KAPITEL 33

ADDY

EINIGE ZEIT SPÄTER, SUTTON PARK, ENGLAND

Es hatte bloß 10 Tage gedauert. 10 Tage, um eine ganze Zivilisation zu zerstören und den Grundstein für eine neue Welt zu legen. Mehrere Wochen waren seitdem vergangen, über die Spuren der Vergangenheit hatte sich ein grüner Teppich ausgebreitet und die meisten Menschen suchten bereits ihren Platz in dieser neuen, fremden Welt.

Addy, Jared, Sarah und ihre Mutter hatten ihn bereits gefunden. Das Militär konnte sie schlecht ewig festhalten, und während es Ben wieder nach London gezogen hatte, waren sie in den Sutton Park zurückgekehrt.

Mit offenen Armen hatte man sie dort empfangen. Sie halfen beim Wiederaufbau der kleinen Siedlung, nachdem sie von den Soldaten verwüstet worden war, errichteten neue Hütten und Baumhäuser, legten Felder an und fanden Wege, im Einklang mit der Natur zu leben.

Bereits kurz nach Addys Rückkehr aus Terra Maters Sphäre hatte sich gezeigt, dass die Mutter der Natur zwar bereit war, den Menschen eine zweite Chance einzuräumen, die Erde zuvor aber von allem befreite, was von ihnen künstlich erzeugt worden war.

Synthetische Stoffe wie Polyester, Plastik, Gummi und anscheinend sogar für das menschliche Auge unsichtbare Strahlung zersetzten sich binnen weniger Tage. So war zwar nicht die Menschheit selbst verschwunden, aber ihre Geißel. Die Welt, die unter Müll zu ersticken gedroht hatte, konnte wieder frei atmen.

Bald schon waren alle technischen Geräte nutzlos geworden und nur noch wenige Werkzeuge standen ihnen zur Verfügung. Trotz der vielen Einschränkungen und verheerenden Folgen arrangierten sich die Menschen irgendwie damit. So wie sie es schon immer getan hatten. Sie waren anpassungsfähig. Kämpfernaturen.

Addy wusste nicht, wie es in anderen Ländern aussah. Sie wusste nicht, wie viele Menschen überlebt hatten und was ihnen die Zukunft brachte. Aber wenn sie die Augen schloss, spürte sie die Verbindung zu den Kindern, die so waren wie sie. Auch das Band zwischen ihr, Ayumi, Liam und Younes war noch immer vorhanden. Und was Addy fühlte, war Zuversicht.

Vielleicht behielt Terra Mater am Ende recht und die Geschichte würde sich früher oder später wiederholen. Vielleicht aber auch nicht. Addy würde die Hoffnung nicht aufgeben.

Sie wollte daran glauben, dass die Menschen die neu entstandene Welt irgendwann mit denselben Augen betrachten konnten wie sie. Dass sie die Schönheit darin sahen, die Chance auf einen Neubeginn und das Ende von allem, was sie früher in Fesseln gelegt hatte – Fesseln, die ihnen die Luft zum Atmen genommen, sie vor Laptops, Smartphones und Konsolen gespannt und ihnen Werte aufgezwungen hatten, die dazu dienten, ihnen die eigene Identität zu rauben.

Das alles gehörte nun der Vergangenheit an. Es gehörte in eine Gesellschaft, die es nicht mehr gab. Eine Gesellschaft, in der man ständig durchs Leben gehetzt war, statt jeden einzelnen Tag aufs Neue zu genießen.

Und je mehr die neue Welt Addys Zuhause wurde, desto mehr begann sie tatsächlich, zu leben und zu lernen, was das bedeutete. Sie begriff, dass Zeit nicht mehr länger nur in Terra Maters Sphäre gebeugt werden konnte. Das Gefühl, sie würde unbarmherzig voranschreiten, hatte an ebenjener Gesellschaft gelegen, die einen dazu treiben wollte, immer mehr haben zu müssen, immer schneller, höher, weiter, besser und schöner zu sein. Der Strom hatte die Menschen einfach mitgerissen, bis sie vor lauter hochgesteckter Ziele, Erwartungen und Leistungsdruck ins Straucheln geraten waren und nicht mehr wusste, wie es sich anfühlte innezuhalten, durchzuatmen und einfach zu leben.

