KAPITEL 32
AYUMI
TAG 11: MI, 17: 45 UHR, NÖRDLICH VON TOKIO, JAPAN
Ihr Weg führte sie durch dicht gewucherte Natur. Endlos scheinende Bambuswälder reihten sich an Ebenen, die geprägt waren von blumenbewachsenen Felsen. Es sah aus, als wären diese mächtigen, rundlichen Gesteinsbrocken in Wirklichkeit gigantische Schildkröten, deren Panzer mit Samtstoffen in verschiedenen Grün- und Rosatönen bespannt waren. Alles war bunt, hell und voller Leben. Ayumis Angst davor, verloren zu sein, war längst verschwunden und einer tief empfundenen Ehrfurcht gewichen. Die neue Welt war ihr fremd und dennoch vertraut. Wie ein Zuhause, von dem ihr nicht klar gewesen war, dass sie es hatte.
Nicht nur sie bewunderte die Landschaft. Auch die beiden Soldaten waren von den vielen kleinen Wundern gefesselt. Tellergroße Schmetterlinge, Blumen, die sich in den Boden zurückzogen, wenn man ihnen näher kam, und glitzerndes Moos in Regenbogenfarben – Ayumi wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte.
»Das sah auf dem Hinweg aber nicht so aus«, murmelte Takashi verunsichert.
Als die Felsen um sie herum kleiner wurden und an Seifenblasen erinnerten, die den Boden säumten, berührte bereits die Sonne den Horizont.
Kaito hielt inne, warf einen Blick auf seinen Kompass und bewegte ihn nach links.
»Hinter den Bäumen muss es sein«, sagte er.
Ayumis Herz schlug schneller. Insgeheim hatte sie die ganze Zeit befürchtet, dass die restlichen Menschen doch bei der Verschmelzung der Sphären verschwunden waren. Diese Angst konnte sie nicht ganz abschütteln und sie war es, die Ayumi stocken ließ.
Erst als Kaito vorauslief und die Äste der Bäume, die wie ein Vorhang zu Boden hingen, beiseiteschob, atmete sie tief durch, nahm all ihren Mut zusammen und folgte ihm.
Sie duckte sich unter den Ästen hindurch, tauchte einen Moment lang in Dunkelheit ein und stand im nächsten Augenblick am Rande des Auffanglagers.
Was sie sah, schnürte ihr die Kehle zu.
Die Zelte standen noch und die Menschen lebten ebenfalls. Zwischen all den kleinen Wundern, den Farben, der Harmonie, die ihr auf den Weg begegnet waren, lagen nun, Reihe an Reihe, olivbraune Militärzelte vor ihr. In akkuraten Linien waren sie aufgebaut worden. Tausende Menschen mussten hier Unterschlupf gefunden haben und alles, was am Boden wuchs, war von ihnen niedergetrampelt worden.
Wie in Trance betrat Ayumi das Lager. Sie hatte geglaubt, außer sich vor Freude sein zu müssen, wenn sie wieder unter Menschen war, aber dem war nicht so. Der Anblick war bedrückend. Ohne moderne Technik, bunte Werbeschilder und Kleidung in knalligen Farben fiel ihr erst auf, wie sehr ein Haufen dicht zusammengeraufter Menschen aus dem Bild der Umwelt hervorstach.
Vielleicht lag es zum Teil auch daran, dass die Welt um sie herum eine fremde geworden war, doch es war kaum zu übersehen, dass die Menschen nicht hierhergehörten. Nicht wirklich. Ayumi schämte sich für diese Gedanken.
Einige der Zelte waren eingestürzt und man arbeitete daran, sie noch vor Einbruch der Nacht aufzurichten. Es war laut, hektisch und niemand schenkte Ayumi Beachtung.
»Die Seile halten nicht!«, rief jemand.
»Wir brauchen Holz! Stellt Suchtrupps zusammen, sammelt dünne Äste, Bambus, wenn ihr welchen findet.«
Scheinbar gab es ein Problem mit den Nylonschnüren der Zelte. Sie rissen einfach entzwei.
Kaito und Takashi gingen voraus. Ayumi folgte ihnen durch die Zeltreihen, wurde mehrmals angerempelt, musste sich zwischen den Massen hindurchschlängeln und hatte dabei kaum die Gelegenheit, sich die Gesichter der vielen Überlebenden anzuschauen.
»Hier entlang!«, rief Kaito ihr zu.
