verschwand einfach und die Verzweiflung über seine Machtlosigkeit rollte über Liam hinweg wie die Druckwelle aus Licht, die ihn von Grace wegriss und zu Boden beförderte.
Er schlug hart auf, stemmte sich aber sofort wieder hoch. Seine Augen brannten. Er blinzelte und sah seine Hände, die Wiese und den sandigen Boden unter sich.
Es war geschehen. Es war wirklich geschehen. Die Membran war aufgerissen, die Sphäre zu einer verschmolzen.
»Was war das?«, fragte Jones.
Liams Herz machte einen Satz. Er riss den Kopf hoch und starrte seinen Freund an, als wäre der ein Alien. Auch Grace und Jack waren noch da. Stöhnend und murrend kämpften sie sich auf die Beine. Jack klopfte sich den Dreck von der Hose und Grace sah sich erstaunt um.
»Die …«, begann Liam, noch nicht ganz bei Sinnen. Auch er stand auf. »Die Membran ist gerissen. Die Sphären sind zu einer verschmolzen.« Und Terra Mater hatte die Menschheit nicht vernichtet. Sie gab ihnen also wirklich noch eine zweite Chance.
»Das musst du uns alles in Ruhe erklären«, meinte Jack.
Grace berührte vorsichtig die Halme eines mutierten Grasbüschels, der ihr bis über den Kopf gewachsen war. Zarte Linien aus grünlich schimmernder Energie zogen sich von der Stelle an, die sie angefasst hatte, durch den inneren Kern der Halme bis in den Boden und fächerten dort einem Spinnennetz gleich aus. Unsicher wich Grace den feinen Linien aus, die sich rasch ausbreiteten, aber bald schon abklangen.
Liam lief auf das Meer zu, und während er das tat, wuchsen wie im Zeitraffer Blumenstängel aus dem Gras zu seinen Füßen. Sie falteten ihre spitzen Blätter auf, unter denen große, runde Knospen hervorkamen und sich binnen Sekunden in lilienähnliche Blüten verwandelten. Bald schon war die gesamte Wiese in ein Farbenmeer getaucht.
Und auf der Insel hatte es begonnen. Dort schien die Membran schon vorher gerissen zu sein und die Lebensenergien der anderen Sphären waren für die gewucherte Natur und Liams Gefühl der Verbundenheit verantwortlich. Eine Brise wehte über die Insel und scheuchte einen Schwarm von mehreren Hundert, wenn nicht Tausenden Ignis von den Baumkronen auf. Sie flogen in weitem Bogen über das aufgewühlte Meer.
Fische mit lila Schuppen, eleganten Flossen, wie man sie sich bei Meerjungfrauen vorstellte, und der Größe von Delfinen brachen durch die Wasseroberfläche. Sie ließen den Schwarm Ignis auseinanderstieben und warfen sich in hohem Bogen wieder ins glitzernde Nass.
Der Schwarm brach sich einer Welle gleich an der Küste, schoss unmittelbar vor Liam hinauf zum Himmel und er und die anderen wirbelten herum, als sich die kleinen Leuchtwesen über die hüglige Landschaft hinter ihnen ausbreiteten. Überall dort, wo ihr Licht den Boden berührte, wandten sich ihm die Kelche der lilienähnlichen Blumen zu und Blütenstaub wurde aufgewirbelt.
Sofort war die Luft von süßlichem Duft erfüllt, die Wärme der Ignis legte sich auf Liams Haut wie Sonnenschein und bei jedem Atemzug war ihm, als könne er eine neue Art von Freiheit spüren – ein Gefühl, als wäre er an dem Ort angekommen, den er tief in seinem Inneren schon immer vermisst hatte. Genau dieses Gefühl des inneren Friedens, das ihm der Anblick der Insel vermittelt hatte. Doch nun war es nicht nur zum Greifen nah, er spürte es tief in seinem Herzen und sein altes Leben schien ihm wie Fesseln von der Seele zu fallen. All die Verpflichtungen, die Zukunftspläne, der Gedanke, immer erreichbar, immer up to date sein zu müssen – all das spielte mit einem Mal keine Rolle mehr. Als wäre es ganz allein seine Entscheidung, wie schnell die Zeit verrann. Als hätte er die alleinige Kontrolle darüber, ob sie ihm davonlief oder nicht. Es gab keinen Druck mehr, kein Gefühl des Verlustes. Nur noch das Hier und Jetzt zählte.
