XX

DER HINTERHOF

Schon bald hält die Krankheit den Kardinal Don Pedro Guzmán wieder im Würgegriff. Die Konvulsionen beginnen aufs Neue, die Geschwüre brechen auf. In aller gebotenen Eile muss er dafür sorgen, dass das heilige Tribunal sich gegen andere Interessen verteidigen kann. Der Kardinal von Neapel, der Hofstaat des Vizekönigs, der Vatikan – es gibt so viele Hände, die gern mitmischen würden und nach seiner Macht greifen.

Der Kardinal kennt seinen Sekretär Don Alfonso seit Langem, und er vertraut ihm, aber Alfonso ist ein trockener, pedantischer Mensch. Er versteht dieses Babel noch weniger als Don Pedro selbst. Er ist ein Mensch der Schreibstube. Die anderen in seinem Umkreis sind nicht seine Leute. Er hat sie geerbt, mit Haus und Amt. Sie arbeiten nach ihren eigenen Gesetzen. Die meisten von ihnen werden von irgendwelchen Leuten bezahlt, die sich im Hintergrund halten. Nur Maestro della Molina steht außerhalb.

Don Pedro muss eine rasche Entscheidung treffen.

»Molina«, sagt er, »ich habe einen Auftrag für Euch.«

»Was soll ich tun?«

»Mit meiner Gesundheit steht es nicht zum Besten. Ich will, dass Ihr Euch gemeinsam mit Don Alfonso um die An-
gelegenheiten des Palazzos kümmert, wenn ich dazu nicht imstande bin.«

»Aber ich …«

»Maestro! Ich habe meine Entscheidung gefällt.«

Sander sieht den Kardinal so aufmerksam an, taxiert sein Gesicht, als wolle er eine Skizze zeichnen. Es steht schlechter um ihn, als er öffentlich zugibt. In seinen Privaträumen sieht Sander ihn häufig vor Schmerzen zusammengekrümmt, und er sieht die Geschwüre, die sich auf seinem Körper ausbreiten.

»Eine Krankheit, eine Prüfung, die mir der Allmächtige auferlegt hat«, erklärt der Kardinal, »sie kommt in Schüben, seit Jahren schon, und in der Zeit dazwischen geht es mir ausgezeichnet, dem Herrn sei Dank. Dies ist der Anfang eines Schubes, glaube ich, und er ist rascher gekommen als der vorige und scheint mir auch stärker zu sein. Während er mich in den Fängen hat, kann ich mich kaum sehen lassen. Es ist zu anstrengend, es erschreckt die Menschen, und es schürt Gerüchte. Ich brauche ein Sprachrohr. Ich brauch euch, della Molina!«

»Eure Eminenz sind zu gütig.«

»Ich weiß ganz gut, was ich sage und wem ich mein Vertrauen schenke«, entgegnet Don Pedro brüsk, der keine Zeit für Floskeln hat.

»Gut«, sagt Sander bedächtig, »dann muss ich wissen, womit ich umgehe. Ihr leidet an der französischen Krankheit, nehme ich an?«

Wut blitzt auf in den Augen des Kardinals.

»So nennt man es, ja. Auch ich war nicht immer ein Mann der Kirche, ich war ein junger Mann!«

»Das, Eure Eminenz, geht mich nichts an. Ich muss es nur wissen.«

»Woraus habt Ihr das geschlossen, Maestro?«

»Ich habe diese Zeichen schon bei anderen gesehen, und dann … Eure Verehrung von Sankt Vitalis – ist er nicht der Schutzheilige derer, die an ihrer Lust krank geworden sind?«

»Ihr erstaunt mich! Aber Ihr dürft niemandem etwas verraten, nichts!«

»Die Leute werden nach ein oder zwei Tagen anfangen, Fragen zu stellen.«

»Ich befehle Euch und allen anderen, rigoros zu schweigen. Der Erste, der etwas ausplaudert, wird den Tag seiner Geburt verfluchen. Niemand darf ein Sterbenswort darüber sprechen.«

