DAS ERTRINKEN
Eine Parade grotesker Gestalten schiebt sich leise klirrend in Don Pedros Beratungszimmer: vier junge Männer und zwei ältere, nebeneinander aufgereiht, mit Ketten an den Handgelenken.
Zwei von ihnen sind nackt und in Wolldecken gehüllt, mehrere haben verwischte Reste von Schminke auf ihren Gesichtern. Ihre Haare sind wirr, zwei von ihnen haben geschwollene Augen, einer eine aufgesprungene Lippe, einer hält sich den Arm, der einen unnatürlichen Winkel beschreibt.
»Der Ertrag der Razzia von gestern Abend, Eure Eminenz«, näselt Don Alfonso, der an seinem Tischchen sitzt.
»Sodomiten?«
»In flagrante delicto ertappt.«
»Wo?«
»In einer Wohnung nahe dem Castel Nuovo.«
»Ausgezeichnet!«, ruft Seine Eminenz und setzt hinzu: »Klagt sie an, verhört sie, das Übliche. Ich selbst werde die Sache beaufsichtigen. Diese Stadt ist wie Sodom und Gomorrha, höchste Zeit, dass ein Sühnefeuer Neapel vor einer schlimmeren Strafe bewahrt. Sie sollen brennen. Abführen!«
Vier kräftige Wachmänner ergreifen die Gefangenen.
»Den nicht!«, sagt der Kardinal plötzlich zu seinem Schreiber und zeigt auf einen jungen Mann in der Gruppe, blondhaarig und kleiner gewachsen als die anderen drei, die Don Alfonso jetzt wieder in ihre Zellen bringen lässt.
»Nehmt ihm die Ketten ab«, befiehlt der Kardinal. Eine der Wachen schließt die Fessel auf.
»Ihr könnt auch gehen«, sagt der Kardinal zu Don Alfonso, »und auch ihr, Wachen. Alles raus!«
Der Schreiber sieht ihn an, gleichzeitig überrascht und beleidigt. Die beiden Wachen kann es nicht scheren, was man ihnen befiehlt. Sie gehen. Im Wachzimmer steht ein Krug Wein.
Der Kardinal und der Gefangene sind allein.
»Hugo, mein Sohn. Sieh dich an, was soll nur aus dir werden?«, sagt der Kardinal, fast zärtlich. Es ist Morgen, und sein Kammerdiener hat ihn noch nicht für die Audienz hergerichtet, er ist ungeschminkt, bleich und hat schwarze Ringe um die Augen. Seine Lippen sind schmal, seine Wangen eingefallen, das Quecksilber frisst an ihm, fast mehr als die Krankheit.
Hugo sieht diese Schreckensgestalt nicht an, sondern starrt auf den Boden.
»Du bist die letzten drei Tage nicht mehr bei mir gewesen. Ich habe meine Medizin nicht bekommen«, sagt Don Pedro mit mühsam beherrschter Stimme. »Manchmal sind die Schmerzen unerträglich, und mein Leib ist von unbehandelten Ge-
schwüren übersät, aber du ziehst es vor, dich anderswo zu amüsieren? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Seine Stimme schneidet in den Raum.
Hugo blickt starr vor sich hin.
»Lass dir diese Nacht eine Lehre sein, mein Sohn. Ich habe meine Augen und Ohren überall, ich weiß dich zu finden, wo immer du dich verstecken willst, ich werde dich finden, und ich werde dich bestrafen, wenn du dich weigerst, unsere Abmachung zu erfüllen.«
Don Pedro steht Hugo gegenüber. Er ist nur wenig größer als der Niederländer.
