XXXIII

DER HÖLLENSCHLUND UND DIE FREIHEIT

Gleich nach der Morgenmesse, die Don Pedro immer in seiner Hauskapelle feiert, lässt Sander sich bei ihm melden. Fast eine Stunde lang wartet er im Vorzimmer. Immer wieder laufen Diener hin und her, die Stimmung scheint angespannt, aber niemand gibt ihm Auskunft oder wechselt auch nur ein Wort mit ihm, bis er endlich darauf besteht, Don Pedro zu sehen, jetzt gleich, ohne weiteren Aufschub.

»Ah, Maestro«, sagt der Kardinal gleichgültig. Er sitzt an seinem Schreibtisch und ist dabei, einen Brief zu studieren.

»Ist Pater Bonifazio heute Morgen nicht erschienen?«

»Nein, ist er nicht.«

»Wo ist er?«

»Er ist hier. Allerdings hat die Situation sich einigermaßen geändert. Wie Ihr wisst, hatten wir eine Unterredung gestern Abend, vertraulicher Natur, zu zweit. Es waren nicht einmal ständig Diener im Raum. Der hochwürdige Pater, dieses Stück Dreck, drohte in aller Form damit, das vatikanische Tribunal in seinen Kompetenzen auf Neapel auszudehnen und meine Macht damit zu brechen. Er hatte sogar ein Dokument vorbereitet, in dem ich meinen sofortigen Rücktritt von allen Ämtern erklären sollte, und er erwartete von mir allen Ernstes, dass ich es unterschreiben solle.

Allerdings schien es mir, dass er, anders als beim letzten Mal, damit eine Art Verhandlung suchte. Er nannte auch Euren Namen in diesem Zusammenhang und behauptete, Ihr hättet ihm finanziell erheblich geschadet, weswegen er sich zur Aufgabe seiner ursprünglichen Absichten genötigt sah. Er wollte mich erpressen.

Ich hielt es für richtig, ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass ich ihn von Anfang an durchschaut habe. Das hat ihn einigermaßen aufgebracht. Ich sollte anmerken, dass er keinesfalls mehr nüchtern war. Er trank wie ein Mann, der Sorgen hat: gierig und verstohlen. Da ich schon seit Langem weiß, dass die Völlerei eine der Todsünden ist, denen er nicht widerstehen kann, hatte ich ein größeres Essen bestellt, als ich gewöhnlich habe. Ihr kennt mich. Stockfisch und Reis sind genug für mich.

Seine Hochwürden aber hat einen Kapaun bekommen, mit Trüffeln aus der Lombardei, den er fast ganz verschlungen hat. Fast. Ein unmäßiger Esser. So wie er den Kapaun auseinanderriss, hörte man die Knochen splittern. Dabei redete er dauernd auf mich ein, belehrte, bedrohte, beschimpfte mich. Nach einer gewissen Zeit habe ich nichts mehr gesagt. Ich habe gewartet. Und plötzlich hörte der Redeschwall auf, mitten im Satz. Ich sah ihn nach Luft ringen und mit den Armen rudern, ich sah ihn blau anlaufen im Gesicht, und seine Zunge, die aus dem Mund hing, wurde dunkelgrau. Dann fiel er vornüber auf den Tisch, mitten in den Rest seines Kapauns.«

»Ein Schlagfluss?«

»Ein Hühnerknochen, meinte der Arzt. Es war alles sehr plötzlich. Ich war erschrocken, und mich überkam eine Schwäche. Vielleicht habe ich zu spät nach der Glocke gegriffen, um Hilfe zu rufen.«

Die dünnen Lippen des Kardinals verziehen sich zu einem kaum merklichen Lächeln.

»Aber nein. Es ging alles so schnell«, spricht er weiter, »und anfangs konnte man noch meinen, er würde seinen theatralischen Auftritt auf die Spitze treiben …«

»Und …«

»Der Herr hat ihn zu sich gerufen, auf überraschende Art und mit einem Knochensplitter in der Kehle. Er ruhe in Frieden, was allerdings noch dauern wird, denn im Moment ist er, wie man mir sagte, im unteren Gewölbe aufgebahrt.«

»Neben dem Pferdestall?«

»Auch in einem so großen Haus wie diesem ist es nicht immer leicht, ausreichend Platz zu finden. Außerdem wird der Transport schon arrangiert. Ich hielt es für ratsam zu veranlassen, dass er in Rom beigesetzt wird, wo Della Valle wohl alles Weitere regeln wird. Ich habe ihm bereits geschrieben, um ihm die traurige Mitteilung zu machen und ihm mein Beileid auszudrücken.«