Das alles wollte Addy nicht mehr. Das wollte niemand. Sie wollte sich an das Gute erinnern und davon zehren, sich auf das Schöne konzentrieren und es tief in sich aufnehmen. Sie wollte nicht nur dem nachtrauern, was sie nicht hatte retten oder erreichen können, sondern dankbar für das sein, was ihr geblieben war. Und vielleicht reichte das schon aus, um zu verhindern, dass sich irgendwann alles wiederholte. Vielleicht war es genug, wenn jeder Mensch nur ein klein wenig mehr Dankbarkeit zeigte, etwas bescheidener war und anderen Lebewesen, aber auch sich selbst Respekt entgegenbrachte.

Vielleicht wäre es sogar nie so weit gekommen, wenn jeder einen kleinen Beitrag geleistet hätte, um die Welt besser zu machen. Wenn nicht wenige für alle hätten kämpfen müssen, sondern alle für den Einzelnen.

Ändern konnte man jetzt nichts mehr daran. Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Das hatte Addy gelernt. Was vergangen war, machte niemand ungeschehen. Was man daraus lernte, war das Entscheidende.

Während sie diesen Gedanken nachhing, stand sie auf einem Feld aus kniehohen Butterblumen, so weit das Auge reichte, hörte nichts weiter als das Rauschen des Windes, atmete klare, kühle Luft und genoss die Sonne auf ihrer Haut. Und jeder Atemzug, den sie tat – mit geschlossenen Augen und dem Gefühl zu fliegen in ihrem Herzen –, vermittelte ihr, genau in diesem Moment ewig zu leben. Die Zeit blieb stehen, wenn man aufhörte, vor ihr zu fliehen.

Und was sie spürte, als ihre Hände über die Blüten wanderten, war ein Schwirren reiner Energie. Sie kribbelte auf ihrer Haut, zog sich durch ihren Körper, von den Fingerkuppen bis hinauf in ihre Brust, und der süßliche Duft nach ihr lag in der Luft. Ein Duft wie goldener Honig.

Am Ende hatte Casimir sein Versprechen gehalten, auch wenn Addy sich gewünscht hätte, es wäre anders gekommen. So sehr hatte sie es sich gewünscht.

Sie nahm ihn wahr, in allem, was sie umgab, konnte fühlen, wie seine Lebensenergie durch die Fasern jeder Pflanze floss, durch den Boden unter ihren Füßen und den Wind in ihrem Haar. Sogar durch sie selbst.

Manchmal machte sie sich sogar Hoffnung. Dann bildete sie sich ein, dass zur Zeit seines Todes die Verschmelzung der Sphären schon weit genug vorangeschritten war, um es ihm zu erlauben, lebend zurückzukehren. Dann stellte sie sich vor, Terra Mater hätte Gnade gezeigt. Genau wie sie auch Ayumi, Younes, Liam und ihr gegenüber gnädig gewesen war und sie zurück ins Reich der Lebenden geschickt hatte.

Sie bildete sich dann ein, er würde hinter ihr stehen, sie würde sich zu ihm umdrehen und in seine Augen aus flüssigem Gold blicken können.

Insgeheim wusste sie, dass er nicht zurückkehren würde. Dass er das auch dann nicht täte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Und das konnte sie, auch wenn es wehtat, verstehen.

Er hatte sie geliebt wie sie ihn, und weil dieses Gefühl ein Teil von ihm und er ein Teil von allem geworden war, konnte Addy ihn spüren. Dafür war sie dankbar. Dafür, dass er immer bei ihr und in allem sein würde, was sie umgab.

Und so war es am Ende genauso gekommen, wie er es versprochen hatte. Er war bei ihr und sie würde ihn nie vergessen. Niemals.