»Jeden anderen hätte ich schon längst hart bestrafen lassen für so viel Insolenz. Aber du erfüllst eine nützliche Funktion, mein Sohn. Du wirst mir meine Medikamente bringen. So regelmäßig wie Sonne und Mond wirst du hierherkommen und sie mir bringen. Deine Freunde werden hierbleiben, denn dein Bruder ist gescheitert mit seinem Auftrag. Meine Quellen sagen mir, dass ein gewisser Gefangener hingerichtet wurde und dass die Richter bis zum Schluss hart geblieben sind. Das ist nichts Geringeres als Verrat. An mir und an dir. Und dann wendet er sich an mich, dass ich für ihn bürge! Als ob ich zugeben könnte, dass er in meinem Auftrag handelt! Wir hatten eine Vereinbarung, dein Bruder und ich. Sollte
er mich betrügen, so wusste er, dass dein Schicksal und das von dieser schwarzen Hexe in meinen Händen sind, und es wäre mir ein Leichtes und ein Vergnügen, euch beide zu zerquetschen.«
Hugo reagiert nicht. Er hört kaum noch, was Don Pedro zu ihm sagt, in seinen Ohren pocht die Wut, aber er versteht, dass er nicht zuschlagen darf, dass er vorsichtig sein muss, Sander hat es ihm eingeschärft, er hat ihn gewarnt vor dem Kardinal und ihm gesagt, dass der Kardinal die Macht hat, alles zu zerstören, und so steht er nur da und wendet all seine Kraft auf, um nicht loszuschlagen, um ruhig zu wirken.
»Es scheint dich gleichgültig zu lassen, was ich dir gerade erkläre«, fährt der Kardinal fort, »so lass mich ganz deutlich sein. Dein Bruder ist fort, mit meinem Geld, mit meinem Vertrauen, er hat mich verraten. Ich sollte dich auf den Scheiterhaufen bringen, gleich neben der Hexe, aber noch seid ihr mir nützlich, und wenn ihr es schafft, mir unentbehrlich zu werden, dann kauft ihr etwas Zeit, um eure sündigen Leben weiter zu leben, eurer unnatürlichen Liebe zu frönen und auf die Erlösung durch die Leiden Jesu Christi zu hoffen. Wenn du mich aber im Stich lässt, wenn du mich nur ein einziges Mal im Stich lässt, dann werde ich kein Erbarmen kennen, und wenn du nicht zur menschlichen Fackel wirst, wirst du in den Kerkern der Inquisition um den Verstand kommen, wenn du je welchen hattest, und verrotten. Und jetzt geh! Geh schnell! Ich will dich nicht mehr sehen! Morgen gleich nach der Messe wirst du hier sein und mir geben, was ich brauche! Diener!«
Ein Diener erscheint bei der Tür.
»Bring ihn hinaus. Er ist frei!«
Als die Tür sich schließt, fällt der Kardinal in seinen Sessel zurück. Es strengt ihn an, so viel zu reden, und seine Schmerzen drohen ihm den Atem zu rauben.
Dieser Idiot macht ihn nervös. Ein Mensch, der nicht spricht, ist schwer zu lesen. Er weiß nie, ob dieser schöne Jüngling wirklich ein Kretin ist oder nicht, wie viel von dem, was ihm gesagt wird, er überhaupt versteht, ob er sich nur blöd stellt und tatsächlich alles durchschaut. Ein Gefühl von Bedrohung geht aus von seinem unschuldigen Knaben-
gesicht, etwas zu alt geworden für seine eigene Schönheit, eine lauernde Gefahr. Don Pedro selbst ist nie besonders mutig gewesen, auch nicht als junger Mann, als er beim Militär war. Körperlicher Gewalt ist er immer aus dem Weg gegangen.
Von der Straße her dringt Lärm herauf. Pferde wiehern, ein Ochse brüllt, Männer schreien durcheinander. Mühsam erhebt Don Pedro sich und geht zum Fenster. Er bewegt den Vorhang aus Brokat zur Seite, und ein Schaft Sonnenlicht strömt rücksichtslos herein.