Sie ging auf die Zehenspitzen, um ihn sehen zu können. Jemand stieß gegen ihre Schulter, brachte sie dadurch ins Straucheln, und als sie sich wieder nach vorne wandte, war Kaito verschwunden.
Panik kam in ihr auf. Sofort überrannte sie das Gefühl, völlig verloren zu sein. Sie kannte hier niemanden, wusste nicht, wo er vorgehabt hatte, sie hinzuführen, und was sie nun tun sollte. Gehetzt schaute sie sich um, blickte in Dutzende fremder Gesichter und blieb an dem eines Kindes hängen.
Es war ein Junge. Höchstens vierzehn Jahre alt. Mit verdreckter Kleidung, zerzaustem Haar und Schürfwunden im Gesicht. Er stand ihr mitten im Trubel gegenüber und blickte sie direkt an. Und es war, als würde alles um sie herum ruhiger werden. Als würde die Zeit langsamer verstreichen.
Etwas an diesem Jungen war Ayumi vertraut. Es kam ihr vor, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Und ihm schien es genauso zu gehen.
Sie öffnete den Mund, wollte fragen, ob er in ihre Schule gegangen war, stockte aber. Mit einem Mal erinnerte sie sich, woher sie ihn kannte. Er war einer von ihnen. Einer wie sie, aus den späteren Generationen.
Ein Lächeln stahl sich ihr auf die Lippen und das Gefühl, zwischen all den Fremden verloren zu sein, verschwand. Sie würde nie wieder wirklich alleine sein. Das begriff sie nun. Zwischen ihr und diesem Jungen war eine Verbindung. Beinahe so, als könne sie seine Gedanken lesen.
Sie schloss die Augen, horchte tief in sich hinein und spürte, dass sie mit allen Kindern, die so waren wie sie, verbunden war. Auch mit Addy, Liam und Younes. So wie sich die Ignis ein Bewusstsein teilten, konnte sie die anderen trotz der großen Distanz wahrnehmen, als stünden sie gleich neben ihr. Es waren keine greifbaren Worte oder Bilder, die tief in ihr schlummerten, aber das unbändige Gefühl, eine von vielen und nie ganz alleine zu sein.
»Da bist du ja«, sagte Kaito. Ayumi riss die Augen auf. »Du musst dicht bei mir bleiben, sonst gehst du mir verloren.«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte zuversichtlich. »Ich bin hier nicht verloren«, sagte sie und schaute sich noch einmal um. Dank des Jungen sah sie das Lager nun mit ganz anderen Augen. Er hatte seinen Optimismus mit ihr geteilt. Noch waren die Menschen ein Störfaktor in der neuen Welt, aber das würde sich ändern, sobald sie ihren Platz gefunden hatten. Alles, was sie dazu brauchten, war etwas Zeit.
Kaito wirkte verwirrt, schüttelte das aber schnell wieder ab. »Komm.«
Ayumi nickte, warf aber noch einmal einen Blick zurück zu dem Jungen, der allerdings bereits in der Masse verschwunden war.
Sie gelangten zu einem zentral gelegenen Zelt von mindestens fünfzehn Meter Länge. Hier hatte man die Polyesterseile bereits durch zusammengeknüpfte Stoffstreifen ersetzt. Krankenbetten reihten sich an die Wände, Sanitäter huschten zwischen ihnen hindurch und versorgten Verletzte.
In einer Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem sich Papiere stapelten. Eine ganze Horde offenbar hochrangiger Soldaten umringte ihn und stritt heftig.
Kaito schob Ayumi zu einem leer stehenden Bett, ließ sie dort stehen und näherte sich seinen Vorgesetzten.
»Es löst sich alles auf!«, brüllte einer der Soldaten. Er war ein glatzköpfiger Mann mit vielen Abzeichen auf der Brust. »Wie stellt ihr euch das also bitte vor? Wie sollen wir Kontakt zu irgendjemandem aufnehmen? Wie an Versorgungsgüter gelangen?«
»Es muss doch noch ein funktionierendes Funkgerät geben«, meinte ein anderer mit ausholender Geste.
»Eben nicht!«, schrie der Glatzkopf, der mittlerweile hochrot angelaufen war.