So fühlte es sich also an, das neue Leben. Die neue Welt. Seine Welt. Es war beinahe zu unglaublich, um es fassen zu können und doch gab es nie zuvor etwas in Liams Leben, das sich echter angefühlt hatte.
»Verdammte Scheiße«, murmelte Jones neben ihm.
»Ich weiß nicht, ob das der passende Ausdruck für dieses Phänomen ist«, meinte Jack.
»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte Grace.
Liam wandte sich wieder dem Meer zu. »Es bedeutet, dass nichts mehr so sein wird, wie es mal war. Aber wir leben noch und darauf kommt es an.«
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Jones.
»Ich schätze, die Menschen müssen versuchen, ihren Platz in dieser neuen Welt zu finden«, meinte Jack.
»Was wir als Erstes tun sollten, ist, nach Hause zu gehen«, schlug Liam vor, den Blick auf das überwucherte Sydney gerichtet.
Grace trat neben ihn. »Du willst also da rüber?«
Liam lächelte. »Nein.«
»Aber du sagtest doch, Sydney wäre dein wahres Zuhause.«
»Da habe ich mich geirrt.« Sein Blick verlor sich im Glitzern des Meeres. »Ich schätze, es ist wie bei diesen Fischen.«
»Du bist also im Meer zu Hause«, sagte Jones trocken.
»Idiot«, knurrte Liam und stieß ihn von sich. »Nein, was ich meine, ist, dass sie sich danach sehnen, aus dem Meer zu springen. Sie werfen sich voller Übermut in die Lüfte, genießen die Freiheit, die Fremde und den kurzen Moment des Glücks. Aber der Himmel wird nie ihre Heimat sein. Genauso wenig wie die Sonne oder auch das Licht der Ignis, die Heimat der Blumen ist, die sich nach ihnen recken. Heimat ist immer dort, wo man verwurzelt ist, wo man sich sicher und aufgefangen fühlt. Es ist das Meer, die Erde, der Ort, an den es uns nach jedem Höhenflug zurückzieht.«
Jones lachte. »Hat dich dein Ausflug in die Traumwelt zu einem Poeten gemacht?«
»Vielleicht ein bisschen«, meinte Liam schulterzuckend und dachte an Younes, zu dem es eher gepasst hätte, solche Methapern von sich zu geben. Vielleicht hatte dieser Kerl auf ihn abgefärbt, nachdem ihre Seelen im Kampf gegen Terra Mater verschmolzen waren. »Und jetzt lasst uns gehen. Ich habe genug von Vulkanen und Abenteuern. Ich will endlich nach Hause.«
»Nichts lieber als das«, stimmte Jack zu.
Grace sah Liam mit einem Blick an, den er nicht wirklich ergründen konnte. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen und in ihm wuchs das Bedürfnis, nach ihrer Hand zu greifen. Er bezweifelte allerdings, dass sie der Typ fürs Händchenhalten war und noch eine Ohrfeige wollte er sich nicht einfangen.
Der Moment verstrich und Grace griff nach ihrem Rucksack. Unter ihrer Hand bröselte der Stoff des Tragegriffs auseinander, sie legte verwundert die Stirn in Falten und richtete sich wieder auf.
»Was ist?«, fragte Liam.
»Keine Ahnung«, meinte sie und rieb die Stofffetzen zwischen ihren Fingern. Als wären sie zu Asche verbrannt, zerfielen sie auf ihrer Hand. »Das Teil muss beim Vulkanausbruch wohl was abbekommen haben.«
»Lass ihn liegen«, sagte Jack. »Wir haben einen langen Fußmarsch vor uns. Da müssen wir uns nicht mit unnötigem Gepäck belasten.«
Grace nickte.
