KAPITEL 31

AYUMI

TAG 11: MI, 11: 30 UHR, NÖRDLICH VON TOKIO, JAPAN

Ayumi riss die Augen auf. Von einer Sekunde zur nächsten strömte die Wirklichkeit auf sie ein. Geräusche, Gerüche und beißende Kälte lähmten sie schier. Ihre Lunge brannte wie Feuer und sie hustete und spukte Wasser, als sie versuchte, nach Luft zu schnappen.

Die Sonne blendete sie, doch gerade als Ayumi die Hand heben und ihre Augen schützen wollte, legte sich ein Schatten über sie.

»Sie ist wieder da«, sagte jemand.

»Yuri …?«, fragte sie mit rauer Stimme. Sie hustete abermals. Das Sprechen fiel ihr schwer und trotz mehrmaligen Blinzeln konnte sie kaum etwas sehen. Sand und Salzwasser verklebten ihr die Augen.

»Lass ihr Platz zum Atmen«, meinte ein anderer.

Das waren keine Stimmen in ihrem Kopf. Da sprachen zwei Männer. Einer direkt neben ihr.

»Wer …?« Sie versuchte, sich aufzurichten, schaffte es aber nur mit Hilfe. Jemand legte ihr eine Decke über, rieb ihr die frierenden Arme und vor ihr tauchte eine Hand mit einem dampfenden, verbeulten Blechbecher auf.

»Nimm«, forderte der Fremde sie auf.

Ayumi blinzelte. So langsam kehrte das Leben in ihre Glieder zurück, das Bild vor ihren Augen wurde schärfer und sie erkannte einen jungen Mann, zu dem die Hand gehörte.

Er war ein Soldat in grünem Tarnanzug, kaum älter als zwanzig, mit kurz geschorenem Haar, einem schmalen Gesicht und mandelförmigen Augen. Freundlich und mitfühlend lächelte er Ayumi an und hob auffordernd den dampfenden Blechbecher vor ihr Gesicht.

Ayumi griff zu. Ihre Hände zitterten, aber die Wärme des heißen Getränks vertrieb das schnell. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck von der Brühe und sofort fühlte sie neue Kräfte in sich erwachen.

Scheinbar war sie an Land angespült worden. Vor ihr schlugen sich sanfte Wellen an einen von Trümmern und Algen übersäten Strand. Nicht weit entfernt stand ein Militärfahrzeug, mit platten Reifen und zerschlagenen Fenstern. Es wirkte, als würde es dort schon jahrhundertelang feststecken, doch ein zweiter Soldat zog gerade seinen Helm vom Beifahrersitz.

»Du hast Glück, dass wir hier liegen geblieben sind«, sagte der freundliche junge Soldat. »Wie ist dein Name?«

»Ayumi«, antwortete sie heiser.

Er lächelte. »Freut mich, Ayumi-San. Du kannst mich Kaito nennen und das dort hinten ist Takashi.«

Der andere Soldat nickte ihr knapp zu, nachdem Kaito ihn vorgestellt hatte, und schaute sich um. Er war ein raubeiniger Kerl, etwas untersetzt, mit kantigem Kinn. »Sind noch mehr Überlebende angespült worden?«, fragte er.

»Ich konnte niemanden sehen«, meinte Kaito und richtete sich auf. »Wie sieht es mit dem Wagen aus?«

»Schrott«, brummte Takashi. »Alle Plastikteile sind korrodiert.«

»Wie bitte kann Plastik korrodieren? Kann das von der Strahlung kommen?«

»Frag mich nicht«, murrte er. »Der Geigerzähler ist nach dieser Lichtwelle wieder in den Normbereich gewechselt. Also sind wir entweder doch nicht atomar verstrahlt oder das Teil ist einfach nur Schrott.«

Ayumis Gedanken begannen zu rasen. Sie versuchte zu ordnen, was sie durch die Soldaten erfuhr und an was sie sich aus Terra Maters Sphäre erinnerte.

Daran, dass ein so mächtiger Tsunami, wie sie ihn erlebt hatte, den gesamten Inselstrich, also auch das Atomkraftwerk in Fukushima getroffen haben müsste, hatte sie gar nicht gedacht. Wenn nicht schon das Erdbeben für die Zerstörung des Kraftwerks gesorgt hatte, müssten sie doch spätestens nach der Flut vor einem nuklearen Winter und dem endgültigen Aus der Menschheit stehen. Aber scheinbar war es anders gekommen. Hatten sie Terra Mater am Ende wirklich überzeugen können? Es schien so.

