HEILIGE UND FISCHKÖPFE
Rom, 1599
Die Ewige Stadt verschlingt alles, was ihr in den Rachen geworfen wird.
Bei Sonnenaufgang drängen sich durch ihre Tore Karawanen von Händlern und Bauern mit Herden Vieh: Rinder mit breiten Hörnern, müde und heiser von ihrer Reise, höckernasige Schafe mit stoppelig frisch geschorenen Flanken. Selbstgerecht schnatternde Gänse marschieren aufrecht und zuversichtlich in den Tod, Karren und Bütten quellen über von Gemüse und gefährlich duftenden Früchten, die bald auf den Märkten angeboten werden.
Die unersättliche Stadt aber frisst auch die Menschen, die in sie hineinströmen. Sie suchen nach ihrem Glück oder nach einer Schale Suppe, aber die meisten von ihnen werden stetig von knochenbrechender Arbeit aufgerieben, sterben an Wundbrand und Seuchen und Hunger. Oder sie enden im Tiber, geben einfach auf.
Die Stadt tritt hart auf die Kehlen der Gescheiterten. Während fromme Stiftungen den Ärmsten zumindest einen Teller Innereien, Rinderfett und Bohnen geben, wird jede Bestrafung mit einem großen Spektakel vor aller Augen zele-
briert. Ihre Züchtigungen sind Hochämter der Gewalt. Verurteilte werden gebrandmarkt und mit Ochsenziemern ausgepeitscht, aufgehängt und ertränkt, von Gerüsten gestürzt oder, in einen Sack eingenäht, in den Fluss geworfen, vom Henker erwürgt oder auf dem Campo dei Fiori den Flammen überantwortet. Während ihre Körper gemartert werden, murmeln und flüstern und singen tausend Stimmen für die Errettung der verlorenen Seelen, verloren in riesigen Gewölben, bei dem Licht weniger Kerzen und vor Altären, die Leid und Verklärung in riesigen Gesten durch das Dunkel glosen lassen.
Die Stadt atmet Gebet, Bratgeruch und Pestilenz. Sie frisst Vieh und Talente, abtrünnige Mönche und Tagelöhner, professionelle Intriganten, Messerstecher und leichte Mädchen. Überall wird gekocht und gebraten, geschnitten und gehackt, die Gassen sind durchzogen vom Aroma der Garküchen und Tavernen, der Märkte und Feuerstellen. Vom ärmsten Bettler bis zu den Mitgliedern des päpstlichen Hofs müssen sie alle essen, sich vollstopfen, prassen, genießen und schlingen. Hunderttausend Schlünde müssen täglich gestopft werden.
Jeden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, wird die Piazza Navona von Waren und Marktweibern, Fischhändlern und Fleischern, Blumenverkäufern, Taschendieben und Gelegenheitshuren überschwemmt. Zwischen dem weißen Marmor und dem in der Morgensonne golden aufglühenden Stein der Fassaden bauen sie ihre Stände auf, eine Orgie für die Augen, ein Angriff auf die Nase, eine wogende See von Rufen und Gesang, Streit und Verführung, die an die Ohren brandet. Bald drängen sich Menschen Körper an Körper an den provokant aufgehäuften Waren vorbei. Ein Huhn rennt gackernd um sein Leben, verfolgt von einer fluchenden Marktfrau mit einem Beil. Es flüchtet sich unter die Bretterbühne des Straßentheaters, auf dem Schausteller aus Venedig eine stumme Komödie spielen, mit Gesten und absurden Masken, mit Arschtritten und in Röcken, die hoch in die Luft geschleudert werden. Ein paar Dutzend Männer und Frauen stehen da und begleiten das Schauspiel mit Johlen und Pfeifen, ein Mädchen mit großen Augen bettelt um Geld für die Truppe. In diesem Moment taucht ein Metzgerlehrling dem Huhn hinterher unter die Bühnenbretter, das Gerüst wackelt, während er erfolglos versucht, das Tier am Hals zu schnappen, oder wenigstens am Bein. Wütendes Gegacker unter den Füßen der Komödianten lässt das Publikum laut lachen.