Liam wandte sich zum Gehen. »Lasst uns aufbrechen.«
Die lange Reise, mehrere Tage und Hunderte Meilen durch das, was einmal das australische Outback gewesen war, verlangte ihnen viel ab. Und Liam musste zugeben, dass er in dieser fremden, neuen Welt ohne Jack ziemlich aufgeschmissen gewesen wäre.
Selbst zwischen all den fremden Pflanzen fand der Aborigine noch welche, die essbar waren. Er hatte ein Gespür dafür, wo ungiftige Beeren und Früchte wuchsen, und las anhand der Tierspuren, wo sie Wasser finden konnten.
In den Nächten entzündeten sie ein Lagerfeuer und vertrieben damit die allzu neugierigen Tiere. Die wenigsten unter ihnen schienen wirklich scheu zu sein. Fast so, als hätten sie völlig vergessen, dass der Mensch noch bis vor Kurzem das gefährlichste Raubtier auf Erden gewesen war.
Am dritten Abend ihrer Reise dachte Liam trotz der Vorfreude, am nächsten Tag die Stone Creek Ranch zu erreichen, nicht daran, sofort zu schlafen. Er und die anderen blieben wach und sprachen über die Dinge, die sie gesehen hatten. Nur Jack hatte sich früh schlafen gelegt.
Obwohl man hätte glauben sollen, sie hätten auf ihrem gemeinsamen Weg dieselben Eindrücke gesammelt, gab es so vieles zu entdecken, dass jeder eigene Geschichten erzählen konnte.
Die Sterne standen bereits am wolkenlosen Himmel, es zirpte in den hohen Gräsern, war kalt geworden und sie alle nah ans Feuer gerückt.
Schweigen und Müdigkeit hatten sich über sie gelegt und Liam lauschte dem Knistern der Flammen.
»Sagt mal …«, begann Jones in bedrücktem Ton. Sein Blick lag auf dem Feuer und seine Hände hielt er im Schoß gefaltet.
»Hm?«, fragte Liam.
»Müssen wir jetzt alle Vegetarier werden?«
Grace lachte so laut auf, dass einige Tiere in der näheren Umgebung aufgeschreckt wurden, es um sie herum raschelte und Schatten durch die Dunkelheit huschten. Jack saß sofort aufrecht und schaute sich besorgt um. Als es wieder ruhiger wurde, sank er zurück auf sein Nachtlager.
»Glaubst du, dass Katzen in der neuen Welt keine Mäuse mehr fangen?«, fragte Liam.
»Nein«, meinte Jones lachend.
Liam legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den endlos scheinenden Sternenhimmel. Frei, ja, so fühlte er sich. So frei wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es war dieses Gefühl, wie er es nur beim Erobern der Wellen mit seinem Surfbrett gefühlt hatte, wie er es vom Rücken eines Pferdes her kannte. Nur noch viel intensiver. Genau dieses Gefühl ruhte nun tief in ihm und erfüllte ihn bis in die Fingerspitzen. Ob es Ayumi, Addy und Younes ähnlich ging? Er würde sie wohl nie wiedersehen. Sie nie selbst fragen können. Doch wenn er die Augen schloss und an sie dachte, war es beinahe, als stünden sie neben ihm. Er war sich sicher, noch immer mit ihnen verbunden zu sein. Genau wie mit allem anderen, was zu dieser neuen Welt gehörte.
»Alles mit Maß und Verstand«, meinte Jack gähnend, ohne die Augen zu öffnen.
»Und mit Respekt«, fügte Grace hinzu. »All die Dinge, die wir Menschen verlernt haben. Wir müssen sie jetzt neu lernen, nicht wahr, Liam?«
Liam grinste. »Respekt? Das sagt ja genau die Richtige.«
»Hey!«, beschwerte sie sich und verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.
»Autsch«, stieß er aus, musste aber lachen.
»Ich hab’s mir überlegt. Wir sollten alle Veganer werden. Kein Steak mehr für euch, Jungs.«
»Ich werde verhungern!«, stöhnte Jones.