Draußen ist alles weißlich gleißend hell, und seine Augen müssen sich daran gewöhnen, bevor er erkennen kann, dass dort unten auf der Straße ein Ochsenkarren und eine Kutsche ineinander verkeilt sind. Ein Pferd liegt zuckend auf der Straße in seinem Blut, der Ochse ist abgeschirrt worden und muht blödsinnig vor sich hin, die Deichseln der Fuhrwerke ragen in grotesken Winkeln in die Luft. Kutschen und Karren stauen sich hinter diesem Unfall auf. Die Kutscher rufen und johlen, fordern, dass die Straße frei gemacht wird, fluchen und verwünschen die Verunglückten. Das Pferd schreit und zittert, und endlich kommt eine seiner Wachen in die Straße gelaufen, mit einer Muskete. Ein Knall echot durch die Straße, das Pferd zuckt ein letztes Mal mit seinem ganzen, riesigen Körper, dann ist es eine Sekunde lang still, bevor der Ochse wieder brüllt und die Männer es ihm gleichtun.
Don Pedro vermisst die Stille mehr als alles andere. Er sehnt sich nach seinem Landgut in Spanien, nach langen Nachmittagen der Meditation in seiner privaten Kapelle, nach dem Blick aus seinem Studierzimmer auf die eigenen Ländereien, auf einen fernen, staubigen Horizont.
Er kann es kaum erwarten, von hier abberufen zu werden. Er ist gescheitert an den Sünden dieser Stadt. Was auch immer er berührt, geht schief, so scheint es ihm. Seine Arbeit steht unter keinem guten Stern. Wenn er gewusst hätte, in was für ein Wespennest er in Palermo hineingestochen hat! Zugegeben, er hatte die dortigen Richter unterschätzt. Er hatte gemeint, dass jeder öffentliche Beamte hier seinen Preis hat in diesem bis ins Mark verdorbenen Teil der Erde. Hätte er gewusst, dass ihr Stolz größer ist als ihre Habgier, dann hätte er Maestro della Molina nicht direkt ins Verderben geschickt. Er braucht den Maestro für die Verherrlichung des heiligen Vitalis und für seine Gnade, er braucht ihn für das Jüngste Gericht, das ihm in Spanien bei seinen Medita-
tionen dienen soll, er braucht ihn, um diese verrottete Stadt zu bändigen.
Der Kardinal kann nicht umhin, sich gelegentlich zu fragen, warum der Herr die Menschen so ungenügend und so bis in den tiefsten Grund der Seele hinein korrupt und verdorben geschaffen hat, wie er es zulassen kann, dass so viele seiner Kreaturen sich verirren und den Flammen der Hölle anheimfallen müssen. Mit Schaudern erinnert er sich an die Verhöre des Giordano Bruno, der rundweg abstritt, dass es eine Hölle gibt. Wie soll es ohne eine Hölle Ordnung in der Welt geben? Warum soll jemand Gutes tun? Aus Liebe zu einem Gott, der all diese Verderbnis zulässt?
Don Pedro versucht, seinen Gott zu lieben, der am Kreuz gestorben ist, um ihn von allen Sünden reinzuwaschen. Aber es fällt ihm schwer, denn Gott ist fern. Don Pedro betet und meditiert, er fastet und geißelt sich selbst mit beißenden Schmerzen aus Angst vor dem ewigen Feuer, vor der sicheren Strafe. Niemand kann dem langen Arm der göttlichen Gerechtigkeit entkommen. Seine Gnade, auf der anderen Seite, ist nur selten zu erkennen.
Don Pedro denkt an seinen Hofmaler, den er wohl nie wiedersehen wird, ein Bauernopfer in einem Spiel um Leben und Tod, aber er hatte keine andere Möglichkeit gesehen, seinen einzigen Sohn vor dem Galgen zu retten, auch wenn der ein Dieb und ein Mörder war. Wer weiß, wofür della Molina büßen muss in seinem Kerker, dass es dem Herrn gefallen hat, ihm all dies zustoßen zu lassen.
Der Herr straft, der Herr prüft. Don Pedro ist kein Hiob, kein tugendhafter, gerechter Mann, der plötzlich ins Unglück gestürzt wird. Er selbst ist sündig. Die Krankheit, die ihn langsam konsumiert, hat er sich selbst aufgehalst, als er seiner tierischen Lust nachgab.