Eigentlich hätte sich Ayumi darüber freuen sollen. Aber sie saß nur da, starrte ins Leere und fühlte nichts. Wahrscheinlich stand sie unter Schock.

Kaito ging wieder vor ihr in die Hocke. »Geht es dir schon besser?«, fragte er.

Sie nickte und sah zu ihm auf. So lange hatte sie sich danach gesehnt, auf einen lebenden Menschen zu treffen, und nun fühlte es sich an, als wäre er Meilen von ihr entfernt. »Gibt es außer euch noch mehr Überlebende?«, fragte sie.

Wieder lächelte Kaito sanft. »Aber ja. Es gibt ein Auffanglager, nicht weit von hier. Dort bringen wir dich hin. Nur leider müssen wir wohl laufen. Denkst du, du schaffst das?«

Erneut nickte sie bloß und fühlte kaum etwas. Es musste wirklich der Schock sein.

Kaito half ihr auf die Beine und führte sie den Hügel hinauf. Noch einmal warf Ayumi einen Blick zurück. Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche, die das versunkene Tokio unter sich verbarg. Die Gerippe der Hochhäuser waren gänzlich unter Pflanzen verschwunden und so wirkte es, als lägen unzählige kleine Inseln im Meer, die sich alle um das Land scharten, aus dessen Mitte sich der Fuji erhob. Dort schien das blühende Leben Einzug gehalten zu haben. Eine unberührte Welt voller mystischer Pflanzen und fremdartiger Tiere erstreckte sich vor Ayumis Augen. Und während sie ihren Blick über diese wundersame Welt schweifen ließ, brach plötzlich ein Wal aus den Fluten, warf sich in die Höhe und klatschte in voller Breitseite auf die Wasseroberfläche.

Ayumis Herz ging ihr bei dem Anblick auf und allmählich schien sie in der Wirklichkeit anzukommen. So grausam der Untergang Tokios und von großen Teilen der Welt auch war, so wunderschön war die neue Welt, die Terra Mater erschaffen hatte. Ob die Menschen jemals Dankbarkeit dafür empfinden würden, ein Teil davon sein zu dürfen?

Auch Kaito war stehen geblieben und beobachtete das faszinierende Schauspiel der Natur.

»Der traut sich ganz schön nah ans Landesinnere«, meinte Takashi in ihrem Rücken.

»Ich denke, er freut sich einfach«, mutmaßte Ayumi.

»Worüber?«, fragte Kaito.

»Darüber, dass die Welt nicht mehr den Menschen gehört. Sie gehört wieder allen. Den Walen und Fischen, den Vögeln …«

Kaito zog die Decke um Ayumis Schultern etwas enger. »Das hast du schön gesagt. Mir scheint, du weißt mehr über das, was in den letzten Tagen passiert ist, als man dir an der Nasenspitze ansieht. Willst du mir etwas darüber erzählen?«

Ayumi schaute zu Takashi. Sie wollte nicht für verrückt erklärt werden, wenn sie anfing, von Naturgeistern und göttlichen Wesen wie Terra Mater zu reden, also schüttelte sie den Kopf.

»Ein andermal vielleicht?«, fragte er.

Sie lächelte und nickte.

»Du hast so eine schöne Stimme. Du solltest sie auch gebrauchen.«

»Gomen naisai«, entschuldigte sie sich mit gesenktem Blick und spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.

Als sie wieder aufsah, schmunzelte Kaito. Er kippte den Rest der warmen Brühe in die Wiese, lief zum Wagen und stopfte die Tasse und eine Thermoskanne in seinen Rucksack.

Takashi trat näher an Kaito heran. »Süß, deine kleine Meerjungfrau«, flüsterte er ihm zu. Wahrscheinlich dachte er, Ayumi könnte ihn nicht hören.

»Hör auf, sie so zu nennen, Takashi«, zischte Kaito. »Sie ist ein ganz normales Mädchen und sie hat wahrscheinlich Schlimmes durchgemacht.«

Takashi warf Ayumi einen misstrauischen Blick zu. Dass nach den verheerenden Naturkatastrophen noch eine Überlebende an den Strand gespült worden war, schien Skepsis in ihm zu wecken.