»Wenn Ihr es erlaubt: im Gegenteil, Eure Eminenz.«

»Was meint Ihr?«

»Man wird darüber reden. Umso mehr, wenn Ihr schweigt. Die Leere, die Eure fehlende Antwort hinterlässt, wird
mit Gerüchten und Vermutungen und Lügen und mit Irrsinn aller Art gefüllt. Wir müssen reden, und wir werden reden.«

»Über meine Krankheit?«

»Über Euren bemitleidenswerten Zustand, geschwächt von Jahrzehnten des Dienstes an der Kirche und jetzt besonders durch eine Zeit des persönlichen Fastens, um den Herrn um Vergebung zu bitten, wegen der verkommenen Zustände in Seiner Kirche hier, die nicht mehr würdig ist, Sein Haus genannt zu werden. Man wird Euch bewundern, vielleicht wird man Euch sogar lieben!«

»Weil ich krank bin?«

»Weil Ihr für das Volk dieses Leiden auf Euch nehmt, so wie Ihr eine Frau aus dem Volk freilasst, wenn sie von eifersüchtigen Nachbarn als Hexe denunziert wird, so wie Ihr bei der Kirche Santa Agata eine große, tägliche Armenspeisung organisiert, die Ihr aus eigener Tasche zahlt.«

»Tue ich das?«, fragte der Kardinal.

»Ich werde dafür sorgen, dass Ihr es tut.« Sander lächelt. »Ihr braucht den Rückhalt der kleinen Leute. Wenn Euch das Spanische Viertel und die Innenstadt gehören, dann kann niemand Euch herausfordern. Dafür kommt Euer Zustand gerade recht. Während die Krankheit besonders wütet, werden wir alles sorgsam ins rechte Licht setzen, und Ihr werdet Euch nur wenig und für kurze Zeit präsentieren, genug, um die Menschen von Eurem Zustand zu überzeugen. Wenn ein hoher Kirchenmann selbst solche Opfer auf sich nimmt, um den Körper der Kirche zu reinigen, dann kann der Klerus sich nicht gegen ihn stellen, dann wird die Bevölkerung dafür sorgen, dass die Erneuerung eine Chance hat, dass Posten mit den richtigen Leuten neu besetzt werden können, dass die ständigen Saufgelage der Ordensbrüder zumindest nicht mehr regelmäßig von der Stadtpolizei aufgelöst werden müssen.«

»Eine kluge Idee, diese Armenspeisung! Veranlasst alles Notwendige. Und wenn Ihr sprechen müsst: vorsichtig!«

»Ich werde in allem Vorsicht walten lassen«, beteuert Sander, zum Torhüter der Kardinalsmacht befördert.

Es ist schon spät, als sich Sander auf den Weg nach Hause macht. Mit seinen Gedanken ist er bei der kleinen Maddalena. Was soll aus ihr werden? Wo soll sie hin? Sie kann nicht lange bei zwei Junggesellen leben. Die Leute reden. In ein Kloster oder ein Waisenhaus darf sie niemals kommen. Die meisten Kinder dort leben nicht lange. Und für die anderen sind die Aussichten sehr trübe: Hunger, Schläge, Demütigung und dann, ohne Mitgift, eine triste Existenz als Nonne, als Wäscherin oder als Hure oder als Frau von irgendeinem Kerl, der sie trotzdem nimmt und dem sie ausgeliefert ist. Nein. Dieses Kind soll eine Zukunft haben. Er wird sie erziehen lassen wie einen Jungen. Sie soll lesen und schreiben lernen, Wissen über die Welt erlangen.

Etwas in seinem Inneren krampft sich zusammen, wenn er an ihr Gesicht denkt, an diese großen, dunklen Augen, eine Schönheit, die noch unvollendet ist. Diese Stadt verschlingt solche Kinder. Die Straßen sind voller Banden von Jungen und Mädchen, die für eine warme Mahlzeit alles tun würden. Sie machen Botengänge und stehlen Geldbeutel, tragen Lasten, die größer sind als sie selbst, betteln am Eingang der Kirchen, sofern sie nicht von anderen Bettlern vertrieben werden, lassen sich von Reisenden mit aufs Zimmer nehmen.