Er lässt den Vorhang wieder fallen, steht im Halbdunkel. Was wäre diese Welt für ein schrecklicher Ort ohne die Furcht vor dem flammenden Inferno? Sein eigener Körper, der unter seinen schweren Roben immer weiter verkümmert und Schwären produziert, deren farbloser Ausfluss seinen Verband durchfeuchtet, sodass er riecht wie ein lebendiger Leichnam, dieser Körper hat ein Leben lang Begehren ge-
fühlt, so brennend, dass Don Pedro ihm immer wieder nachgegeben hat, damals, als junger Mann. Der Teufel selbst hat ihn an der Hand geführt, in dieser Zeit, das weiß er.
Er ist müde. Ihm ist, als würde jemand hinter seinem linken Auge ein Messer in seinen Schädel bohren. Morgen! Morgen wird er wieder seine Medizin haben, und sein Geist wird sich erheben über die Schmerzen und wird langsam wegfließen, und das Leben wird ihm wieder erträglich scheinen für einige Stunden.
Zweimal ist Sander jetzt schon ertrunken. Zweimal haben sie ihn genommen und auf eine Pritsche geschnallt und ihm einen Lappen in den Mund gestopft und dann begonnen, Wasser daraufzuschütten, immer mehr Wasser, endlose Fluten von Wasser, sodass sein Körper anfing, in brennender Panik zu schwimmen, seine Lungen drohten zu explodieren, alle Angst, die in einem Menschen sein kann, in ihm aufstieg, mehr als ein einziger Mensch halten kann, und sein Körper mit jeder Faser brüllte und das Bewusstsein verlosch wie eine Kerzenflamme.
Sie hören auf, um ihn zu Atem kommen zu lassen und ihm Fragen zu stellen: Bist du ein heimlicher Protestant? Anerkennst du die Jungfernschaft Mariä? Für wen spionierst du? Glaubst du an die Transsubstantiation? Wo ist das Geld? Glaubst du an die Dreifaltigkeit? Für wen arbeitest du?
Dann geht das Ertrinken wieder los.
Als sie ihn zum ersten Mal zurück in seine Zelle bringen –
den Bauch bis zum Zerreißen gedehnt –, ist er verzweifelt, dass sie ihn wieder ins Leben zurückgeholt haben, nachdem seine Lungen vollgelaufen waren, aber der Folterknecht hat seinen Brustkorb mit gezielten Stößen leer gepumpt, bis Sander hustend und fürchterlich röchelnd wieder zum Leben er-
wachte und weggeschafft werden konnte.
Zitternd auf der Pritsche liegend, die er sich mit vier anderen Männern teilt, bleibt Sander unbewegt. Sein Leben hat sich in die letzten Winkel seines Geistes verkrochen, es ist stumm und regungslos in irgendeinem verborgenen Schlund seiner Seele.
Er liegt da und starrt auf die Wand gegenüber, die von einem einzigen Sonnenstrahl beleuchtet wird, einem dünnen Finger aus Licht, der sich stundenlang die Wand entlangtastet, und im Laufe dieser Stunden sieht Sander, dass diese Wand tanzt und pulsiert, klagt und betet.
Dutzende, vielleicht Hunderte von Figuren bevölkern diese Wand, eine gigantische Komposition: Links oben klafft das Maul der Hölle, ein Ungeheuer mit einem gigantischen, weit aufgerissenen Vogelschnabel, einem großen Auge und scharf gebogenen Zähnen, wie ein Kind es zeichnen würde. Aus diesem Höllenmaul kommen die biblischen Patriarchen als Strichfiguren, streng im Profil, mit großen, zottigen Ge-
sichtern und ihren Namen über ihren Köpfen geschrieben. Im Rachen des Ungeheuers steht: Lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr eintretet.