»Und das Dokument?«

»Hochwürden hatte noch keine Gelegenheit gehabt, das Schreiben mit seiner Empfehlung abzuschicken. Da er aber jetzt nicht mehr selbst seine Gedanken ausführen und rechtfertigen kann, halte ich es nicht für notwendig, den Vatikan unnötig zu verwirren.«

»Der Brief ist hier?«

»Dort«, sagt der Kardinal und nickt in Richtung Kamin. »Wir haben aus dieser Richtung keinerlei Einmischung mehr zu befürchten. Die flammenden Argumente Seiner Hochwürden haben sich längst verzehrt.«

»Und jetzt, Eminenz?«

»Jetzt erwartet Hochwürden das Fuhrwerk, das ihn zurück nach Rom bringen wird. Ihr könnt jetzt gehen. Ich brauche Euch heute nicht mehr. Ich habe Dinge privater Natur zu regeln.«

Bevor Sander den Palazzo verlässt, geht er zum Pferdestall, in den stickigen Raum neben den eigentlichen Stallungen, der nach Mist und Sattelfett riecht. Da steht ein hastig zusammengezimmerter Sarg auf zwei Holzböcken. Sander geht hin und hebt den Deckel an. Bonifazios feistes Gesicht ist unter den Augen und an den Lippen schwarzviolett an-
gelaufen, die Augenlider sind geschlossen.

»Fahr zur Hölle!«, sagt Sander und schließt den Deckel.

Auf seinem langen Ritt zur Mühle ist Sander überwältigt von einem Glücksgefühl. Immer wieder sieht er die Szene vor sich. Don Pedro, der einfach dasitzt, regungslos, und dem fetten Bonifazio dabei zusieht, wie er an einem Hühnerknochen erstickt, wie ein Schaulustiger bei einer Hinrichtung auf dem Marktplatz, wie die Fischer auf ihrem Boot mit den Fischen im Todeskampf.

Don Pedro selbst denkt mit Abscheu an die Ereignisse des letzten Abends; nicht an die Szene des Erstickenden vor ihm. Wer lange Jahre einem Inquisitionsgericht vorgestanden hat, weiß, wie es aussieht, wenn jemand erstickt. Man wird zum Kenner der vielen unterschiedlichen Arten von Schmerzen und Furcht, man weiß, wann das Leben flieht aus einem Körper. Nein, der Anblick des Lebenden hatte ihn mit Ekel erfüllt, mit Hass auf das Laster, das er hier vor sich hatte und auf die bis auf den Kern verrotteten Balken des Gebäudes, das der Herr errichtet hatte.

Don Pedro hat auch so kurz vor seiner Rückreise in die Heimat nicht die Absicht, sich das Heft aus der Hand nehmen zu lassen, im Gegenteil: Bevor er nach Spanien segelt, wird er noch ein Zeichen setzen. Ein letztes großes Autodafé soll es geben, um noch ein letztes Mal die Fäulnis auszubrennen, die von der Stadt Besitz ergriffen hat. Er hat eine lange Liste von Namen im Kopf, und in den nächsten Wochen wird es eine Welle von Anklagen und Festnahmen geben. Die schwarze Hexe, die er einmal hat gehen lassen, ist unter den Anzuklagenden ebenso wie der Bruder von Maestro Sandro. Weder Hexerei noch Sodomie duldet der Herr, und er wird sie mit Flammen ausmerzen aus dem Körper seiner Kirche.

Der Kardinal krampft seinen Körper zusammen und zieht scharf Luft durch die Zähne ein. Seine Schmerzen nehmen wieder zu. Noch braucht er die schwarze Hexe und ihre Medizin, denn diesmal wird sein Martyrium noch tiefer sein. Dann aber, wenn er nach Hause zurückgekehrt ist, wird er sich ungestört seiner Devotion widmen können. Die Fürsprache von Vitalis wird als besonders wirksam angesehen.

Der Gedanke, dass die Menschen von Neapel ihn begleiten in seinem Leid, ist ihm ein Trost. Der Herr schickt Strafe und Linderung, nach seinem unergründlichen Ratschluss. Die Menschen aber beten für seine Gesundheit, für sein Seelenheil, sie nennen ihn il buon cardinale. Sein Leid scheint das Leiden anderer zu lindern, Krankheiten zu heilen. Ein blinder Bettler kann wieder sehen, sagt man in der Stadt, ein gelähmtes Kind hat gehen gelernt. Auf den Porträts, die hier und da in der Stadt aufgetaucht sind, lächelt Don Pedro milde. Bei dem Gedanken daran verziehen sich seine Mundwinkel zu einem verbitterten Grinsen.