Eilig wandte sich Ayumi von ihm ab und tat so, als hätte sie das Gespräch nicht mit angehört.

»Kein normales Mädchen hätte diesen Tsunami überlebt«, sagte Takashi.

Ihr Herz schlug bei diesen Worten schneller. Wie recht er hatte, war ihm sicher nicht bewusst. Ayumi war kein normales Mädchen. Sie schlang die Decke fester um ihren bibbernden Körper, schniefte und schaute sich um.

Man sah der Gegend kaum noch an, dass hier einmal Straßen und die beschaulichen Wohnhäuser eines Vorstadtviertels gelegen hatten. Unter der mutierten Natur war das meiste davon verschwunden. Die Häuser waren wohl dem Erbeben zum Opfer gefallen und Pflanzen überwucherten die Trümmer.

In einem der Gebäude bemerkte Ayumi eine Bewegung. Etwas Kleines, Zierliches huschte dort zwischen den Resten einer Mauer umher. Eine Katze!

»Yuri? Taro?«, rief sie aufgeregt.

Sie warf die Decke von sich und rannte los. Es musste eine Katze gewesen sein, da war sie sich ganz sicher! Aber warum versteckten sich die beiden vor ihr? Warum hatten sie sie ohnmächtig am Strand liegen lassen?

Ayumi erreichte die Trümmer, sah sich eilig um und erhaschte gerade noch so einen Blick auf Taro, der hinter einer Ecke verschwand.

»Taro, warte!«, rief sie ihm nach.

Sie wollte hinterher, da streckte die Katze ihren Kopf um die Ecke. Ayumi hielt inne, ging auf ein Knie und hielt Taro die Hand entgegen. »Was ist mit dir?«, fragte sie. »Wieso versteckst du dich?«

Zögerlich kam er näher und benahm sich dabei wie ein scheues Tier.

Etwas abseits entdeckte sie auch Yuri, der sie misstrauisch beobachtete.

Wie sie ihn dort versteckt in den Schatten sah, traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Das waren nicht die Naturgeister. Es waren ganz normale Straßenkatzen. Die Seelen von Taro und Yuri schienen sie verlassen zu haben.

Ein beklemmendes Gefühl schuf sich in Ayumi Platz. Sie hatte den beiden so viel zu verdanken, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, von nun an ohne sie zurechtkommen zu müssen. Aber die Sphären waren verschmolzen und die Naturgeister mussten sich keiner fremder Körper mehr bemächtigen, um überleben zu können. Bloß verstand Ayumi nicht, wieso sich Taro und Yuri nicht wenigstens verabschiedet hatten.

»Sind das deine Katzen?«, fragte Kaito, der ihr gefolgt war.

Ayumi stand auf. »Nein«, sagte sie benommen. »Ich dachte nur … ich dachte, sie wären es.«

»Komm jetzt«, bat er. »Wir sollten aufbrechen, damit wir das Lager noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Es treiben sich seltsame Wesen in den Schatten herum.«

Ayumi schaute den Katzen nach, wie sie zwischen den Trümmern verschwanden. Ob die Belial noch gefährlich waren, nachdem Terra Mater die Sphären zu einer vereint hatte? Ayumi wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Nicht, wo Yuri und Taro waren, ob sie die beiden wiedersehen würde und wie es ihr gelingen sollte, ohne sie zu überleben. Ganz allein in einer fremden Welt. So vertraut sie ihr auch vorkam.

Sie hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können, und wünschte sich, noch immer unter Schock zu stehen, um die Angst nicht fühlen zu müssen, die sich ihr um die Brust schnürte.

Eine Hand legte sich zwischen ihre Schultern und die Berührung zog sie zurück in die Wirklichkeit. Weg von der wachsenden Panik.

Sie schaute zu Kaito auf.

»Lass uns gehen«, bat er erneut.

Ayumi nickte und konnte den Blick nicht von ihm lassen. Ob die Naturgeister verschwunden waren, weil sich Menschen gezeigt hatten? Weil sie endlich dort angekommen war, wo sie die ganze Zeit schon hingewollt hatte?