Über den betenden Patriarchen schwebt eine Erlöserfigur, mit wenigen Strichen gezeichnet, alles Rippen und Beine und ein Kopf mit Heiligenschein und einem Kreuzstab in der Hand. Daneben – es nimmt mehrere Stunden in Anspruch und erfordert ein gutes Gedächtnis, das zu lesen und zu verstehen, was die Sonne gerade freigibt – hat jemand etwas in einer fremden Sprache geschrieben, wahrscheinlich auf Englisch, der Text scheint beschädigt zu sein an den Seiten:
he did still repente repente an call for grace and to the lorde he did still paie that god might giue him time and slace to remimber wel his ending daie the glas doth run and the cloke doth goe…
Dann kommt etwas über das Höllenfeuer und das Erwachen aus dem Sündenschlaf. Der Schreiber hat repente wiederholt, wohl, weil es dunkel war.
Im Laufe der Zeit und der Sonne lesen Sanders teilnahmslose Augen die Szenen an der Wand. Gedichte stehen da ge-
schrieben, Abschiedsgrüße und fromme Hymnen, ein stehender Mann mit Bart und hohen Stiefeln, eine ganze Galerie von Heiligen, eine große und kantige Kreuzigung und der verzweifelte Aufschrei eines Kaufmanns, er sei »zum Tod verurteilt, weil ich ein Engländer bin«. Neben die Kreuzigung hat jemand die Seeschlacht von Lepanto gezeichnet, Galeeren mit mehreren Reihen von Rudern im erbitterten Kampf miteinander.
Sanders ertrunkener Geist ist noch weit entfernt von einem normalen Bewusstsein. Im Halbdunkel der Körper dämmert er in seltsame Träume. Er sieht Hugos Kopf auf dem Grund des Meeres, die Augen weit aufgerissen, sein blondes Haar lose in der Strömung ondulierend, er sieht Chiaras schönes Gesicht durch die Rauchschwaden eines Scheiterhaufens, Maddalenas kindliche Anmut begraben unter dem Wanst eines schweinisch grunzenden Mannes. Er sieht ihren kleinen Körper, wie ihm Libellenflügel wachsen, wird überschwemmt von einer Heuschreckenplage gottloser Miss-
geburten, die seine Gedanken fressen wie zartes Laub.
Während sein Geist so getrieben wird, starrt er immerzu auf die Wand. Trotz der Dunkelheit können Sanders Augen mühelos erkennen, dass es sich hier um mehrere verschiedene Maler, vielleicht Generationen von Malern handelt. Ein fähiger Zeichner hat den Dionysos im Tanzschritt verewigt und ihm noch einen Kreuzstab in die Hand gedrückt, um ihn als Christus auszugeben. Der Maler des Kreuzwegs, der direkt unter der Decke den gefallenen Erlöser und die spottenden Soldaten gezeichnet hat, zeichnet kaum besser als ein Fünfjähriger. Die triumphierenden Figuren, die wie ein Fries unter der Decke entlanglaufen, sind sehr ungelenk, aber ein fast lebensgroßes Bildnis der englischen Königin stammt von jemandem, der weiß, was er tut.
Seine Zellengenossen arbeiten noch immer an diesem Bild, mit einem heiligen Ernst, als wäre es ihre Erlösung. Die Maler müssen sich mit der Sonne bewegen. Niemand erinnert sich, wann es angefangen hat, dass die Gefangenen riesige Bilder in einer dunklen Zelle malen, aber es ist das Einzige, was sie tun können, um nicht dem Wahnsinn oder einer tödlichen Apathie zu verfallen.
Sie arbeiten mit der Geduld von Menschen, die wissen, dass sie unendlich lange Zeit haben und dass jeder Strich, zu dem sie nicht mehr kommen werden, von einem ausgeführt wird, der nach ihnen kommt, so wie sie die Arbeit von Un-
bekannten übernommen haben, als sie hier eingesperrt wurden. Farben gibt es nicht. Die Gefangenen haben nichts; keine persönlichen Gegenstände, keine Bücher, kein Licht, keine Kleider zum Wechseln. Aber aus Holzkohle, Blut und Exkrementen lässt sich eine Art Tinte gewinnen, sogar in verschiedenen Schattierungen. Sander liegt da und sieht ihnen bei der Arbeit zu, und die Sonne wandert langsam über die Wand, und ein Tag verschwimmt in den nächsten. Er sagt niemandem, wie er sein Brot eigentlich verdient.