Erst gegen Abend trifft Sander in der Mühle ein. Maddalena kommt aus dem Haus gelaufen und umarmt ihn ungestüm.

»Onkel Sandro«, flüstert sie, als ihr Kopf an seinem liegt, »ich habe solche Angst gehabt!«

»Du musst keine Angst mehr haben«, beschwichtigt er sie, »jetzt bist du sicher.«

Gemeinsam mit Hugo und dem alten Giovanni macht Sander sich daran, die Türen und Fenster zu überprüfen. Wenn Bonifazio seine Schergen und Komplizen schon gestern losgeschickt hat, müssen sie trotz allem noch mit einem nächtlichen Angriff rechnen, und sie werden sich ablösen und die Nacht über Wache halten. Nach Einbruch der Dunkelheit sitzen Sander und Hugo vor dem Feuer im oberen Raum und starren in die Flammen, verloren in ihren Gedanken. Ein Degen und eine Pistole liegen zwischen ihnen.

Am nächsten Morgen sitzt Sander noch immer auf dem Sessel vor der Feuerstelle. Er schläft fest, als Maddalena hereinkommt, noch im Nachthemd.

»Onkel Sandro!«, flüstert sie ihm ins Ohr. »Willst du nicht gehen?«

Sander fährt hoch, seine Hand greift nach der Pistole, und er wirft das Kind beinahe um. Es dauert einen Augenblick, bis er wieder weiß, wo er ist. Dann nimmt er Maddalena in den Arm. »Nein«, sagt er, »alles gut, ich bin ja wach.«

Er kneift sie in die Backe, und sie kichert.

»Komm, Onkel Sandro«, sagt sie, »wir haben Brot und Oliven und Käse und Wein, sogar frischen Honig haben wir!«

Sander blickt sie an, ihre leuchtenden Augen, die unordentlichen Haare, ihre Freude, ihn hier bei sich zu haben. Schon gestern in Neapel, als er sie auf dem Arm hatte, hat er ge-
merkt, wie schwer sie geworden ist. Auch ihr Gesicht scheint voller geworden zu sein, langsam erscheinen die Konturen einer jungen Frau in ihren kindlichen Zügen.

Er tritt auf die Veranda und blickt in die Landschaft. Die Grillen zirpen laut, und die Sonne steht schon hoch über dem Horizont, es riecht nach Kräutern und den Blüten der Zitronenbäume, die an der Mauer entlanggepflanzt sind.
Er geht hinunter zum Kräutergarten. Die Pflanzen sind gut durch den Winter gekommen. Er sollte ein Glashaus bauen für exotische Setzlinge, die er jetzt in seinem Studierzimmer aufbewahrt. Er geht an den geordneten Reihen entlang, in denen sich noch kaum ein Trieb zeigt. Hier herrschen Ordnung und Schönheit, Einfachheit. Hier sind sie weit weg von den Sorgen, die sie in Neapel verfolgen. Aber Sander weiß, dass er gemeinsam mit Hugo noch heute zurückkehren muss. Dieser Moment ist voller Gefahren, und er muss seine Augen und Ohren überall haben, sonst könnte er in den Abgrund gerissen werden.

Nichts passiert in der Stadt, ohne dass Chiara davon hört. Die Bettler berichten, was auf den Straßen geredet wird, Diebe wissen, was hinter den Fassaden passiert, Diener und Huren kennen die intimsten Geheimnisse der Leute, Markthändler kennen jeden und jede im Viertel, und sie alle kommen zu ihr mit Krankheiten und Anliegen unterschiedlichster Art.

Chiara weiß, dass Sander blass und mit einem schlecht in seiner Jacke verborgenen Dolch aufgebrochen ist, um Pater Bonifazio zu treffen, und sie weiß, dass Bonifazio drei Männer angeheuert hat, um einen Landausflug zu einer Mühle zu machen und dort Feuer zu legen. Sie hat dafür gesorgt, dass sie nicht losgefahren sind. Einen der Männer hat sie einmal nach einer nächtlichen Schlägerei behandelt, eine hässliche Bauchwunde und mehrere Knochenbrüche. Sie hat damals keine Bezahlung verlangt. Jetzt fordert sie ihre Schuld ein.