Liam seufzte und ließ sich auf sein Nachtlager fallen. Über ihm zog ein Schwarm Ignis hinweg, und wenn er sich dem nahe gelegen Wald zuwandte, konnte er zarte Lichtgestalten sehen, die sich zwischen den Bäumen bewegten. Er fragte sich, ob es die Meliad waren, die ja ebenso ein Teil der neu entstanden Welt sein müssten wie auch die Bewohner der anderen Sphären. Alle konnten sie nicht gestorben sein, um die Grundlage für eine Welt zu erschaffen. Obwohl er wusste, dass es für Terra Mater keine Rolle spielte, auf welche Art etwas existierte. Für sie waren die Meliad nicht verloren, wenn sie durch ihren Tod neues Leben schufen.
Über diesen Gedanken schlief er ein und erwachte erst, als die Sonne seine Nase kitzelte. Er schlug die Augen auf und blickte in ein kugelrundes Fellgesicht.
Der Schreck fuhr ihm durch den ganzen Körper. Er richtete sich so hastig auf, dass das kleine Tierchen zu Boden rollte wie ein Tennisball und, gefolgt von mehreren seiner Freunde, im Busch verschwand.
Das Lagerfeuer war bereits niedergebrannt, die anderen wach und dabei, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken.
»Was war das, zum Teufel?«, warf er ihnen entgegen und deutete auf die kleinen Tierchen, die ihn neugierig vom Schutz des Gestrüpps aus beobachteten. Ihre Augen leuchteten zwischen den Blättern wie kleine, runde Monde.
»Keine Ahnung«, meinte Grace, grinste dabei breit und zuckte mit den Schultern. »Aber es war zu niedlich, wie sie auf dir herumgetollt sind.«
»Die hätten giftig sein können!«, beschwerte er sich.
»So sahen sie aber nicht aus«, meinte Jones unbekümmert.
»Ihr spinnt doch alle«, murrte Liam, strich sich das Haar aus der Stirn und rappelte sich auf.
»Schon vergessen?«, fragte Jack. »Wir müssen jetzt Teil dieser neuen Welt werden.«
»Ihr könnt mich alle mal«, raunzte er. »Ich bin doch kein verdammtes Trampolin.«
Noch immer angefressen schnappte er sich das Hemd, das er als Kopfkissen benutzt hatte, schüttelte es aus und zog es sich über. Er konnte nur hoffen, dass Koffein ein Teil der neuen Welt war. Denn allmählich sehnte er sich nach einer schönen, heißen Tasse Kaffee. Alles war besser als Jacks bittere Kräutertees.
Es dauerte beinahe noch einen ganzen Tag, bis die Umgebung vertrauter wurde und das Gefühl, bald zu Hause anzukommen, beinahe unbändig stark.
Liam fragte sich, wie es überall sonst auf der Welt aussah. Im Outback waren viele neue Pflanzen und Tiere entstanden, alles war grüner geworden, die Steppe unter lichten Wäldern verschwunden und viele Bäche schlängelten sich durch die Natur, aber die Hügel, Berge, Felder und Wiesen waren unverändert.
Liam beschleunigte seine Schritte, als das Dach seines Elternhauses hinter der nächsten Anhöhe auftauchte. Er rannte das letzte Stück und blieb am höchsten Punkt wie angewurzelt stehen.
In seinen Ohren begann es zu rauschen, während sein Blick über die Überreste dessen streifte, was einmal eine prachtvolle Ranch gewesen war. Sein Herz schlug schnell und eine kaum zu kontrollierende Unruhe ergriff Besitz von ihm.
Das Anwesen lag vor ihm, als wäre er Jahrzehnte fortgewesen. Vieles schien verrottet und die Gebäude waren in sich zusammengestürzt. Die Rinder hatten die Weidenzäune durchbrochen und grasten zwischen den Pferden auf dem von Gestrüpp überwucherten Hof. Der Traktor war von Pflanzen erobert, von den Reifen sah man nur noch rostige Felgen und die Windschutzscheibe lag zerbrochen auf der Motorhaube. Wo von Weitem noch das Dach des Haupthauses zu erkennen gewesen war, als wäre nichts geschehen, sah er nun, dass das Haus darunter mehr einer Ruine glich. Eine Hälfte des Gebäudes bestand nur noch aus einem Haufen Steinen. Die übrigen Mauern hielten das Dach in der Luft.