Sie hielt die Augen fest geschlossen und es kam ihr vor, als stünde er ihr gegenüber, würde sie sanft anlächeln und auf die Stirn küssen. Fast schon konnte sie ihn vor sich stehen sehen, spürte seine Wärme, als wäre er der Sonnenschein und hob unwillkürlich die Hand, um ihn zu berühren. Addy schlug die Augen wieder auf und für einen Moment – gefangen zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit – war er da. Genau vor ihr. Das goldene Leuchten seiner Augen erwärmte ihr Inneres, die Zeit schien stillzustehen und selbst ihr Herzschlag setzte aus.

Sie wagte es nicht, sich zu bewegen, hielt noch immer die Hand erhoben und versuchte, seine Haut unter ihren Fingerkuppen zu spüren, wie sie zuvor die zarten Blütenblätter gefühlt hatte. Und dann war sie es, die lächelte. Weil man ihr alles nehmen konnte, aber nicht die Erinnerung – nicht die Ewigkeit, die sich zwischen den Bruchteilen der Sekunden verbarg.

Der Moment verstrich. Die Gestalt, die sie zu sehen geglaubt hatte, verschwand, als hätte es sie nie gegeben, war nichts weiter als die Reflektion von Sonnenschein auf im Wind tanzendem Blütenstaub, aber was ihr blieb, war das Gefühl. Das Gefühl, ihn immer bei sich zu tragen. Tief in ihrem Herzen.

»Addy?«, rief Sarah ihr zu.

Die Wirklichkeit strömte wieder auf sie ein. Sie schaute sich um und entdeckte Sarah nicht weit entfernt. Sie, Addy und ein paar andere hatten sich über das Feld verteilt und suchten nach Überbleibseln der alten Zivilisation. Nicht alles war von Terra Mater zerstört worden. Nur das, was giftig und schädlich war. Einiges von dem, was sie fanden, war gut zu gebrauchen, um weitere Häuser zu errichten oder Werkzeuge zu bauen.

Sarah war in die Hocke gegangen, hielt etwas in den Händen, und während Addy auf sie zukam, richtete sie sich auf.

»Was hast du da?«

Mit den Fingern strich Sarah über eine verkohlte Metallplatte und legte unter einer dicken Rußschicht grüne Linien frei. Die Farbe war verblasst und allein durch Sarahs Versuch, die Beschriftung freizulegen, wurde sie größtenteils verwischt. Dennoch erkannte Addy sofort, worum es sich handelte. Es war das Firmenlogo von Elekreen.

»Stand hier …?«, begann Sarah verwundert.

»Das Kraftwerk? Ich denke schon.« Addy schaute sich um und auch Sarah ließ ihren Blick über die Gegend schweifen.

Es schien erst, als würde nichts darauf hinweisen, dass sie gerade am Rand von Birmingham, auf den Überresten eines eingestürzten Kraftwerks standen. Doch bei genauer Betrachtung erkannte Addy, dass die hüglige Landschaft, in die das Blumenfeld mündete, in Wirklichkeit die Ruine verfallener, völlig von der Natur verschluckter Hochhäuser war.

Sarah trat einen Schritt vor, senkte das Schild und der Wind ließ ihr offenes Haar flattern, während ihre Augen wie gebannt an der blühenden, von Lichtern und Farben erfüllten Landschaft hafteten.

»Merkwürdig, aber das so zu sehen … Das macht es so real, findest du nicht?« Gedankenversunken schaute sie zu den überwucherten Ruinen. »Nach allem, was geschehen ist, habe ich es die ganze Zeit trotzdem nicht wirklich geglaubt. Irgendwie dachte ich, es würde irgendwann wieder alles werden wie zuvor. Aber das hier ist endgültig. Kein Traum, aus dem man erwacht. Es ist das Ende, nicht wahr?«

Addy trat neben sie, schloss für einen Moment die Augen und nahm den Duft der neuen Welt tief in sich auf. Der Duft nach grenzenloser Freiheit – nach Zuhause.

Es war so ruhig. Kein Lärm, keine Enge. Kein unentwegtes Verrinnen der Zeit, die einem durch die Finger rieselte. Dieser Tag und jeder, der darauf folgte, war der erste einer Zukunft, die sie neu gestalten konnten.

»Nein«, widersprach sie schließlich und lächelte. »Es ist der Anfang.«