Chiara weiß, dass Sander wieder in der Stadt ist und sich fast Tag und Nacht in seiner Werkstatt einschließt, dass er an seinem großen Bild arbeitet, dass er nur wenig Zeit hat und dass ihn seine alten Dämonen mehr denn je verfolgen. Sie weiß, dass sie sich gedulden muss. Er ist völlig verloren in seiner Arbeit, als würde er in der Landschaft seines Jüngsten Gerichtes umherirren, ohne den Weg hinaus zu finden.

Die wenigen Male, die er sie besucht hat, sieht er nicht, was inzwischen offensichtlich sein sollte, denn ihr Bauch rundet sich zusehends, und ihr Gesicht und ihre Brüste haben an Fülle zugenommen. Er aber scheint nichts zu bemerken, übermüdet, wie er ist. Dabei ist er gut zu ihr, küsst sie zärtlich, scheint sie aber kaum wahrzunehmen. Er macht sich nicht mehr die Mühe, die Farbflecken von seinen Händen zu entfernen, und auch seine Kleider sind von Klecksen übersät, das Hemd, das er trägt, schon Tage alt. Er rasiert sich nicht, und sein Atem riecht nach Wein. Er trägt in sich einen erbitterten Kampf aus, und sie weiß, dass er erst wieder wirklich da sein wird, wenn er gesiegt hat. Wenn er verliert, ist er verloren. Er kämpft, und sie hat Angst um ihn, weil nicht jeder, der am Rand des Vulkans steht und in die Tiefe blickt, auch das Gleichgewicht behält, weil die giftigen Dämpfe aus der Tiefe auch den erfahrensten Kämpfern zu Kopfe steigen können. Sie legt eine Hand auf ihren Bauch.

Tatsächlich kommt Sander kaum aus seiner Werkstatt. Der Laufjunge von der Taverne nebenan bringt Hugo und ihm einmal täglich einen Korb mit Brot und Wein, etwas Gemüse, gegrilltem Fleisch und einigen Früchten. Meistens lassen sie ihn mit noch einem Krug Wein wiederkommen. Hugo nimmt alles an der Tür entgegen und schließt sie gleich wieder hinter sich. Unermüdlich kocht er Pigmente und Öl, zerkleinert Mineralien, mahlt sie zu feinem Pulver, mischt sie und glättet und reinigt, seine Hände und Sanders Hände in stillem Einverständnis, das eine mannshohe Leinwand in eine lebendige Vision verwandelt.

Der Fürst von Venosa glaubt, dass nur Gott die Gerechtigkeit gehört, aber tatsächlich gehört nur Gott die Vergebung, denkt Sander. Ich werde ihm seinen Altar nicht malen können. Hier auf Erden wird niemandem vergeben, hier leben die Sünden weiter und vererben sich bis ins siebte Glied. Kein Altar und kein verhärmter Priester, der angestellt ist, um hastig Seelenmessen zu lesen oder Fürbitten runterzu-
leiern, kann etwas ändern daran, dass alle herumlaufen mit einem schwarzen Felsen der Schuld über sich. Erlösung kann es nur durch Liebe geben, kann es nur in Chiaras Armen geben und zwischen ihren Schenkeln, nur in den kostbaren Momenten, wo alles andere aufhört, etwas zu bedeuten, wo nur noch das Jetzt besteht und das Hier, nur dann.

Venosa hat Sander noch einmal einen langen detaillierten Brief geschrieben, in dem er alle Heiligen aufführt, die auf dem Bild erscheinen sollen, und in dem er seiner ermordeten Frau und ihrem Liebhaber einen Platz im Fegefeuer zuweist. Der Erlöser und die Gottesmutter sollen hoch über allem thronen, von einer kleinen Figur, Gesualdo selbst, angebetet. Eine unerträglich süßliche Version der Welt; bei einem Mann wie ihm nur denkbar als Gegengift zu einem monumentalen Schmerz und für ein schreckliches Verbrechen.

Sander hat sich überlegt, diese lästige und willkürliche Kommission auf flämische Art zu lösen, indem er das sogenannte Thema des Bildes irgendwo in einem Detail versteckt und davon unabhängig ganze Landschaften und Panoramen schafft, Geschichten, die ihre Betrachter in ganz andere Richtungen führen, aber er weiß, dass der Fürst eine solche Freiheit nicht dulden wird.