Ein Dritter räusperte sich. »Gehen wir mal davon aus, dass die letzten Werte tatsächlich korrekt sind und die atomare Strahlung neutralisiert wurde. Wie ist das möglich? Wem oder was haben wir das zu verdanken?«
»Gar nicht«, sagte der glatzköpfige Soldat. »Die Geigerzähler sind genauso hinüber wie alles andere mit verbauten Kunststoffteilen. Wahrscheinlich werden wir alle an den Folgen der Verstrahlung sterben. Wir sind einfach zu nah an Fukushima.«
Kaito räusperte sich und gewann dadurch die Aufmerksamkeit der Männer. Einer von ihnen nickte ihm auffordernd zu und er begann zu berichten. Was er sagte, konnte Ayumi nicht verstehen, da er nicht laut brüllte, wie es seine Vorgesetzten getan hatten.
Sie versuchte dennoch zu hören, was er sagte, und wollte etwas näher an den Schreibtisch heranrücken, als ihr eine Sanitäterin den Weg versperrte.
»Dann lass mich mal schauen«, sagte sie und deutete auf das Bett.
»Was schauen?«, fragte Ayumi.
Die Frau lächelte. »Du wurdest am Strand gefunden, nicht wahr? Ich will nur sichergehen, dass es dir gut geht.«
Ayumi nickte und lehnte sich gegen das Bett. Die Sanitäterin zog eine Taschenlampe hervor, wollte ihre Pupillen prüfen, doch das Licht flackerte nur und ging dann schließlich ganz aus.
»Nicht noch eine«, murrte die Frau, klopfte die Taschenlampe gegen ihre Hand, erreichte damit aber nichts. Sie schnaubte genervt, setzte dann aber ein gezwungenes Lächeln auf. »Warte einen Moment«, bat sie und ließ ihre Patientin stehen.
Ayumi schaute sich wieder nach Kaito um. Er hatte sich offenbar in die Diskussion verstricken lassen. Ob sie wirklich alle verstrahlt waren? Sie glaubte nicht daran. Wenn Terra eine neue Welt erschuf, dann doch sicher keine, die unter den Folgen der menschlichen Dummheit zu leiden hatte. Und das erklärte wohl auch, warum sich alles aus Kunststoff zu zersetzen begann.
Sie wandte sich dem Eingang zu. Noch immer herrschte heilloses Treiben im Lager. Wie lange es wohl dauern würde, bis die Menschen ihren Platz in der neuen Welt gefunden hatten? Wahrscheinlich begannen sie erst dann, sich ein neues Leben aufzubauen, wenn wirklich alle Spuren des alten verschwunden waren.
Bei dem Gedanken fasste Ayumi an ihr Shirt und rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. Er fühlte sich seltsam porös an und löste sich schon beinahe auf. Mit Sicherheit verriet das Etikett, dass er zum Teil aus Polyester oder Elasthan bestand, und damit war es nur eine Frage der Zeit, bis sie andere Kleidung brauchte. Aber was war mit den Zelten? Ayumi stieß sich vom Bett ab, lief zum Eingang und fasste an die Plane. Sie war nicht aus dem dünnen, glatten Stoff, wie man ihn von kleinen Privatzelten kannte. Sie war schwer und fühlte sich eher nach Baumwolle an. Mit etwas Glück würde ihnen das Auffanglager nicht so schnell über den Köpfen zusammenbrechen.
Ayumi wandte sich gerade wieder dem Inneren zu, als sie am Rand des Lagers etwas Buntes an den Ästen des angrenzenden Waldes flattern sah. Was auch immer es war, es weckte ihre Neugier.
Sie suchte noch einmal nach der Sanitäterin, die aber scheinbar Probleme hatte, eine funktionierende Taschenlampe zu finden. Auch Kaito war beschäftigt, also verließ Ayumi das Zelt.
Sie wanderte durch das Lager, vorbei an unzähligen Menschen, die ängstlich, verstört und traurig wirkten. Sie alle hatten so viel verloren und an diesem Ort, der trist und grau war, konnten ihnen die Wunder, die um sie herum entstanden, kaum Trost spenden.
Als Ayumi die Zelte hinter sich gelassen hatte, erkannte sie, was dort Buntes im Wind flatterte. Es waren keine Blüten, wie sie vermutet hätte, sondern Fotos.
An Schnüre zwischen Bäume gespannt und von den Ästen hängend, sah Ayumi, so weit das Auge reichte, Tausende Bilder von Vermissten.