Da, am Straßenrand, lungern einige von ihnen herum, der Kleinste kann nicht älter sein als fünf, aber er hat das Gesicht eines Greises. Er streckt die Hand aus, wenn jemand an ihm vorbeigeht, aber niemand gibt ihm etwas. Der Junge hinter ihm trägt eine zerlumpte Jacke und eine Kappe. Er wiegt seinen Oberkörper vor und zurück und hat die Augen geschlossen. Das Mädchen neben ihm schläft, den Mund offen, wahrscheinlich ist sie betrunken.

Die meisten dieser Kinder verschwinden irgendwann, kommen eines Morgens nicht mehr aus ihrem Kellerloch hervor, werden aus dem Hafen gefischt, husten sich die Seele aus dem Leib oder kriegen ein Messer zwischen die Rippen. Sander weiß, wie es ist, nichts zu haben und niemanden, der Zuflucht bietet. Der Anblick dieser Kinder ist ihm unerträglich, und er hält sich an der Idee fest, dass er zumindest ein Kind davor retten kann, so zu enden, ein kleines Mädchen, das ihm vom Schicksal anvertraut wurde.

»Sander van der Molen!«, brüllt plötzlich die Stimme durch die Nacht. »Van der Molen! Da ist er ja, der Lump! Der Schuft! Die Ratte!«

Sander zuckt zusammen, stolpert, bleibt stehen. Er kennt diese Stimme. Sie gehört dem Mörder seiner Geliebten, dem grausamen und talentlosen Säufer, der ihm alles geraubt hat. Er dreht sich um.

Virgilio Nobili steht vor ihm; abgerissen, um Jahre ge-
altert, das Gesicht vor Zorn verzerrt. Sein Hals scheint nur aus Sehnen zu bestehen, das Gesicht nur aus einem weit aufgerissenen Maul, das Drohungen und Beleidigungen bellt. Die Leute bleiben stehen, starren die beiden Männer an, die sich mitten auf der Straße gegenüberstehen.

Schritt um Schritt weicht Sander zurück. Er hört, was das Maul da vor ihm schreit, aber es ergibt keinen Sinn für ihn, er hört die Worte, aber in seinem Inneren tost ein Wasserfall der Erinnerungen, die widerliche Fratze, die in ihm immer die Erinnerung an Diana auslöst, an eine Hoffnung, auf die er kein Anrecht hat, an einen waghalsigen Traum von Glück, der zerbrochen ist, an das Lächeln eines geliebten Mundes, eine Haut wie atmender Samt, an heimliche Blicke und an ihre Schönheit, wie sie im Bett der alten Witwe auf ihm thronte, an ihre Hand in der seinen, an den Ton ihrer Stimme, als er sie das letzte Mal gesprochen hat, an ein Kind, das niemals lebte, an Brandgeruch und Zerstörung, an das Gesicht der Göttin und das der Geliebten, die ineinander verschwimmen und von den Flammen aufgefressen werden. Dann, aus diesem Feuer der Erinnerung, kommt der Zorn.

»Haben sie dich früher freigelassen? Warum haben sie dich nicht ins Meer geworfen?«

»Ha!« Virgilio lacht bitter. »Du hast mich nicht zerstört. Ich habe noch mächtige Freunde! Sie haben nicht geruht, bis ich begnadigt wurde! Dich Wurm werde ich zertreten, und dann werde ich im Triumph nach Rom zurückkehren! Stell dich wie ein Mann!«

Unter seinem Mantel zieht Virgilio einen Dolch hervor. Sander trägt selbst einen Dolch, halb Werkzeug, halb Waffe. Er sieht sich um, seine Hand greift instinktiv nach dem Griff, der aus seinem Gürtel ragt, aber in diesem Moment passiert etwas Seltsames. Er sieht Maddalena vor sich. Was soll aus ihr werden, wenn er sie nicht mehr schützen kann? Und was aus Hugo, hier, in der Fremde?