Die Stände entlang der Häuserfronten bersten vor Farben, Formen und Gerüchen, quellen über mit dem Reichtum der sonnenbeschienenen Hügel, der Berge und der See: Schwarzblaue Feigen, weich und im Inneren rot wie die Sünde, stachlige Artischocken mit ihrem Panzer aus grünlich violetten Blättern, gefährlich glänzende Auberginen, große, mit blassen Rosen verzierte Haufen Bohnen, hell grün; Haselnüsse und Walnüsse, Kürbisse voller Warzen, Körbe, die mit Früchten überquellen, deren Farben eine ganze Palette füllen würden: Pfirsiche mit weicher, haariger Haut, dramatisch rot und grün getigerte Äpfel, tiefschwarz glühende Trauben in hölzernen Bottichen und Berge von Kohlköpfen und Zwiebeln. Auf dem Tisch eines Schlachters schimmert zwischen Fleisch und Innereien ein roter abgehäuteter Kalbskopf, grimmig umsurrt von Fliegen. Ein halbes Schwein hängt von einem Haken am Gerüst, Würste und Nieren und Lebern und große Brocken Fleisch verströmen ihren blutig-metallenen Geruch.
Sander wird dieser Geruch immer an das erinnern, was er damals gesehen hat, als er ein Kind war. Auch der Fisch erinnert ihn an seine weit entfernte Heimat, aber das Mittelmeer beherbergt andere und seltsamere Geschöpfe als die Nordsee: Tintenfische mit erschlafften Armen, der halbe, tonnengleiche Körper eines tiefrot aufgeschnittenen Thunfisches, Sardellen, die mit vollen Händen genommen und abgewogen werden; silbrig glitschige, glänzende Körper, gleißend metallische Köpfe mit rund starrenden Augen, mit breiten Messern vom Rumpf gehackt; Regenbogen, die sich in den Schuppen der geschmeidigen Leiber widerspiegeln, seltsame Kreaturen, deren Namen er nicht kennt.
Aber nichts, nichts von all diesen wunderbaren und un-
züchtig aufgetürmten und umeinander geschlungenen Körpern, kein quecksilberner Fischleib, keine violette Schafsniere und keine prall gelbe Zitrone kann sich mit dem Leuchten der Blumen messen, die hier laut angepriesen werden – zu viele Farben und Formen und Arten, um sie voneinander
zu unterscheiden, große Körbe und Tonkrüge voller tod-
geweihter Schönheit, von kleinen, wilden Veilchen bis hin
zu monströs anmutenden Anemonen, Ranunkeln, Rosen zart wie Kinderhaut und dem verwirrend intensiven Blau der Iris –
»Ist das deine Arbeit?«, fragt eine Stimme.
Aufgeschreckt aus seinem Tagtraum, blickt Sander auf. Vor ihm steht ein bärtiger Mann, gut gekleidet, mit einem schwarzen Umhang, einem breiten, glänzenden weißen Kragen und zornigen Augen. Er hält eines der Bilder in der Hand, die Sander auf den Stufen der Treppe zum Kauf anbietet. Es sind keine Kunstwerke. Souvenirs für Pilger und fromme Witwen, nicht mehr als ein paar Kupfermünzen wert.
Der Mann hält eine Jungfrau mit Kind, die Sander mit einer Girlande aus Frühlingsblumen umrahmt hat. Er würde diese Täfelchen besser verkaufen, wenn er Geld für farbige Pigmente hätte. So sind sie nur Ruß und Bleiweiß und etwas rote Erde, mit sparsam gesetzten Tupfern aus leuchtendem Rot und Blau, die er auf der Reise mit sich gebracht hat, fast drei Monate Fußmarsch mit einem Bündel auf dem Rücken, Hugo immer dabei, drei Schritte hinter ihm. Jetzt, nach Mo-
naten ohne Arbeit, gehen auch diese Vorräte zu Ende.
»Natürlich ist das von mir«, antwortet er dem Mann.
»Du kommst aus Flandern?«, fragt der Mann.
»Geht es dich was an?«, sagt Sander, misstrauisch.