Ein kalter Schauer ergriff sie. Manche der vielen Gesichter waren gezeichnet, andere blickten von Fotos auf sie herab, die wahrscheinlich aus den Portemonnaies ihrer Verwandten stammten. Überall dazwischen hingen Notizen, Namen und Briefe.
Ein Kloß bildete sich in Ayumis Hals. Der Anblick war nur schwer zu ertragen und sie wagte es nicht, genauer hinzuschauen, wo sich doch das Bild der vielen Leichen in Tokio in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Was, wenn sie jemanden wiedererkennen würde? Wenn eines der vielen lachenden Gesichter zu dem verwesenden Körper einer Mutter, eines Vaters oder Kindes gehörte – eines von Terra Maters Opfern, über das Ayumi achtlos gestiegen war, um nun festzustellen, dass es hier jemanden gab, der diese Person schmerzlich vermisste.
Sie konnte nicht fassen, dass diese blassen Bilder am Ende alles waren, was ihnen von der alten Welt blieb. Ein Monument der Toten, das scheinbar schneller verging, als es ihnen allen lieb war. Denn jetzt schon waren viele der Fotos kaum mehr zu erkennen.
»Hatte ich nicht gesagt, dass du in meiner Nähe bleiben sollst?«
Ayumi wirbelte herum. Kaito stand hinter ihr und lächelte freundlich. Seine Mundwinkel kräuselten sich leicht, wenn er das tat. Das fiel ihr jetzt erst richtig auf. Und was ihr bisher ebenfalls entgangen war, waren seine Augen, die trotz seiner offenen, freundlichen Art traurig wirkten. Sein Lächeln spiegelte sich darin nicht wider.
»Mir geht es gut«, versicherte sie. »Ich brauche keine ärztliche Untersuchung.«
»Das ist Standard«, erklärte er.
Ayumi hob die Schultern. »Ich denke, wir müssen unsere Standards ohnehin alle überdenken.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Wahrscheinlich schon, aber ein Check-up, nachdem man fast ertrunken wäre, gehört wohl nicht dazu.«
Ayumi lachte verhalten, was ihn zu freuen schien, seine Augen aber trotzdem nicht berührte. Sie sah ihn lange an. »Welches gehört dir?«, fragte sie leise.
Bei ihren Worten verschwand sein Lächeln gänzlich. Er reagierte erst nicht, dann schließlich wandte er sich den Bäumen zu und deutete mit dem Kinn in Richtung eines zerknitterten Fotos.
»Meine Schwester«, sagte er und schwieg eine Weile. »Wir haben alle jemanden verloren. Du sicher auch.«
Ayumi trat neben ihn. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Mitschüler, ihre Lehrer. Genau wie alle anderen hatte auch sie in den letzten Tagen viel verloren. Und es gab nichts, keine Wunder, keine Schönheit einer neuen Welt, was ihre Verluste aufwiegen konnte. Nur die Hoffnung, dass der Schmerz irgendwann nachließ und dass das Ende einer kranken Welt, so tief die Wunde auch saß, den Neubeginn einer besseren bedeutete. Den Anfang von etwas, nach dem sich viele Menschen insgeheim gesehnt hatten.
Dennoch. Wenn Ayumi auch nur einen Moment zu lange an ihre Mutter und ihren Vater dachte, war es, als würde die schöne neue Welt um sie herum grau und kalt werden. Dann war da nur noch der Schmerz, der sie innerlich zu zerreißen drohte.
»Vorsicht!«, warnte Kaito plötzlich, packte Ayumi an den Schultern und zog sie von den Bäumen weg.
Erschrocken schaute sie sich um. Sie rechnete mit einem Belial in den Schatten oder einem mutierten Ungetüm, das die Verschmelzung der Sphären erschaffen hatte. Doch was sie sah, waren schimmernde Energiekugeln, die sich durch die Wurzeln der Bäume auf Ayumi zubewegten. Ihr Leuchten durchdrang dabei die Erde und das daraufliegende Laub, zog sich in feinen Linien durch die kleinsten Ausläufer des Wurzelwerks und kroch die Baumstämme hinauf, wo es unter der Rinde bläulich flimmerte. Ayumi war so gebannt von diesem Anblick, dass sie Kaitos erhobene Pistole erst bemerkte, als er einen Schritt vortrat und schützend den Arm vor sie hob.
»Bleib zurück«, forderte er sie auf, ohne sich ihr zuzuwenden. Seine Finger schraubten sich fester um den Griff der Waffe, er wagte sich einen weiteren Schritt vor und umfasste sie auch mit der zweiten Hand.