Sander macht einen Schritt zurück. Noch ist er nicht weit von Guzmáns Palast.

»Na? Bist du feige, wenn du dich nicht hinter deinen Freunden verstecken kannst? Kannst du überhaupt umgehen mit einer Klinge?«

Sander weicht weiter zurück.

»Hab ich es doch gewusst! Er hat keine Eier in der Hose, der feine Herr!«

Ein Fuhrwerk kommt die Straße entlanggefahren und trennt die beiden Männer voneinander. Sander nutzt die Gelegenheit, um in einer Seitengasse zu verschwinden.

»Ich kriege dich!«, brüllt Virgilio, als er merkt, dass Sander geflohen ist. »Monatelang habe ich gewartet auf diesen Moment, jetzt kommt es auf einen Tag nicht an! Ich kriege dich! Ich weiß, wo du wohnst! Nie wirst du vor mir sicher sein! Das nächste Mal, wenn ich dich sehe, schneide ich dir die Kehle durch wie einem Schwein! Du wirst nie mehr sicher sein. Bei jedem Schritt wirst du dich umsehen müssen, denn ich, ich werde da sein und auf dich warten und werde dich verbluten lassen, dir alle Knochen brechen!«

Sander rennt. Besser ein lebender Feigling, der sich um seine Leute kümmern kann, als ein toter Held. Erst kurz vor dem Palast bremst er seine Schritte. Dann ist er in Sicherheit, hinter der bewachten Pforte. Das Blut hämmert ihm in den Ohren, und es dauert eine Weile, bis er die Welt um sich herum wieder ganz wahrnimmt. Erst jetzt hört er den Tumult auf der Straße und sieht zwei Wächter, die Virgilio daran hindern, in den Hof vorzudringen.

»Ich kriege dich, du Stück Dreck!«, ruft er von der Straße aus. »Ich kriege dich! Ich werde auf dich warten! Ich schlage zu, wenn du es am wenigsten vermutest! Ich werde meine Rache nehmen!«

Dann ist es still. Der alte Pförtner sieht mitleidig zu Sander herüber. Der wartet einige Zeit und macht sich dann vorsichtig auf den Weg nach Hause. Immer wieder sieht er über seine Schulter. Er weiß, dass Virgilio seine Drohungen wahr machen will und auch, dass er nicht weit entfernt sein kann und dass er ihn zwar abschütteln kann in diesen engen Straßen, aber dass er morgen wieder da sein wird und den Tag danach und den danach. Der Mann, der seine Geliebte zum Tode verurteilt hat, will ihn tot sehen.

Sander denkt an Hugo, an Maddalena, an die zerbrech-
liche Schönheit der Hoffnung. Das nächste Mal wird er nicht wegrennen, die Zeit der Flucht muss endlich vorbei sein. Er kann sich nicht vorstellen, dass er vom Schicksal dazu be-
stimmt ist, ein solches Duell zu verlieren. Er ist kein Fechter, in dieser Hinsicht ist ihm Virgilio mit seiner Erfahrung bei Prügeleien und Straßenkämpfen sicher überlegen, aber er ist in einem Land aufgewachsen, in dem Krieg herrschte. Es waren immer Waffen da und Männer, die wussten, wie man sie gebraucht. Später haben Jahre der Wanderschaft und der Gefahren Sander das Kämpfen beigebracht, mit Fäusten, Knüppeln. Aber der Kampf mit der blanken Waffe ist eine andere Sache. Da braucht es Übung, Technik. Und es widert ihn an. Er hat genug Blut gesehen in seinem Leben.

Sander besitzt einen Degen, aber er trägt ihn kaum jemals, höchstens zu offiziellen Anlässen am Hof des Kardinals oder des Vizekönigs. Ab morgen wird er ihn tragen, bis diese Bedrohung beseitigt ist. Er ist kein Adeliger und dürfte eigentlich in der Öffentlichkeit kein Schwert tragen, aber
als Berater des Kardinals wird ihm niemand dieses Privileg streitig machen, und Seine Eminenz blickt wohlwollend auf einen gewissen Stolz unter den Mitgliedern seines Haus-
haltes.