»Du hast in Flandern gelernt?«
»Willst du es kaufen oder ein Schwätzchen halten?«
Der Mann ist es nicht gewöhnt, dass man so mit ihm spricht. Er ist sichtlich wütend über diese freche Antwort, beherrscht sich aber. Der da vor ihm hockt, umgeben von seinen Bildern, ist arm, aber unterwürfig ist er nicht. Er kommt offensichtlich aus dem Norden, spricht nur gebrochen Italienisch. Auch seine Kleider sind nicht nach der hiesigen Mode, und sie sind schmutzig und zerrissen, wie die Kleider eines Menschen, der keine feste Unterkunft hat und keine Möglichkeit, seine Hemden zu waschen. Er mag um die dreißig Jahre alt sein, hat struppiges, braunes Haar und einen Bart. Hinter ihm lungert ein Junge herum, blond und mit kreideblasser Haut. Der Alte hält ihm das Bild hin.
»Was willst du dafür?«, erkundigt er sich.
»Zehn Baiocchi.«
»Ich gebe dir fünf!«
»Dann leg es gleich zurück. Das ist der Preis für ein warmes Essen für mich und meinen Bruder.«
Sander sieht dem Mann direkt ins Gesicht. Er hat Hunger. Seit sie in Rom angekommen sind, essen sie das, was nach Markttagen liegen geblieben ist und in großen, stinkenden Haufen zusammengekehrt wird, um die sich die Bettler streiten. Nur wenn Sander eines seiner Bilder verkauft, können sie sich eine anständige Mahlzeit in einem Wirtshaus leisten, manchmal sogar mit Wein. Selten, wenn der Hunger zu groß ist, gehen sie zu einem der Klöster, wo die Ärmsten einen Teller Suppe kriegen. Ab und zu gibt ihnen ein mitleidiger Wirt etwas zu essen, für Gottes Lohn, wie er sagt. Sander weiß, dass Lohn und Strafe nicht vom Himmel kommen, aber er ist dankbar für Bohnen mit etwas Speck oder Fisch mit Reis, dankbar dafür, mit vollem Bauch einschlafen zu können. »Der Deutsche und sein Narr« nennt der Wirt die beiden, obwohl er nicht deutsch ist und Hugo nicht schwachsinnig. Er spricht kein Wort, ist häufig trotzig in sich gekehrt und dabei schön wie ein ernster Engel mit seinem blonden Haar und seinen knabenhaften Schultern. Oft hat Sander ihn gemalt, als Cherub, als Johannes der Täufer, als heiliger Sebastian, als lüstern greinender Amor.
Der Kunde wirkt einen Moment lang unschlüssig. Er ist neugierig auf die Geschichte dieses Fremden, der mit so offensichtlicher Meisterschaft malt und doch hier auf den Kirchenstufen Souvenirs verkauft.
»Suchst du Arbeit?«
»Was für Arbeit?«
»Komm morgen in meine Werkstatt, dann können wir reden.«
»In deine Werkstatt? Wohin denn? Wie heißt du?«
Zum ersten Mal lächelt der Kunde für einen Augenblick.
»Virgilio Nobili, zu Euren Diensten!«, intoniert er mit einer tiefen, ironischen Verbeugung.
Sander hat diesen Namen schon gehört, hat in mehreren Kirchen schon Arbeiten von Nobili gesehen. Vor ihm steht einer der bekannteren Maler Roms; sicherlich kein Genie, aber ein Meister, der sich mit Altären und Darstellungen von grausam gefolterten Märtyrern und halb nackten griechischen Nymphen und Göttern einen Namen gemacht hat. Seine Tochter, sagt man, sei noch begabter als er selbst. Sie arbeitet in seiner Werkstatt.
»Mein Name ist Sander«, entgegnet er, »aber hier nennen sie mich Sandro.«
»Ich erwarte dich morgen, Sandro.«
»Gut, ich werde kommen.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, dreht der Alte sich um und geht.
»He! Das Bild!«, ruft ihm Sander hinterher.
»Kannst du morgen mitbringen!«, antwortet Nobili über seine Schulter.
»Aber wohin?«
»Gleich bei der Piazza di Popolo! Frag dort einfach. Alle wissen, wo meine Werkstatt ist!«
Irgendwo protestiert schrill ein Schwein, das von einem Schlachter beim Hinterbein gepackt und zu seinem Tod gezerrt wird. Sander sieht sich nach seinem Bruder um, der erwartungsvoll lächelt.
»Geduld!«, sagt er. »Der alte Geizhals hat noch nicht gezahlt. Speck und Bohnen wird es heute Abend wohl nicht geben.«