Ayumi schloss zu ihm auf und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Schon gut«, versicherte sie. »Das sind nur Meliad. Naturgeister. Sie tun uns nichts.«
Verwirrt warf er ihr einen flüchtigen Blick zu. »Woher …?«, fragte er, riss den Kopf aber wieder nach vorne, als die Energie der Naturgeister gänzlich in die Baumstämme überging und darin so hell zu strahlen begann, dass es sie blendete.
»Was tun diese Dinger jetzt?«, fragte er.
Ayumi war sich nicht sicher. Sie hörte die Stimmen der beiden nicht in ihrem Kopf, spürte aber die Verbindung zwischen ihnen, und sie wusste, dass es Yuri und Taro waren. In ihrer wahren, reinen Form. Ihre Gegenwart löste in ihr dasselbe Gefühl aus, wie man es hatte, wenn man jemanden, den man sehr gut kannte, umarmte. Sie war überglücklich, die beiden noch einmal wiedersehen zu dürfen, wusste aber nicht, wieso sie gekommen waren.
Sie ging näher an sie heran, sah im Augenwinkel, dass Kaito die Waffe senkte, und atmete tief ein, als sie der vertraute, süßliche Geruch nach pulsierender Lebensenergie umfing.
»Sie sind hier, um sich zu verabschieden«, stellte sie schließlich fest. Diese Worte hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Ayumi wollte sie nicht verlieren, egal wie sehr sie auch verstand, dass ihre Wege von nun an in verschiedene Richtungen gingen. Sie wusste, dass es an der Zeit war, den beiden ihre Freiheit zu gönnen, und insgeheim sehnte sie sich selbst danach, als Energie durch die Ströme der Welt zu fließen, sich vom Puls des Lebens treiben zu lassen und eins zu werden mit allem, was sie umgab.
Die Energiewesen hatten sich in den Stämmen zweier Bäume gesammelt und strahlten so hell, dass Ayumi sie fast nur als weißes Licht wahrnahm. Beinahe erinnerte sie der Anblick an alte Darstellungen von Kodama, japanischen Baumgeistern.
Dieser Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. »Danke für alles. Arigato gozaimashita, Kodama-Sama«, flüsterte sie, faltete ihre Hände und verbeugte sich respektvoll.
»Wir danken dir«, hörte sie die Stimmen der beiden in ihrem Kopf widerhallen.
Tränen sammelten sich in Ayumis Augenwinkeln und tropften zu Boden. Es tat weh, sich Lebewohl zu sagen. Es tat so unheimlich weh.
Sie blickte auf, als die Lichtgestalten erneut aufleuchteten. Kaum dass die Formen, die sie angenommen hatten, nicht mehr als solche zu erkennen waren, schossen die Meliad durch die Fasern des Holzes hinauf in die Äste. Dort breiteten sie sich in den Kronen der Bäume aus und brachten jede Knospe zum Erblühen, bevor sie den Baum durch die neu entstanden Blätter in Abertausenden Lichtfragmenten verließen. Wie ein Schwarm Glühwürmchen, der sich vom Geäst löste, sah es aus, als die beiden, vom Wind getragen, davonflogen.
Ayumis Blick hing ihnen noch lange nach. Selbst dann, als sie ein Stück weit entfernt wieder in den Bäumen abtauchten, konnte sie sich nicht überwinden, sie endgültig loszulassen.
Erst als das Licht vollends verschwunden war, die Geräusche um sie herum wieder zu ihr vordrangen und sie Kaito in ihrem Rücken atmen hörte, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und wandte sich ihm zu.
Aufschauen konnte sie aber nicht. Es gelang ihr einfach nicht, mit dem Weinen aufzuhören, egal wie oft sie ihre Tränen auch wegwischte. Sie schniefte leise und versuchte es immer wieder.
Kaito steckte seine Waffe weg und reichte ihr ein Taschentuch. »Irgendwann erzählst du es mir, ja? Wenn du so weit bist.«
Sie nahm das Taschentuch an, ohne ihn anzusehen, trocknete ihre Tränen und nickte. Irgendwann ganz sicher. Spätestens dann, wenn sie ihren Platz in der neuen Welt gefunden und der Schmerz ein wenig nachgelassen hatte. Dann würde sie so vieles zu erzählen haben.