Er braucht Zeit zum Nachdenken, Zeit, seinen Zorn zu kühlen. Die Straße ist voller Markthändler und Tagelöhner und Bettler und Träger mit Körben und Ballen und Kisten und jungen Mädchen und Nonnen, die zu langsam gehen. Ungeduldig drängelt Sander sich an einem Weinverkäufer vorbei, der ihm laut hinterherschimpft, und stößt fast mit einem hoch beladenen Esel zusammen. Nur einige flackernde Fackeln an den Hauswänden erleuchten die schwarzen Straßen.

Der Weg vom Palazzo zur Werkstatt ist nicht weit, kaum mehr als eine Viertelstunde. Diesmal aber meidet Sander die großen Straßen und Plätze, nimmt kleine Gassen, macht Umwege, verirrt sich in den Straßen und findet endlich den Weg wieder. Erst nach einer Stunde kommt er an.

Vor Sanders Werkstatt, im unsteten Schein der Lampe, die er im Fenster brennen lässt, um Diebe abzuschrecken, steht Virgilio, aufrecht und unbeweglich wie eine Statue. Sander kann ihn schon von Weitem sehen. Auch Virgilio hat ihn bemerkt.

»Die Ratte kommt ins Nest!«, ruft er. »Aber sie wird das warme Nest nicht mehr sehen!«

Sanders rechte Hand umklammert den Griff seines Dolchs. Soll er jetzt kämpfen? Bei Dunkelheit? Während er noch unschlüssig dasteht, zieht Virgilio einen Degen, den er sich in der Zwischenzeit besorgt haben muss. Sander weiß: Er kann sich gegen so eine Waffe nicht verteidigen, und in der engen Straße kann er auch seine Tür nicht erreichen. Er dreht sich um und beginnt wegzulaufen, sein Verfolger hinterher. Sander rennt um sein Leben. Er flieht ins Spanische Viertel hinein, vielleicht kann er Virgilio dort irgendwo loswerden in der Dunkelheit.

Bald hat Sander selbst die Orientierung verloren. Kleine, scheinbar identische Straßen mit aufgehängter Wäsche und Kindergeschrei und Menschen, die auf den Stufen sitzen, wechseln einander in rechten Winkeln ab, aber sie enden überraschend, biegen um, an Türen vorbei, die zu Innen-
höfen führen.

Sander ist zuerst gerannt und dann gegangen, schon lange hört er Virgilios Schritte nicht mehr hinter sich. Unschlüssig steht er in einem Innenhof. Einige Hühner gackern empört um seine Füße herum, als er sie aus dem Schlaf aufscheucht.

»Hab ich dich endlich!«, sagt plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Virgilio steht in der Toröffnung. Langsam, als wolle er den Moment auskosten, zieht er seinen Degen.

»Vor Gericht bringen kann ich dich Feigling nicht in Neapel für ein Verbrechen, das in Rom begangen wurde, aber ab-
stechen kann ich dich auch hier!«

Sander will etwas antworten, aber da stürzt sein Verfolger sich schon auf ihn, und er sieht das Blitzen der Klinge im Mondlicht und duckt sich unter dem gewaltigen Hieb, der über seinen Kopf wegzischt. Mit einer schnellen Bewegung zieht Sander seinen Dolch und macht einen Schritt nach hinten, aber er stolpert über einen Korb, der dort liegt, fällt und verliert die Waffe aus seiner Hand.

Sander begreift, dass er diesen Angriff nicht überleben wird, nicht überleben kann, dass Virgilio in seinem Hass weiß, was er tut, und alles tun wird, um ihn in seinem Blut liegen zu sehen. Noch ein Hieb blitzt im Mondlicht durch die Luft, noch einmal kann er ausweichen.