Einmal wird er noch aus seinen flackernden Träumen gerissen und vor das Tribunal geholt. Wieder wird er ge-
fragt, wieder ertränkt, wieder wird er auf seine Zelle gebracht, wieder dämmert er zwischen Tag und Nacht dem Lichtstrahl hinterher, umgeben von den Körpern und dem Husten und Stöhnen von zwanzig fast unsichtbaren Leidens-
genossen.
Die Arbeit geht langsam voran, nur einige Fingerbreit pro Tag. Es ist nicht leicht, in Blut zu zeichnen, ohne dass es die Wand hinunter rinnt, man muss lernen, aus Kot, Spucke, ge-
riebenem Stein und Urin eine Paste zu machen, die sich mit dem Finger präzise genug auftragen lässt. Alles hier dauert lange. Es ist, als hätte die Zeit selbst den Gang der Sonne aufgehalten, sodass alles nur noch sehr, sehr langsam geschehen kann und ihr Gang über den Himmel zu einem Kriechen verlangsamt ist, Zoll für Zoll an der Wand entlang.
Sander studiert einen Streifen des Jüngsten Gerichts, den er vor sich hat. Es muss ein frommer Mann gewesen sein, der das gemalt hat. Sander selbst ist nicht fromm, auch wenn er dem Inquisitor alles zugestanden hat über die Jungfräulichkeit der Gottesmutter und die Verwandlung der Hostie und die Fürsprache der Heiligen. Sonst aber
ist er zum Schweigen verdammt. Don Pedro hat ihn fal-
len gelassen, und so glaubt ihm niemand. Stattdessen fragen sie ihn immer und immer wieder, für wen er arbeitet, wer ihn beauftragt hat, einen gefährlichen Rebellen freizu-
kaufen.
Während dieser Zeit zermartert er sich mit einer Frage den Kopf. Das Geld liegt an einem sicheren Ort. Natürlich werden die Schergen des Tribunals gleich seinen Raum in der Herberge durchwühlt und seine Strohmatratze mit einem Degen ausgeweidet haben, aber sie scheinen nicht im Hof nachgesehen zu haben, in dem Hohlraum unter der wacke-
ligen Pferdetränke, sonst hätten sie ihm den Fund sicher
triumphierend mitgeteilt. Es ist mehr als genug, um sich freizukaufen, aber wem kann er vertrauen? Auf welchen der Wachmänner soll er setzen? Wie schafft er es, für einen Moment mit ihm allein zu sein? Sein eigenes Leben ist ihm noch nie viel wert gewesen, aber wenn er hier stirbt und das Geld mit ihm verschwindet, droht Hugo und Chiara der Scheiterhaufen, und Maddalena wird wieder auf der Straße stehen und aufgegriffen werden und –
Die Gelegenheit kommt schneller, als er es zu hoffen gewagt hatte. Er wird zum Verhör geführt. Seine Hände sind kalt wie Eis, und er fühlt die Kälte in sich aufsteigen, als er sich zwingt, den Raum zu betreten, in dem der Tisch des Inquisitors steht, das Pult des Schreibers, der massive Eichenstuhl des Angeklagten sowie die Pritsche für die Wasserfolter mit dem Eimer und den Lumpen daneben und der Haken an der Decke, von dem die Angeklagten an ihren hinter den Rücken gefesselten Handgelenken aufgehängt werden, bis ihre Schultern knacksend aus den Gelenken springen und ihre Muskeln reißen. Manchmal werden große Gewichte an die Füße gehängt. Wer es überlebt, kann seine Arme oft nicht mehr gebrauchen, monatelang oder lebenslang.