Grace schloss zu Liam auf, ließ schweigend ihren Blick über die Ranch schweifen und wandte sich ihm zu. »Denkst du, es geht ihnen gut?«, fragte sie leise.
»Ein Teil des Haupthauses steht noch«, meinte er, hatte aber das Gefühl, sich etwas vorzumachen, wenn er es wagte zu hoffen.
»Wollen wir gemeinsam nachschauen?«
Liam zögerte. Bei all den Dingen, die er in den letzten Tagen erlebt hatte, bei all den Verlusten und harten Entscheidungen, machte es ihm am meisten Angst, seine Eltern tot vorzufinden. Wie hätte er es sich verzeihen können, sie im Stich gelassen zu haben? Allein der Gedanke, sie könnten erschlagen zwischen den Trümmern liegen, nahm ihm schon die Luft zum Atmen. Ja, er hatte seine Probleme mit ihnen. Oft waren sie nicht seiner Meinung und sie sahen eine Zukunft für ihn, die er so nicht wollte. Aber was spielte das alles jetzt noch für eine Rolle? Er liebte sie und er hätte es nicht ertragen, sie zu verlieren.
Er spürte eine Berührung an seiner Hand, sah nach unten und erkannte Graces Finger, die sich mit seinen verschränkten. Verwundert schaute er zu ihr auf. Sie lächelte sanft und das schenkte ihm neuen Mut.
»Also gut«, sagte er. »Lass es uns gemeinsam tun.«
Grace nickte, lief vor und zog ihn den Hügel hinab auf das Haupttor zu.
Das Blechschild, auf dem in geschwungenen Linien Stone Creek Ranch und der Name seiner Familie eingeprägt waren, lag im hohen Gras. Die Ballenschnur, mit der es am Zaun befestigt gewesen war, hatte sich völlig aufgelöst, die Farbe war abgeblättert und verblichen.
Von Nahem zeigte sich erst das ganze Ausmaß des Verfalls. Insbesondere die Teile, von denen Liam geglaubt hatte, sie würden die längste Zeit überstehen, schienen korrodiert und teilweise völlig zerstört.
»Wie das hier aussieht …«, murmelte Jones in seinem Rücken.
Sie überquerten den Hof und hatten gerade die Terrasse zum Haupthaus erreicht, als die schief in den Angeln hängende Tür aufschwang und Liams Mum in den Rahmen trat.
Als wäre er ein Geist, starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Liam!«, stieß sie ungläubig aus.
Grace ließ seine Hand los, was er nur beiläufig bemerkte. Er stand zu sehr unter Schock, um mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Es fühlte sich so unwirklich an, seine Mum vor sich stehen zu sehen.
Erst als sie zu ihm gelaufen kam und ihm in die Arme fiel, begriff er, dass er nicht träumte, und das beklemmende Gefühl, das sich in ihm Platz geschaffen hatte, verpuffte mit einem Mal.
»Es tut mir so leid!«, stieß sie aus. »Liam, es tut mir so unendlich leid!«
Er wusste gar nicht, wofür sie sich entschuldigte, aber es tat unheimlich gut, von ihr umarmt zu werden. Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter und war einfach nur dankbar, wieder zu Hause zu sein.
Als er aufsah, stand sein Vater im Türrahmen, hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, sodass man beinahe hätte meinen können, ihn lächeln zu sehen, und nickte Liam knapp, aber bestimmt zu.
Liam erwiderte die Geste, woraufhin sich sein Vater überwand, zu ihm kam und sich der Umarmung anschloss.
»Zu Hause«, sagte Liam leise und voller Erleichterung. »Ich bin endlich wieder zu Hause.«