Der Mond leuchtet jetzt hell und lässt ihm kein Versteck. Er weicht zurück, zwischen die Laken und Kleider, die hier zum Trocknen aufgehängt sind, aber Virgilio zerteilt die Wäscheleine mit einem einzigen Hieb seines Degens, sodass die Stoffe kurz flattern und dann reglos am Boden liegen wie Opfer eines Massakers. Sander sucht nach irgendetwas, um sich zu verteidigen. Er bückt sich nach einem Stein, aber in diesem Moment greift Virgilio an und wirft ihn auf den Boden. Sander liegt da, auf dem Rücken. Im Mondlicht ist Virgilios Gesicht milchweiß und von einer schrecklichen Entschlossenheit gezeichnet.

Virgilio steht vor ihm, in einer Hand den Degen, den er direkt auf Sanders Kehle richtet, in der anderen einen Dolch.

»Du kannst ein Gebet sagen, es wird dein letztes sein. Mach schnell!«

Sander sieht auf die vielen Fenster im Hof um sich herum. Eins nach dem anderen schließen sich plötzlich die Fensterläden mit einem hastigen Klappen. Es wird still im Hof, sogar die Hühner sind ruhig geworden. Sander richtet sich auf, kniet vor seinem Scharfrichter im weichen, stinkenden Schlamm.

»Mach schon!«

Eine Wolke schiebt sich vor den Mond. Für einen Augenblick wird es dunkel. Mit einer einzigen Bewegung packt Sander eins der schlafenden Hühner beim Flügel und schleudert es Virgilio ins Gesicht in einer Explosion von Federn, Flattern und Gegacker, der ganze Hof bricht in Tumult aus, und Sander nutzt den entscheidenden Moment. Er schnellt hoch, wirft sich auf seinen Angreifer, langt mit der linken Hand nach dem Schwertarm, bekommt den Unterarm zu fassen und hält ihn fest.

Sander beißt in die Hand, die den Degen umklammert hält, und Virgilio schreit auf vor Schmerzen. Er lässt den Degen fallen, und Sander wirft sich auf den Boden, um ihn aufzuheben, aber Virgilio lässt ihn nicht, sie verkeilen sich ineinander und fallen gemeinsam in den Dreck, Virgilio mit seinen Händen um Sanders Kehle, Sander mit einer Hand unter Virgilios Kinn und mit der anderen nach dem Degen tastend. Dann bekommt er ihn zu fassen und schlägt Virgilio den Knauf gegen die Schläfe. Sein Angreifer lässt ihn los und fällt, aber während er sich aufrappelt, kommt auch Virgilio wieder auf die Beine.

Diesmal hält er nur seinen Dolch in der Hand, dessen elegant geschwungene Spitze im Mondlicht blinkt.

Dann geht alles ganz schnell.

Virgilio stürzt sich auf ihn, Sander streckt ihm den Degen entgegen, direkt auf sein Herz gerichtet, aber Virgilio zögert nicht einen Atemzug lang, er rennt direkt in die Klinge hinein und gräbt dabei seinen Dolch in Sanders Oberkörper, unter dem Schlüsselbein.

Erstaunt sieht Virgilio seinen Widersacher an, mit weit aufgerissenen Augen, sieht an sich hinunter auf den Degengriff, der aus seinen Rippen ragt, dann fixiert er Sander, der eine blutende Wunde mit beiden Händen hält. Seine Hand verliert ihre Kraft, der Dolch fällt in den Hühnerdreck, dann ist es an ihm, in die Knie zu gehen.

»Die Rache ist mein!«, keucht Virgilio mit seinem letzten Atem, bevor er der Länge nach vorwärts in den Mist fällt und reglos liegen bleibt. Die Klinge, die aus dem Rücken ragt, glänzt in dem Mondlicht.

Auch Sander spürt, dass ihm die Beine den Dienst ver-
sagen. Seine Augenlider schließen sich, ein großes Rauschen tost in seinen Ohren und nimmt ganz von ihm Besitz, er sieht mit seinem letzten Blick, dass der Mond wieder hell und klar am Himmel steht, aber die Schwärze in ihm steigt auf und überschwemmt alles.