Der Wächter befiehlt ihm, sich auf den Stuhl zu setzen. Dann wartet er. Die Kommission ist verspätet. Man redet im Gang. Der Wächter fragt, was los ist. Man hat gleichzeitig zwei Gefangene rausgebracht, aus verschiedenen Zellen. Ein Irrtum. Der Wächter fragt, ob er den Gefangenen zurückbringen soll. »Einen Moment Geduld!«, schallt es den Gang herunter.
»Wache!«, sagt Sander. Der Mann kommt auf ihn zu, sein ganzes Gesicht eine Frage.
»Wir haben nicht viel Zeit«, flüstert Sander schnell. »Ich gebe mein Leben in deine Hände. Ich habe Geld hier, viel Geld, genug für dich und deine Familie und für einen Bauernhof irgendwo in den Bergen, wenn du mir hilfst, hier wegzukommen. Wie kannst du mir vertrauen? So wie ich dir vertraue, dass du jetzt nicht gleich redest oder das Geld nimmst und damit wegläufst. Was sagst du?«
Der Wachmann dreht sich wortlos um und geht zur Tür. Er hat ein grobes Gesicht mit einer Nase, die einmal gebrochen war. In seiner Hand trägt er den schweren Stock, den die Gefangenen besonders fürchten. Der Wachmann bleibt stumm, fast so, als hätte er nichts gehört. Sander wettet alles auf diesen einen Mann, der aussieht wie ein Mörder.
»Bei meiner Herberge, unter der Pferdetränke am Brunnen, findest du einen Hohlraum. Gold. Es gehört dir, wenn du mich hier rausbringst. Geh und nimm es. Es hilft mir hier drin nicht. Ich muss dir vertrauen. Ich muss!«
Der Wachmann steht im Türrahmen und starrt auf den Gang hinaus.
»Hast du mich verstanden?«, flüstert Sander dringlich, der Schritte kommen hört.
Der Wachmann kommt mit wenigen Schritten auf Sander zu, packt ihn bei der Schulter, reißt ihn aus dem Verhörstuhl und stößt ihn zur Tür.
»Ich muss eine Antwort haben!«
»Vorwärts!«, zischt der Wachmann und sein Stock trifft Sander in der Niere. »Du musst hier nur gehorchen!«
Seit er nach einer Nacht in einer Zelle aus dem Gefängnis entlassen wurde, lebt Hugo in Angst. Er allein ist frei. Die Männer, mit denen er sich getroffen hatte, sind noch immer eingekerkert. Man sagt, ihnen würde der Prozess gemacht. Man sagt auch, vielleicht handle es sich um einen Irrtum. Man sagt, die jungen Männer seien aus gutem Hause und ihnen werde nichts passieren. Man sagt, sie seien schon so gut wie tot. Man sagt vieles und weiß nichts.
Er ist jetzt oft in Chiaras Haus und erledigt, was gerade zu erledigen ist. Manchmal hilft er in der Küche, ein andermal geht er ihr beim Anrühren von Medikamenten zur Hand. Er muss sich konzentrieren, sich zurückziehen, weg von all dem Wahnsinn hier, aber es gibt keinen Ort, an den er sich zurückziehen könnte.
Die Werkstatt ist nach drei Monaten Abwesenheit ihres Meisters längst verwaist, die Arbeiter haben gekündigt und sind weitergezogen, unsicher, was sie erwartet. Bald ist Hugo allein dort, aber er fühlt sich nicht sicher, denn hier kommen sie ihn zuerst suchen, denkt er.
Chiara ist gut zu ihm. Sie lässt ihn vergessen, dass er keine Stimme hat. Als sie begriffen hat, dass er in der Werkstatt große Angst hat, immer die Tür im Auge behalten muss und dass schon ein Schatten ausreicht, ihn in Panik zu versetzen, hat sie ihn eingeladen, doch einige seiner Sachen für einige Tage herzubringen, und er hat das Angebot dankbar angenommen.