Der Fürst zahlt gut, aber Sander wird sich mehr Zeit erbitten. Zuerst kommt Don Pedros Altarbild. Er hat seinen ganzen künstlerischen Ehrgeiz, sein ganzes Können in dieses Gemälde investiert. Ursprünglich hat er eine Landschaft entworfen, ein niedriges Land, geduckt unter einem Feuerball, der gegen eine Übermacht von aschenen Wolken strahlt. Um ihn herum liegen die Skizzenblätter, die er in der Mühle gezeichnet hat, all die Missgeburten und Dämonen, die Ge-
henkten und von Teufeln Gefolterten, die fischköpfigen und salamanderhaften Formen der verdammten Seelen, die un-
sicheren Gestalten der Seelen in der Vorhölle.

Jetzt aber interessieren ihn all diese Wahnsinnsgeburten nicht mehr. Der grellere Wahnsinn liegt in der Einfachheit, so wie in dem Jüngsten Gericht in der Zelle des Palazzo dei Tribunali in Palermo, das er drei Monate lang entlang eines dünnen, über die Mauer wandernden Sonnenstrahls studiert hatte, ein Fresko aus Blut und Scheiße, der aufgerissene, abgrundtiefe Schlund der Hölle.

Hugos Hände spachteln die schwarze Farbe in einen Tiegel und dann einen Teil direkt auf die Palette. Bleiweiß ist auch dabei, etwas Ocker und Karmesin. Um den unteren Rand der Landschaft herum entsteht der schwarze Schlund des Ungeheuers, das Menschen und Bäume, Häuser und Berge und Flüsse verschlingen will. Er ist auf den ersten Blick kaum erkennbar, sondern nur als Schatten anwesend, als felsiger Rand, als böse Vorahnung, aber er ist da, und wer das Bild lang genug betrachtet, wird in seine Dunkelheit hineingezogen, und der teuflische Abgrund wird langsam und bedrohlich sichtbar.

Farbschicht legt sich über Farbschicht, Schatten vertiefen sich, Details gewinnen an Definition, Gesichter drücken Er-
staunen und Schrecken, Hoffnung und Verzweiflung aus, die Wolken leuchten im fahlen Widerschein des Feuerballs über dem Horizont, und überall, wo das Licht einfällt, entstehen gleißend helle Flecken, mit virtuoser Sicherheit gesetzt. In der ersten Frühlingswärme trocknen die Farben rasch, und endlich, endlich sind sie so weit, dass sie mit einem breiten Pinsel und luftigen, losen Strichen den Firnis auftragen und das Bild versiegeln können. Es ist Abend, und die Sonne steht auf der Wand, die dem Bild gegenüberliegt. Der Raum ist mit einem leuchtend sanften Licht erfüllt, und das Jüngste Gericht glüht in seinen ersten Tag hinein.

Es ist so weit. Sander schickt eine Nachricht zum Palazzo, dass der Altar enthüllt werden kann. Wenn auch der Firnis ganz getrocknet ist, wird er Seiner Eminenz den Preis seiner Freiheit übergeben. Hugo schickt er unterdessen zur Mühle, um sich auszuruhen.

»Ich komme so bald wie möglich nach, dann können wir unsere neue Freiheit feiern«, sagt er und dann, ganz unvermittelt und mit einem Grinsen: »Was meinst du, Bruder, vielleicht sollte ich eines Tages Maddalena bitten, meine Frau zu werden? Sie wird zu einer wirklichen Schönheit!«

Hugo sieht ihn an, erschrocken, als hätte jemand ihn unversehens in die Magengrube geschlagen.

»Sie wird jemanden brauchen, der sich um sie kümmert, ihr Schutz gibt und Respekt. Es wird nicht einfach sein für ein Mädchen ohne Familie, ohne Mitgift. Aber nein!«, fügt Sander hinzu, lächelt und klopft Hugo auf die Schulter. »Das wird nicht sein, das kann nicht sein. Es war nur so ein Gedanke. Chiara ist meine Geliebte. Ich will keine andere, und sei sie noch so hübsch, und der Kleinen werden wir schon eine Mitgift finden und einen Mann. Ich selber werde ihn aussuchen für sie, einen, der sie so behandelt, wie sie es verdient. Jetzt, wo Bonifazio sie nicht mehr bedrohen kann, werde ich sie in die Stadt holen, sie hat Begabung fürs Zeichnen, und sie soll bei uns in die Lehre gehen. Sie wird bei uns leben. Aus ihr könnte eine zweite Diana werden, meinst du nicht?«

Hugo zeigt keine Reaktion. Es ist gut, dass er nicht hier sein wird, denkt Sander. Ich will nicht, dass er dem Kardinal unter die Augen kommt. Er wird in Sicherheit sein.