Jeden Morgen geht Hugo zum Palast von Don Pedro. Er wird sofort durchgelassen und geht zum privaten Appartement, zu einer bestimmten Tür, die unauffällig in die Vertäfelung eingebaut ist, und tritt ein. Dort findet er den Kardinal, der um diese Zeit, nach der Messe, einen Moment ruhen muss und der aussieht wie der Tod persönlich.
»Komm!«, sagt die Stimme des Kardinals, leise, aber be-
stimmt.
»Stell es da hin und verschwinde!«, sagt sie dann.
Hugo stellt die kleine Flasche ab, die Hand zittert ihm dabei. Dann verlässt er den Palazzo, so schnell er kann, einmal hatte er es so eilig, dass er am Tor stolperte und der Länge nach auf die Straße stürzte. Die Wachen lachten, und er sah die Bosheit in ihren Augen, aber dann hat einer von ihnen sich zu ihm heruntergebeugt und ihm eine Hand angeboten. Seitdem geht er vorsichtiger. Er zählt die Schritte, die Stufen, die Schwellen, über die er steigen muss auf seinem Weg.
»Kümmere dich um ihn, er braucht jemanden, dem er vertrauen kann«, hatte Sander zum Abschied zu Chiara gesagt, und sie hatte geantwortet, dass diese Bitte unnötig sei. Natürlich wird sie sich um Hugo kümmern.
Sie ist besorgt um ihn. Er ist blass geworden und meidet ihren Blick. Er schreckt auf, wenn irgendwo eine Tür ins Schloss fällt oder jemand laut schimpft oder streitet. Er ist noch dünner geworden, der Schatten des Schattens, der er vorher war. Wie soll er überleben in dieser Stadt?
Die Mächte, die Chiaras Leben beherrschen, sind schon immer willkürlich gewesen in ihrer Grausamkeit und ihrer gelegentlichen Güte. Sie hat keinerlei Pläne für die Zukunft. Trotzdem hat auch sie Angst. Sander ist mehr als nur ein Liebhaber geworden. Nichts hat ihr mehr Glück gegeben und sie freier atmen lassen in diesem letzten Jahr als das Bewusstsein, dass sie mit jemandem zusammen ist, der ebenso losgerissen ist von seinen Wurzeln, ebenso weit weg vom Land seiner Ge-
burt, noch mehr als sie gezwungen, in einer erst vor Kurzem gelernten Sprache auszudrücken, was Ausdruck finden muss.
Im spanischen Viertel von Neapel ist Chiara eine mächtige Frau, aber außerhalb dieses Labyrinths ist sie nichts als eine weggelaufene Sklavin. Für ihren Geliebten kann sie nichts tun. Wochenlang hat sie versucht, ihm zumindest einen Brief zu schicken, zu erfahren, wie es ihm geht, wo genau er ist, ob er noch lebt. Aber auch ihre Freunde in Sizilien haben es nicht geschafft, die hohen Mauern des Tribunals zu überwinden.
Ohne ein Wort von Sander bleibt sie allein. Zumindest erinnert Hugo sie an den Mann, den sie liebt, das ist ständiger Schmerz und Trost zugleich. Sie ist immer geschäftig und von Menschen umgeben. Sie hilft denen, die dringend Hilfe brauchen, und schickt die nach Hause, denen sie nicht helfen kann. Manchmal gibt sie ihnen Kräuter mit oder ein Heiligenbild oder eine Beschwörungsformel; was auch immer das Leiden erträglicher macht.
Chiara hat noch einen Grund, um ihren Geliebten besorgt zu sein. Sie ist im vierten Monat schwanger. Sie war sich noch nicht sicher, als er Abschied nahm, aber jetzt ist sie es. Sie legt ihre rechte Hand auf ihren Bauch.
Sie hofft, dass sie ein Kind bekommen wird, das sie an ihn erinnert, an seine Ruhe, seine Augen, sein großes Herz.
Braucht ein Kind einen Vater, ein Kind, das einen ganzen Stadtteil zum Vater haben kann?
Chiara ist immer stolz gewesen auf ihre schmerzlich erkämpfte Unabhängigkeit: keines Mannes Sklavin sein.